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Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des Schmerzes
Dr. med. Michael Thewißen Physiologisches Institut II Universitätsklinikum
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Alle Sinneseindrücke - zum Beispiel der schöne Urlaub - sind flüchtig…
Der Schmerz ist die einzige Ausnahme. Er überdauert den auslösenden Reiz um Stunden oder sogar Jahre.
Als Säugling erschien Christiane D. ihrer Umgebung völlig normal. Sie entwickelte sich aber zu einem äußerst reizbaren Mädchen, das bei seinen Wutausbrüchen rücksichtslos seinen Kopf auf den Fußboden hämmerte, sodass sich häufig große Blutergüsse bildeten. Beim Kauen biss sie sich oft die Zunge blutig. Die
Zungenspitze fehlte schließlich völlig. Schon mit 3 Jahren erlitt sie schwere Verbrennungen, als sie sich längere Zeit auf einen eingeschalteten Heizstrahler kniete. Von ihrer frühesten Kindheit an traten immer wieder schwere Gelenk- und Knochenentzündungen auf.
Christiane D. starb mit nur 29 Jahren an den schweren, von den Gelenken und Knochen auf den gesamten Körper übergreifenden Infektionen. Sie litt an einer völligen angeborenen Schmerzunempfindlichkeit.
aus: Birbaumer, Schmidt: Biologische Psychologie
Die Inselrinde nach Entfernung des Operculums (aus Gray, Anatomy of the Human Body, 1918)
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Die Schmerzdefinition der International Association for the Study of Pain (IASP):
Der Schmerz ist ein unangenehmes sensorisches
und emotionales Erlebnis, das mit tatsächlicher
oder potenzieller Gewebsschädigung einhergeht,
oder so beschrieben wird.
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Schmerzkomponenten
• Sensorisch Feststellung von Ort, Intensität, Dauer, Qualität
• Motorisch Schutzreflexe, Äußerung, Vermeidung, Abwehrspannung, Schonhaltung
• Vegetativ Schwitzen, Tachykardie, RR, Übelkeit, Erbrechen, Hautkolorit
• Affektiv Störung des Wohlbefindens; Leiden, Angst, Depressivität
• Kognitiv Bewertung, Diskrimination
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• Haut (somatisch),
• Bewegungsapparat (somatisch) und
• Inneren Organen (viszeral).
Das somato-viszerale sensorische System umfasst die Wahrnehmungsfunktionen von
Schmerz ist eine Qualität des somato-viszeralen Systems.
Nach dem Ort seiner Entstehung unterscheidet man
• Oberflächenschmerz (hell, gut lokalisierbar)
• Tiefenschmerz (dumpf, mäßig gut lokalisierbar)
• Viszeralen Schmerz (dumpf, schlecht lokalisierbar)
Hautrezeptoren
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Transduktion und Auslösung von Aktionspotentialen
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Je stärker der Reiz, desto größer das Rezeptorpotential.
Je größer das Rezeptorpotential, desto höherfrequent die Aktionspotentiale.
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Aktionspotentiale gehorchen dem Alles-Oder-Nichts-Gesetz:
Sie laufen nach dem Überschreiten der Schwelle uniform ab.
Hautnerv: Fasergruppen
Fasergruppe V [m/s] ∅ [µm] Modalität
Aβ 40 .. 80 6 .. 12 Mechan.
Aδ 5 .. 30 1 .. 5
C ≈ 1 ≈ 1
Thermrez.
Nozizept.
Thermorez. Nozizept.
Aδ kalt stechend/schnell
(lokalisierbar, "epikritisch")
C warm brennend/langsam
(diffus, "protopathisch")
Fasern der Gruppen Aα, A und I kommen nur in Muskelnerven vor.
Alternative Nomenklatur : A = II , Aδ= III , C = IV
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Schneller und langsamer Oberflächenschmerz
Nach Ahnelt, Allgemeine Sinnesphysiologie
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C-Fasern reagieren polymodal auf Gewebsschädigung
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen
C-Fasern reagieren auf zahlreiche Botenstoffe
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen TNF
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Aktivatoren und Modulatoren polymodaler Nozizeptoren
aus: Brune et al., 2001
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Transduktion an Nozizeptoren
• Transduktion: Umsetzung von Reizen in Nervensignale. Dies geschieht am Nozizeptor ionotrop oder metabotrop.
• Ionotrope Wirkungsweise: Der Kontakt mit dem Reiz öffnet direkt Ionenkanäle für Na+, K+, Ca2+. Beispiele sind Hitze oder Capsaicin (wirken auf den Vanilloid-Rezeptor VR1), Serotonin oder ATP (wirkt auf den Purinergen Rezeptor P2X).
• Metabotrope Wirkungsweise: Der Kontakt mit dem Reiz startet eine intrazelluläre Signalkaskade. Diese erzeugt einen “second messenger“, welcher mehrere unabhängige Ionenkanäle öffnet. So wirken z.B. Prostaglandine und Bradykinin.
aus: Herbert, 2004
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Aus: Klinke/Silbernagl, Lehrbuch der Physiologie
Intermodaler Vergleich
Nach Ahnelt, Allgemeine Sinnesphysiologie
Psychophysische Schmerzmessung
20Anforderungen:
- quantitativ - stetig (analog) - non-verbal
- schnelle Messung und Ablesung
1. Horizontale visuelle Analogskala (VAS); 100mm Länge
2. Handkraft-Dynamometer
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Schutzreflexe: Flexorreflex und gekreuzter Extensorreflex
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen
Projizierter Schmerz
Nach Ahnelt, Allgemeine Sinnesphysiologie
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Nervenläsion: scharf begrenzte Schmerzprojektion Wurzelläsion: unscharf begrenzte Schmerzprojektion
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen
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Übertragener Schmerz
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Übertragener Schmerz
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen A : Dermatome
B : Head´sche Zonen
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen Dissoziierte Empfindungsstörung
(Brown-Séquard-Syndrom)
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Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen
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Mittellinie medialer
Thalamus VPL
Thalamus
PAG FR
Hinter horn- N.
RM ca. 10%
Adelta/C
Cortex Cortex Striatum
anterolat. System (STT)
Kreislauf, etc.
Hypothalamus
paläoSTT neo STT
Architektur des nozizeptiven Systems
Adelta/C VPL-
Thalamus
medialer Thalamus
som-sens.
Cortex
Insula anteriores Cingulum
Präfrontal- Cortex
("Zukunft")
aud. vis.
Hypothalamus
(autonome Steuerung)
Nc.
parabrachialis
Amygdala
("Angst")
nach Ritter, 2002
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Bildgebung: Schmerzevozierte neuromagnetische Antworten (MEG) Beispiel: schmerzhafte Laserreize des rechten Handrücken
Ploner, 2006
Bildgebung: functional magnetic resonance imaging (fMRI) Beispiel: Faustschluss der kranken Hand bei CRPS
Gustin, 2006
complex regional pain syndrome; M. Sudeck
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Entzündungszeichen
• Dolor
• Rubor
• Calor
• Tumor
• Functio laesa
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Axonreflex als Auslöser der neurogenen Entzündung
verändert nach: Kandel et al., Principles of Neural Science
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Entzündliche Sensibilisierung
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen
Allodynie: Schmerzschwelle abgesenkt,
normalerweise nicht schmerzende Reize sind schmerzhaft Hyperalgesie: Schmerzempfindung intensiviert
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Yosipovitch, Lancet 361 (2003)
Rückkoppelung zwischen Nozizeptoren und Mastzellen
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Präsynapse
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Synapsen
Schmerzgedächtnis
nach Sandkühler, 2001 (verändert)
schwach aktiv
potenziert
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Löschung des Schmerzgedächtnisses durch Leitungsblockade
nach Sandkühler, 2001
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Spinale Schmerzkontrolle : Gegenirritation
nach Sandkühler, 2001
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Spinale Schmerzkontrolle : Gate Control
Aus: Kandel et al., Principles of Neural Science
Supraspinale Schmerzkontrolle
Aus: Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen
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Supraspinale Schmerzkontrolle
STT
Adelta/C
GLU/sP Nc. raphe magnus
Aus: Kandel et al., Principles of Neural Science
Opiate und Opioide
45Quelle: Wikipedia Opiate:
Alkaloide, die im Saft der Schlafmohnkapsel vorkommen.
Wichtigste Vertreter: Morphin, Codein, Thebain, Noscapin, Papaverin, Narcein.
Opioide:
Substanzen mit opiatähnlichen Eigenschaften. Sie binden an Opioidrezeptoren des zentralen, des peripheren und des enterischen Nervensystems.
Unterteilung der Opioide nach der Herkunft:
Endogen, also körpereigen, sind Endorphine, Enkephaline und Dynorphine.
Sie sind chemisch Peptide (Verbindungen aus wenigen Aminosäuren).
Exogensind die halbsynthetischen Opioide (chemisch veränderte Opiate, z.B.
Diacetylmorphin=Heroin, Hydromorphon, Oxycodon, Buprenorphin) und die vollsynthetischen Opioide (z.B. Fentanyl, Pethidin).
Unterteilung nach der Rezeptorwirkung:
Agonistenaktivieren Opioidrezeptoren (z.B. Tramadol, Pethidin, Codein, Morphin, Tilidin, Fentanyl, Oxycodon, Methadon)
Gemischte Agonisten-Antagonistenwirken uneinheitlich auf die Opioid-Rezeptortypen (Pentazocin, Nalbuphin, Butorphanol, Buprenorphin). Daher Wirkungsgrenze bei Dosissteigerung (Ceiling-Effekt).
Partielle Agonistenaktivieren nur einige Opioid-Rezeptortypen (Buprenorphin: -Agonist und - Antagonist; Nalbuphin umgekehrt)
Reine Antagonisteninaktivieren alle Opioidrezeptoren (Naloxon, Naltrexon).
Opioidrezeptoren
46Quelle: Wikipedia
1 Analgesie, zentrale Sympathikolyse (Bradykardie, Hypotonie, Vasodilatation)
2 Analgesie, Atemdepression, spastische Obstipation, Pruritus, Euphorie, Sucht
Analgesie, Sedierung, Dysphorie Spastische Obstipation
andere Rezeptoren: Miosis, Nausea, Vomitus
Wichtigste unerwünschte Nebenwirkung ist die Obstipation!
Endorphin-Agonisten und -Antagonisten
nach Herzig, 2004
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Warum kombiniert man Endorphin-Agonisten und -Antagonisten ?
Tilidin oder Oxycodon (Agonist) + Naloxon (Antagonist)
Naloxon hat einen sehr hohen First-Pass-Effekt. Nach enteraler Zufuhr gelangt es über die Pfortader zur Leber und wird dort bei üblicher Dosierung komplett eliminiert. Nur der Agonist tritt über die Leber in die V. cava und erlangt systemische Wirkung.
Bei (enteraler) Überdosierung wird der First-Pass-Effekt überschritten; jetzt erlangt auch Naloxon systemische Wirkung: Milderung der Atemdepression!
Der Antagonismus im enterischen Nervensystem (vor der Leberpassage) mildert die obstipierende Nebenwirkung.
Da Naloxon bei therapeutischer Dosierung nur am Plexus myentericus wirkt, wird es bei der Dosisfindung nicht berücksichtigt !
Eine (missbräuchliche) parenterale Applikation ist wirkungslos.
Pharmakologische Schmerzkontrolle 49
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Funktionen der Cyclooxygenase-Isoenzyme
Beispiele pharmakologischer Wirkprinzipien
Opioide:
Hemmung des präsynaptischen Ca++-Einstroms (weniger Transmitter) Stimulation des postsynaptischen K+-Ausstroms (Hyperpolarisation) Gabapentin, Pregabalin:
Hemmung des präsynaptischen Ca++-Einstroms (weniger Transmitter) im Hinterhorn
Ketamin, Methadon:
u. a. Antagonismus am NMDA-Rezeptor Flupirtin:
Indirekter NMDA-Antagonismus durch Stimulation des postsynaptischen K+- Ausstroms (Hyperpolarisation)
Amitriptylin:
Hemmung der Noradrenalin-Rückresorption in die präsynaptische Endigung;
PAG-Stimulation durch erhöhte Noradrenalin-Konzentration
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Neuronale Folgen einer Nervenläsion
aus: Brune et al., 2001
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Phantomschmerz
Definition der International Association for the Study of Pain (IASP):
Schmerz, der sich auf ein traumatisch entferntes Glied oder Teil eines Gliedes bezieht.
Häufigkeit von Phantomschmerzen:
1 Woche nach Amputation: 72% der Befragten 6 Monate nach Amputation: 65% der Befragten 2 Jahre nach Amputation: 59% der Befragten
30 Jahre nach Amputation geben 44% der Befragten unveränderte Phantomschmerzen an.
Ca. 60.000 Amputationen jährlich in Deutschland, davon 70% in Folge vaskulärer Erkrankung (ca. 27.000 diabetische Füße).
Außerdem gibt es nicht schmerzhafte Phantomempfindungen:
Parästhesien, Stellungs- und Bewegungsillusion, “Teleskoping“
Phantomschmerz
Amputationsversuche von Merzenich et al. an Affen (1983):
Wochen nach Amputation des Fingers D3 sind die Nervenzellen im somatosensorischen Kortexareal D3 intakt; sie reagieren nun auf Hautreize der Nachbarfinger D2 und D4:
Affenhand Kortikale
rezeptive Felder vor Amputation
Kortikale rezeptive Felder nach Amputation
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Phantomschmerz
nach Kerekes
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Phantomschmerz
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Phantomschmerz
Obwohl bisher keine Sensorik in die Prothesen integriert ist, wirkt die quasinormale Funktionalität den Phantomschmerzen entgegen.
Phantomschmerz
Auf dem Weg zur “normalen“ Sensomotorik:
Die knochenverankerte myoelektrische Prothese mit sensorischer Rückmeldung
Quelle: Deutsches Ärzteblatt PRAXiS 4/2010 Ortiz-Catalan, M. et al.:
An osseointegrated human-machine gateway for long-term sensory feedback and motor control of artificial limbs.
Sci. Transl. Med. 6, 257re6 (2014)
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Spiegeltherapie in der Schmerztherapie
Indikationen:
· Phantomschmerzen
· anhaltende Traumaschmerzen
· CRPS
· Hypersensibilität
· chronischer Schmerz (bedingt) (Hypothetische) Wirkungsweise:
· Re-Etablierung des Körperschemas
· Restauration der kortikalen Repräsentationsareale
Therapieformen mit Elektrostimulation afferenter Fasern / Bahnen:
· TENS
· Spinal Cord Stimulation
Der transportable Therapiespiegel (Uniklinikum Ulm, Chirurgische Klinik Safranberg)
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Spiegeltherapie in der Schmerztherapie
Übungsbeispiele mit dem am Uniklinikum Ulm entwickelten Therapiespiegel
Linsenbad Kraft Koordination
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Ursachenbezogene Schmerzeinteilung
Nozizeptiver Schmerz
Starke mechanische Reize, Hitze, Kälte oder chemische Noxen aktivieren die rezeptiven Enden der Schmerzfasern.
Entzündungsschmerz
Schmerzempfindung während der Entzündung des Gewebes unter Einwirkung von Mediatoren wie K
+, H
+, Zytokine, Purine, Serotonin, Prostaglandine etc.
Neuropathischer Schmerz
Nerven werden durchtrennt oder geschädigt (Varizella-Zoster-
Virus, Diabetes mellitus, Alkoholismus). Der Schmerz ist
brennend, bohrend und attackenförmig. Oft bestehen zusätzlich
Parästhesien (Ameisenlaufen, Taubheitsgefühl).
Pathologische Schmerzformen
Periphere Ursachen: Neuropathischer (neuralgischer) Schmerz
- Ektope Aktionspotentiale in nozizeptiven Axonen durch Druck - Entzündlich mit Allodynie / Hyperalgesie: z. B. Zoster
- Sympathisch verursacht: CRPS (Sudeck-Syndrom), Kausalgie - Stumpfschmerz durch Aussprossung und Neurome
Zentrale Ursachen
- Spinales und supraspinales Schmerzgedächtnis - durch NMDA-Rezeptoren (Plastizität) - durch Genexpression
- Zentrale Reorganisation (Remapping)
- CRPS, Phantomschmerz, Thalamusschmerz - Lernprozesse (Konditionierung)
- Entzugssyndrome
- Depressive Störungen, Psychosen
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