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Dass die USA etwa 1949/50 den Politikwechsel von der wirt- schaftlichen zur militärischen Eindämmung (containment) vollzogen, ist bekannt

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Simone Selva, Integrazione internazionale e sviluppo interno. Stati Uniti e Italia nei programmi di riarmo del blocco atlantico (1945–1955), Roma: Ca- rocci 2009, 384 S. (= Quaderni del Dipartimento di discipline storiche Uni- versità degli studi di Bologna, 14), EUR 39,70 [ISBN 978-88-430-5253-0]

Der Autor bewegt sich auf dem seit Jahrzehnten von der Zeitgeschichte erforschten Feld der amerikanischen Wirtschafts- und Militärhilfe während der ersten Dekade des Kalten Krieges. Dass die USA etwa 1949/50 den Politikwechsel von der wirt- schaftlichen zur militärischen Eindämmung (containment) vollzogen, ist bekannt.

Der Autor sieht den gedanklichen Wechsel bereits 1948, also noch bevor die Mar- shallhilfe überhaupt richtig anlief. Nach landläufigem Verständnis stehen die mul- tiplikatorischen Effekte von Rüstungsausgaben auf Nachfrage und Technologie in einem negativen Verhältnis zum Aufwand an Ressourcen zur Deckung militä- rischen Bedarfs. Mithin hätte die Aufrüstung der Westeuropäer in grundsätzlichem Widerspruch zu dem eben begonnenen Wiederaufbau ihrer Volkswirtschaften ge- standen. Der Gegensatz zwischen amerikanischen Wünschen nach höheren Rüs- tungsausgaben der europäischen NATO-Partner und deren Widerwillen, ihr Wirt- schaftswachstum und später auch ihre Sozialsysteme dadurch zu belasten, war ein Dauerthema der Allianz zumindest bis zum Ende des Kalten Krieges. Selva führt wenigstens für Italien den Nachweis, dass die amerikanische Militärhilfe dem Grundanliegen des Marshallplanes folgte, die europäischen Staaten wirtschaftlich und finanziell zu stärken sowie durch Erweiterung der Binnennachfrage Wachs- tum und soziale Stabilität zu generieren.

Dass die Militärhilfe des Mutual Defence Assistance Act von 1949 den Paradig- men der Marshallhilfe folgte, ist ebenfalls bekannt. Denn bereits 1949 begann die Administration darüber zu diskutieren, ob und wie mit Mitteln der Marshallhilfe rüstungsrelevante Industrien gefördert werden könnten, ohne die wirtschaftliche

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und nicht zuletzt soziale Stabilisierung der europäischen Staaten zu gefährden.

Die Fusion von Wirtschafts- und Militärhilfe wurde mit der Mutual Security Agency 1951 vollzogen. Neben der Aufrüstung zielte die amerikanische Außen- hilfe nach Ansicht des Autors auf die Stabilisierung der europäischen Zahlungs- bilanzen als Voraussetzung zur Belebung des europäischen Binnenhandels und der innereuropäischen Arbeitsteilung. Das kam der stabilitätsorientierten italie- nischen Finanzpolitik entgegen, die ein ›deficit spending‹ vermeiden wollte. Die Hoffnungen der Marshallplaner, mit der zivilen und militärischen Außenhilfe ei- nen europäisch koordinierten Aufbau von ziviler Wirtschaft und Rüstung gleich- sam von oben anzustoßen, scheiterten am Nationalismus der Europäer und am Bi- lateralismus der amerikanischen Administration. Der Autor zeigt, wie die USA seit 1947 die italienskeptischen Briten als Mentoren der Aufrüstung des Landes all- mählich ablösten und auf die Nutzung des italienischen Rüstungspotenzials, na- mentlich der Luftfahrtindustrie, zur Ausrüstung der eigenen und der NATO-Streit- kräfte drängten. Freilich wurden die ersten Aufträge an die italienische Luftfahrtindustrie nicht im Rahmen der Pläne der NATO für ein gemeinsames Rüs- tungsprogramm in Europa vergeben. Folgerichtig scheiterte die europäische Inte- gration der Luftrüstung bereits im Ansatz. Ab 1953 produzierte die italienische In- dustrie neben anderen Rüstungsgütern Komponenten und ganze Flugzeuge im Rahmen des »Off-Shore Procurement«. Die Industrie der europäischen Staaten er- hielt Rüstungsaufträge zur Ausstattung der amerikanischen und europäischen Streitkräfte. Diese wurden in Dollar bezahlt. Die europäischen Staaten konnten die Dollarerlöse für die Einfuhr von knappen Rohstoffen, Industrieprodukten und Rüs- tungsgütern verwenden. Das förderte die Arbeitsteilung zwischen den westeuro- päischen Volkswirtschaften, verbilligte die Rüstungsproduktion, stimulierte das Wirtschaftswachstum und schonte gleichzeitig die Devisenreserven. Mit der Eu- ropäischen Zahlungsunion von 1949 hatten die Westeuropäer ihrerseits eine be- grenzte Konvertierbarkeit ihrer Währungen untereinander geschaffen. Anhaltende Dollarzuflüsse steigerten die Wirksamkeit der Zahlungsunion zugunsten des in- nereuropäischen Handels im Allgemeinen und der Beschaffung von Rüstungsgü- tern in anderen NATO-Staaten im Besonderen. Die italienische Luftfahrtindustrie gewann 1953 die NATO-Ausschreibung für ein leistungsfähiges Unterstützungs- flugzeug, das dann aber nur Deutsche und Italiener beschafften.

Dass der italienische Autor in seiner gut belegten Studie neben anderen deut- schen Titeln auch solche des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zur Ge- schichte der Nordatlantischen Allianz in deutscher Sprache erwähnt, ist ein erfreu- licher Beleg für deren Rezeption jenseits der Sprachgrenze.

Dieter Krüger

Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Op- fer. Hrsg. von Joachim Perels und Wolfram Wette, Berlin: Aufbau 2011, 474 S., EUR 29,99 [ISBN 978-3-351-02740-7]

Die Legende von der rechtschaffenen Wehrmachtjustiz war noch wirkungsmäch- tiger und langlebiger als ihr Pendant der angeblich sauberen Wehrmacht. Dies ist auf den ersten Blick umso erstaunlicher, da sie zutiefst in das NS-Unrechtssystem verstrickt war. Die rund 3000 Wehrmachtjuristen verhängten während des Zwei-

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ten Weltkrieges 30 000 Todesurteile gegen eigene Soldaten und gegen Zivilisten in den besetzten Ländern, von denen etwa 20 000 vollstreckt wurden. Diese national- sozialistisch indoktrinierte Blutjustiz übertraf den berüchtigten Volksgerichtshof, der mit 5200 Todesurteilen als der Inbegriff des justiziellen NS-Terrors gilt, bei Wei- tem. Zum Vergleich: Im Ersten Weltkrieg hatten deutsche Militärgerichte lediglich 48 Todesurteile ausgesprochen.

Trotz dieser fürchterlichen Bilanz gelang es den Wehrmachtjuristen wie keiner anderen Berufsgruppe nach 1945 durch eine geschickte Lobbyarbeit, die eigenen Verbrechen zu verschleiern und das Bild einer nur dem Recht und der soldatischen Manneszucht verbundenen Justiz zu zeichnen. Erst der Skandal um den CDU-Mi- nisterpräsidenten Hans Filbinger, der als Marinerichter an vier Todesurteilen be- teiligt gewesen war und deshalb 1978 unter öffentlichem Druck zurücktreten musste, thematisierte das Wirken dieser furchtbaren Juristen. Gleichwohl bedurfte es weiterer Jahrzehnte, bis die bahnbrechenden Forschungen von Manfred Mes- serschmidt, Fritz Wüllner und anderen auch politisch zur Kenntnis genommen und die Opfer rehabilitiert wurden. Erst 1995, als die Generation der so belasteten NS-Juristen den Ruhestand erreicht hatte, stellte der Bundesgerichtshof fest: Nach heutigen Kriterien »hätte eine Vielzahl ehemaliger NS-Richter strafrechtlich we- gen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezo- gen werden müssen [...] Darin, dass dies nicht geschehen ist, liegt ein folgenreiches Versagen der deutschen Strafjustiz.« Sieben Jahre später hob der Bundestag die Urteile der Wehrmachtjustiz als Unrecht auf – mit Ausnahme von vier Straftatbe- ständen: Misshandlung von Untergebenen, Plünderung, Leichenfledderei und Kriegsverrat. Die Einordnung von Kriegsverrat in diesen Kontext ist bezeichnend für den langen Weg der Opfer, bis 2009 endlich auch die heterogene Gruppe der sogenannten Kriegsverräter pauschal rehabilitiert wurde.

Der von Joachim Perels und Wolfram Wette, zwei ausgewiesenen Experten, he- rausgegebene Sammelband enthält 22 Beiträge, die sich in gut lesbarer Form an ein breiteres Publikum richten und in sieben Abschnitten zu unterschiedlichen Themenkomplexen zusammengefasst sind. Sie klären anschaulich über das tat- sächliche Wirken der Militärjustiz während der NS-Diktatur auf und beleuchten insbesondere in akribischen Fallstudien die oft höchst erfolgreichen Nachkriegs- karrieren, die kameradschaftlichen Netzwerke und Selbstrechtfertigungsstrategien dieser speziellen Berufsgruppe. Dabei wird deutlich, dass die Wehrmachtjuristen nicht nur vom Vergessen-Wollen der 1950er Jahre profitieren (auch in den Nürn- berger Prozessen gab es nur eine Verurteilung), sondern Dank ihrer effizienten Lobbyarbeit auch zur Verhinderung weiterer Strafverfolgung von NS-Verbrechen beitrugen. So etwa im Fall des skandalösen Freispruchs der »Richter« eines SS- Standgerichts, die Dietrich Bonhoeffer und andere Widerständler noch im April 1945 ohne jegliche Verteidigung zum Tode verurteilt hatten, durch den Bundesge- richtshof 1956. Dem fünfköpfigen ersten Senat gehörten damals vier Richter an, die bereits in der Justiz des NS-Staates als Richter oder Staatsanwälte mitgewirkt hatten; als Berichterstatter fungierte Ernst Mandel, ein schwer belasteter Wehr- machtjurist. Ebenso könnte man auf das Wirken Erich Schwinges verweisen, der als Jura-Professor und Rektor der Marburger Universität emsig die Legende der unabhängigen, gar dem NS-Unrechtssystem widersetzlichen Militärjustiz propa- gierte und mit zahlreichen Unterlassungsklagen gegen eine kritische Berichterstat- tung vorging.

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Die Kehrseite dieser erfolgreichen Lobbyarbeit war die andauernde Rufschä- digung der Opfer, die Verleumdung der Kriegsdienstverweigerer und Deserteure als Feiglinge und die Blockierung einer öffentlichen Rehabilitierung und angemes- senen Entschädigung. Dem langen Kampf der Justizopfer um ihre Würde ist des- halb ein eigenes Kapitel gewidmet, das u.a. einen eindrucksvollen Bericht von Lud- wig Baumann enthält, dem Gründer der Bundesvereinigung »Opfer der Militärjustiz«.

Bei einem derartigen Kompendium sind zahlreiche Wiederholungen und Über- schneidungen wohl unvermeidlich. Zu hinterfragen ist allerdings die äußerst kri- tische Sicht der Herausgeber in ihrer Einleitung: Die Inkorporation von Wehr- machtjuristen in die Justiz der Bundesrepublik habe dazu geführt, »dass sie zentrale Entscheidungen prägen konnten. Dabei brachten sie Elemente der juristischen NS- Doktrin, die sich an den politischen Zielen des Regimes – zumal gegen bestehende Rechtsschranken – orientiert hatten, vielfach erneut zur Geltung« (S. 17). Skanda- lös waren gewiss viele Urteile in den NSG-Verfahren, doch der Unwille der Justiz zu einer konsequenten Strafverfolgung von NS-Verbrechen spiegelte nicht nur die hohe Durchsetzung mit ehemaligen NS-Juristen wider, sondern entsprach dem ge- samtgesellschaftlichen Klima der Ära Adenauer und dem mangelnden Willen des Gesetzgebers, der 1960 den Straftatbestand des Totschlags verjähren ließ.

Den Abschluss bilden zwei aktuelle Beiträge aus der Feder von Rolf Surmann und Helmut Kramer, die mit guten Argumenten vor der Wiedereinführung einer militärischen Sonderjustiz angesichts der zunehmenden Auslandseinsätze der Bun- deswehr warnen.

Der Sammelband fasst den Kenntnisstand der Forschung – Altbekanntes und Neues – präzise zusammen und eignet sich auch hervorragend für die politische Bildungsarbeit.

Clemens Vollnhals

Karsten Wilke, Die »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« (HIAG) 1950–1990.

Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik, Paderborn [u.a.]: Schö- ningh 2011, 464 S., EUR 58,00 [ISBN 978-3-506-77235-0]

Die Bielefelder Dissertationsschrift verdient in zweifacher Hinsicht Aufmerksam- keit. Zum einen wurde die »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« (HIAG) als Auffangbecken der Veteranen der Waffen-SS zwar in etlichen Veröffentlichungen zu Soldatenbünden und rechten Milieus in der Ära Adenauer angesprochen oder knapp skizziert, aber noch nicht ausführlich untersucht, zum anderen blieb die Forschung bisher weitgehend auf die 1950er Jahre begrenzt. Karsten Wilke bietet, vor allem basierend auf Unterlagen des HIAG-Bundesvorstandes im Bundesar- chiv-Militärarchiv, der Auswertung der Presse des Verbandes und weiteren ein- schlägigen Schriftgutes, erstmals eine Studie über die Veteranen der Waffen-SS für den Gesamtzeitraum der »alten« Bundesrepublik; die sagenumwobene HIAG, der zeitweise bis zu 20 000 Mitglieder angehört haben sollen, löste sich 1991/92 auf.

Die Anfänge der HIAG liegen in vielfältigen dezentralen Initiativen, die über verschlungene Wege erst 1959 zur Gründung eines Bundesverbandes führten. Der erste Teil der Arbeit gilt dieser Gründungsgeschichte. Eine lokale Organisation gab es demnach in Hamburg bereits 1948/49, der dortige Landesverband beanspruchte

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in der ersten Hälfte der 1950er Jahre die »Führungsrolle innerhalb der HIAG-Struk- tur« (S. 38). Sehr früh zeichneten sich in der Publizistik der Veteranen der Waffen- SS gegensätzliche politische Auffassungen ab. Während der Hamburger »Ausweg«

einen »nationalen Sozialismus auf europäischer Grundlage« (ebd.) propagierte, gliederte sich der in Niedersachsen erscheinende »Wiking-Ruf«, das spätere zen- trale Verbandsblatt, in die staatsoffiziöse antibolschewistische Propaganda des Kal- ten Krieges ein. Kleinster gemeinsamer Nenner war der Anspruch, als Avantgarde europäisch-abendländischer Gesinnung zu wirken, bekanntlich eine zeitgemäß modifizierte Übernahme der Weltkriegsideologie von Himmlers SS.

Die Zentralisierung der HIAG war von Anfang an umstritten. Vor allem ehe- malige hohe Offiziere der Waffen-SS wie Paul Hausser plädierten für den Aufbau eines Wehrmacht und Waffen-SS integrierenden Soldatenverbandes. Die von der Dienststelle Blank initiierte Gründung des Verbands deutscher Soldaten (VdS) wurde von den HIAG-Funktionären durchaus begrüßt, die gegenseitige Zusam- menarbeit war recht harmonisch. Allerdings sprachen die besonderen sozialen An- liegen der Waffen-SS-Veteranen, vor allem hinsichtlich der zunächst verweigerten Gleichstellung mit Angehörigen der Wehrmacht im Rahmen des sogenannten 131er-Gesetzes, für eine eigene zentrale »Bundesverbindungsstelle« (S. 48), deren Gründung von den mittlerweile existierenden Landesverbänden 1953 gegen die Stimmen ehemaliger hoher Offiziere der Waffen-SS beschlossen wurde; daraus entstand 1959 der Bundesverband mit Sitz in Bonn, ein Hinweis auf die zentrale Bedeutung der Lobby-Arbeit am Sitz der Bundesregierung und des Bundestages.

Bis zum Ende der 1950er Jahre waren die Versorgungsansprüche der 250 000 Ve- teranen der Waffen-SS durch Novellierungen des Ausführungsgesetzes nach Arti- kel 131 GG an diejenigen der Wehrmachtangehörigen angeglichen worden (S. 59).

Dass zur Zeit der Gründung des Bundesverbandes das zentrale sozialpolitische Ziel bereits weitgehend erreicht worden war, wird sehr stark auf Kurt Meyer (»Panzer- Meyer«) zurückgeführt, der von 1958 bis zu seinem Tode 1961 die HIAG als Bun- dessprecher sehr geschickt führte und sich von offen rechtsradikalen Kräften di- stanzierte, die eine engere Zusammenarbeit mit der Deutschen Reichspartei (DRP) durchsetzen wollten und etwa in Bayern dominierten. Meyer schuf die Sprachre- gelung, nach der KZ-Verbrechen nicht mehr geleugnet werden sollten. Stattdessen galten die Soldaten der Waffen-SS, die zum Dienst dorthin abgeordnet wurden, als Opfer des Verräters Himmler, der die Totenkopf-Verbände organisatorisch in die Waffen-SS eingegliedert hatte.

Der Verfasser spricht zu Recht von einer »Gründerkrise« (S. 79), weil die Aus- einandersetzungen um den Kurs der HIAG bzw. Meyers »Weg zur Mitte« (S. 85), etwa die offizielle Ablehnung des Antisemitismus, anhielten und der Verband um 1960 vor dem Hintergrund der KZ-Prozesse und einer zunehmenden Kritik an der schamlosen Integration der NS-Täter in die Gesellschaft der Bundesrepublik in Le- gitimationsnöte geriet. Die HIAG-Formel, »wo das Verbrechen anfängt, hört die Kameradschaft auf« (S. 91), wurde intern durchaus unterschiedlich ausgelegt.

Im zweiten Teil der Arbeit werden sprachliche Codes und ikonografische Ele- mente der »Vergemeinschaftung« (S. 121) des Veteranen-Verbandes, vornehmlich auf der Basis der HIAG-Publizistik, untersucht. Die Stilisierung als Kriegsopfer im Rahmen der dominanten Selbstviktimierungskultur, die Präsentation nach außen als »normaler« Verband ehemaliger Soldaten, dem es um den Suchdienst in Zu- sammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz ging, und die gleichzeitige interne Pflege von Festritualen der SS wird sorgfältig herausgearbeitet, auch wenn – Schla-

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cken einer Qualifikationsarbeit – an einigen Stellen theoretische Ausführungen kulturwissenschaftlicher Provenienz die Darstellung unterbrechen. Interessant ist in diesem Teil auch die Entwicklung der Proteste gegen die Waffen-SS-Veteranen, die geradezu als Sonde für den Stand der politischen Kultur der Bundesrepublik gelten können. In den 1950er und 1960er Jahren protestierte vor allem die selbst partiell illegalisierte Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) mit Pres- seerklärungen, erst seit Ende der 1970er Jahre richteten sich Demonstrationen und Kundgebungen mit breitem Trägerkreis, so in Neumünster und Hamburg, gegen die Existenz der HIAG.

Dieser Wandel der politischen Kultur, als symbolisches Datum gilt die Fern- sehserie »Holocaust«, wird vor allem im dritten Teil der Arbeit, überschrieben »Die HIAG in der Defensive« (S. 289), als zentrale Rahmenbedingung thematisiert. Ein besonders spannendes Fallbeispiel gilt dabei dem Verhältnis von SPD und HIAG.

Dass nicht nur Konrad Adenauer, sondern auch der ehemalige KZ-Häftling Kurt Schumacher enge Gesprächskontakte zum Veteranen-Verband der Waffen-SS un- terhielt, war vage bekannt, hier werden nähere Informationen gegeben. Bereits im Oktober 1951 trafen sich Kurt Schumacher, Herbert Wehner und Anneliese Ren- ger mit dem Hamburger Landesverband der HIAG, später fungierten Fritz Erler und Helmut Schmidt als bevorzugte Kontaktpersonen. Erst im November 1981 er- folgte ein Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD für die gleichzeitige Mitgliedschaft in der HIAG, und erst die Novellierung des Traditionserlasses für die Bundeswehr 1982, nur einen Monat vor dem Sturz der sozialliberalen Koalition, untersagte de- finitiv Kontakte zwischen Bundeswehreinheiten und HIAG. Deren Hoffnungen auf die Regierung Kohl blieben allerdings auch unerfüllt. In der Debatte um Bit- burg nahm der Kanzler zwar die jungen Soldaten der Waffen-SS in Schutz, aber der durch die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bezeugte Wan- del der politischen Kultur wurde als bittere Niederlage empfunden. Dem entsprach auch die Emanzipation der deutschen Militärhistoriker von den Deutungsangebo- ten des Veteranenverbandes, die in den 1980er Jahren endgültig vollzogen wurde.

Der Verfasser deutet am Schluss ein Desiderat an, nämlich die nähere Unter- suchung der HIAG-Basis, vor allem der »Truppenkameradschaften«. Daneben wünschte sich der Leser allerdings auch eine noch eingehendere Untersuchung der Beziehungen der Waffen-SS-Veteranen zur Politik und Presse. So wären die nä- heren Umstände des Engagements etwa von Helmut Schmidt zu beleuchten. Das gilt auch für CDU, FDP, DGB oder die Kirchen. Karsten Wilke gebührt das Ver- dienst, für weitere Forschungen zu diesem Bereich mit seiner Langzeitstudie eine solide Grundlage gelegt zu haben.

Axel Schildt

An Lac Truong Dinh, Von der Fremdenlegion zu den Viet Minh. Der Schwei- zer Überläufer Emil Selhofer im französischen Indochinakrieg, Zürich: Chro- nos 2011, 163 S., EUR 23,00 [ISBN 978-3-0340-1089-4]

Die Überläufer aus der Fremdenlegion, die sich im Indochinakrieg der vietname- sischen Unabhängigkeitsbewegung anschlossen, waren im Ostblock bereits in den 1950er Jahren ein propagandistisches Thema, sind von der westlichen Forschung

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aber erst in den letzten Jahren in einigen wenigen Studien eingehender betrachtet worden. Schon bald nach ihrer Ankunft in Indochina hatten deutsche und öster- reichische Legionäre eine kommunistische Zelle gegründet, die zu den Viêt Minh überlief und weitere Kameraden zur Desertion zu animieren versuchte. Zeitweise bestand in den Reihen der Viêt Minh unter den Namen »Détachement Tell« oder

»Brigade freier Legionäre« sogar eine kleine Einheit aus solchen Überläufern.

Das anzuzeigende, auf einer Lizentiatsarbeit basierende Buch untersucht dieses Phänomen exemplarisch anhand des 1926 geborenen und vermutlich 1953 verstor- benen Schweizers Emil Selhofer, dessen Biografie der Verfasser gestützt auf schwei- zerische, französische und vietnamesische Archivalien sowie Zeitzeugeninterviews so akribisch wie möglich rekonstruiert. Der Autor will dabei aus einer lebenswelt- lichen Perspektive neue Einsichten zur Fremdenlegion und dem Indochinakrieg gewinnen. Ein Nachwort von Peter Huber verortet Selhofers Schicksal zudem im Kontext schweizerischer Legionsfreiwilliger der Nachkriegszeit.

Emil Selhofer war als Sohn eines bereits 1933 verstorbenen Schlossers und ei- ner Buchhalterin in Zürich aufgewachsen und hatte früh den Entschluss gefasst, Matrose zu werden. Im Jahre 1940 begann er eine Lehre bei der Schweizer Reede- rei in Basel. 1943 wurde er von der deutschen Wasserschutzpolizei vorübergehend verhaftet, da er den Brief eines elsässischen Flüchtlings über die Grenze geschmug- gelt hatte. Im Oktober 1944, am Ende seiner Lehrzeit, verliess Selhofer zusammen mit zwei Arbeitskollegen die Reederei und überquerte illegal die Grenze nach Frankreich. Als Gründe für diesen Schritt erwägt der Verfasser sowohl schlechte berufliche Aussichten als auch eine ausgeprägte Abenteuerlust. Der Entschluss zum Eintritt in die sich im Wiederaufbau befindliche Fremdenlegion scheint in- dessen erst auf französischem Boden gefallen zu sein. Nach einer ungewöhnlich kurzen Ausbildungszeit in Algerien von nur knapp zwei Monaten wurde Selho- fer im Januar 1945 nach Indochina verschifft. Nach zweieinhalb Jahren Indochina- krieg desertierte er im Juni 1947 und schloss sich den Viêt Minh an, in deren Reihen er zeitweise Anführer des »Détachement Tell« war und sich auch propagandistisch betätigte. Hoffnungen Selhofers, in die Schweiz zurückkehren zu können, schei- terten aufgrund der fehlenden diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Nordvietnam, während viele seiner deutschen Kameraden in die DDR repa- triiert wurden. Vermutlich im Jahre 1953 kam Selhofer unter nicht restlos geklär- ten Umständen ums Leben.

Die Stärke des sehr lesenswerten Buches besteht darin, dass es die (lückenhaft bleibende) Lebensgeschichte Selhofers nicht nur anhand ihrer Spuren in amtlichen Archiven rekonstruiert und mit Hilfe der einschlägigen Forschungsliteratur kon- textualisiert, sondern dank der Verfügbarkeit privater Briefe, vor allem Selhofers an seine Mutter, auch Einblicke in die Befindlichkeiten eines jungen Mannes lie- fert, der sich angesichts der Gräuel des Imperialkrieges vom kriegslüsternen Aben- teurer zum kommunistischen Propagandisten wandelte. Dadurch wird die Ver- zahnung der Perspektive von unten mit den übergeordneten politischen, militärischen und diplomatischen Ereignissen und Prozessen ermöglicht und das Denken und Handeln der Akteure vor Ort verständlicher gemacht.

Christian Koller

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Thomas Mergel, Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahl- kampfs in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen: Wallstein 2010, 415 S., EUR 29,90 [ISBN 978-3-8353-0779-7]

In der Einleitung steckt der Autor das Terrain seiner Untersuchung ab und korri- giert damit indirekt den (vom Verlag erfundenen?) Untertitel des Bandes. Thema sind die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Sie werden von den Zeitgenossen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, und die Wahlbeteiligung ist höher als bei Wahlen zu anderen politischen Gremien, deren Einbeziehung zudem das Buch ge- sprengt hätte.

Als die wichtigsten Quellen bezeichnet Mergel die Unterlagen in den Archiven von CDU und SPD. Außer Zeitschriften und Zeitungen wurden Interviews mit

»maßgeblichen Figuren der Wahlkämpfe« und natürlich die Literatur ausgewertet.

Ziel ist es, den bisher von Historikern und von Soziologen nur ansatzweise und auf frühere Zeitabschnitte angewandten Cultural Turn für die Analyse der Wahl- kämpfe zu nutzen. Es geht darum, »entlang der Kultur des Wahlkampfs die poli- tischen Mentalitäten, Erwartungen und Routinen, also die unter der Oberfläche der aktuellen politischen Auseinandersetzungen liegenden politischen Verkehrs- formen der alten Bundesrepublik herauszuschälen«. Die These lautet, dass die nach 1945 installierte Demokratie »in hohem Maß auch auf dem Umbau von Traditi- onen [fußte], deren Herkunft durchaus undemokratischer Natur sein mochte, die aber unter den gegebenen Systembedingungen einen sehr deutschen politischen Stil kreieren halfen«.

In dem Kapitel »Wahlkampf als politische Pädagogik« gibt Mergel einen Über- blick über Wahlkämpfe vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1933. Zwar war das Wahlrecht in der für Preußen geltenden Steinschen Städteordnung von 1808 an Grundbesitz und ein bestimmtes Einkommen gebunden. Aber die Vertreter des für die Selbstverwaltung der Stadt zuständigen Magistrats wurden nicht bestimmt, sondern gewählt, die Bürger zur Übernahme öffentlicher Ämter verpflichtet und so an die mit ihrer Beteiligung geschaffene Institution gebunden, wenn auch eine gewisse Schicht von dieser Mitwirkung ausgeschlossen blieb.

Der »Ausdruck einer konsensuell orientierten politischen Kultur« wurde, so ist Mergel zu ergänzen, in Preußen im Gefolge der Revolution von 1848 infrage ge- stellt durch die im Mai 1848 nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht ge- wählte Nationalversammlung, die aber schon im Dezember 1848 aufgelöst wurde.

Die Verordnung vom 30. Mai 1849 (nicht 1850) führte in Preußen das Dreiklassen- wahlrecht ein, das 1850 die Verabschiedung der von der Regierung auf den Weg gebrachten Verfassung ermöglichte.

Mergel betont, dass in den Wahlversammlungen der 1850er Jahre die Über- nahme der traditionellen Konsenskultur erfolgte. So wurde z.B. dem politischen Gegner häufig eine bestimmte Redezeit in Wahlversammlungen angeboten.

In der Weimarer Republik wurden andere Formen der politischen Werbung entwickelt. Die neuen Medien und Verkehrsmittel wurden genutzt. Mergel be- zeichnet den Wahlkampf von 1928 als den ersten Wahlkampf, »bei dem Züge von modernen Werbekampagnen zu finden sind: Personalisierung, Multimedialität, Professionalisierung«. Die Diskussion trat zurück, die Inszenierung in den Vorder- grund, Wahlversammlungen wurden zu Kundgebungen. Die »Konsenskultur«

wurde zur »Konfliktkultur«.

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Hitler hatte in »Mein Kampf« die Selbstinszenierung der Gemeinschaft propa- giert und behauptet, die Masse lerne nur durch die tausendfache Wiederholung einfachster Begriffe. Carlo Mierendorff, seit 1930 Reichstagsabgeordneter der SPD, analysierte 1932 »Die Bedeutung der neuen Propaganda« und kam zu dem Schluss,

»alle qualifizierte Propaganda« werde »zu einem Schlag ins Wasser, wenn nicht mit Hilfe der Symbolpropaganda stimmungsmäßig der Boden vorbereitet« sei.

Mergel bezeichnet zwar die These, die Nationalsozialisten hätten ihren Erfolg vor allem einer überlegenen Propaganda zu verdanken, als »Selbstexkulpation der Deutschen«, die sich als Opfer inszenierten. Aber er teilt auch die häufig vertre- tene Ansicht, die Nationalsozialisten hätten durch den Verzicht auf Argumente das Defizit an Sinnlichkeit der anderen Parteien in den Wahlkämpfen nutzen kön- nen.Die Wahlkämpfe in der Bundesrepublik waren, so Mergel, einerseits geprägt von dem Unbehagen gegenüber der nationalsozialistischen Propaganda, anderer- seits ging von deren Erfolgen eine Faszination aus, die zu Überlegungen führte, wie eine vergleichbar effiziente Wahlkampftechnik in einer Demokratie wie der Bundesrepublik möglich sein könnte. Befürworter einer Modernisierung der po- litischen Werbung interessierten sich für die in den USA praktizierten Methoden.

So schickte Otto Lenz, 1951–1953 Staatssekretär im Bundeskanzleramt, 1952 Beob- achter in die USA und reiste selbst 1953 dorthin, um den Besuch des Bundeskanz- lers im April des Wahljahres vorzubereiten. Er unterbreitete Adenauer am 4. Au- gust 1952 unter der Überschrift »Wahlpropaganda« Vorschläge, die Erfolge der Bundesregierung stärker herauszustellen. In der Kabinettssitzung am 28. August 1952 erklärte er, es sei »unbedingt erforderlich« darauf hinzuweisen, dass »die Mei- nungsforschung ein ständiges Ansteigen der positiven Einstellung der Bevölke- rung gegenüber der Bundesregierung« festgestellt habe (Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd 5: 1952, Boppard a.Rh. 1989, S. 533). Im CDU-Vorstand berichtete er 1952, der Begriff »Sicherheit« habe bei den Befragten mehr Zustim- mung gefunden als der Begriff »Einheit«, ein Befund, der 1957 in den Slogan »Keine Experimente« umgesetzt wurde.

Mergel analysiert die Professionalisierung, Personalisierung und Medialisie- rung der Wahlkämpfe. Er untersucht den Einfluss der demoskopischen Institute und von Experten, berücksichtigt die (erfragten oder spontanen) Meinungsäuße- rungen von Wählern, schildert die mit Adenauer 1953 beginnend zunehmende In- szenierung von Politikern und konstatiert die Dominanz von Text und Papier im Medienzeitalter, die sich auch an der Menge der Wahlplakate und Zeitungsanzei- gen mit ihren griffigen Slogans ablesen lässt. Er verfolgt die Traditionen des kon- fessionellen Konflikts, der nach einer Entspannung in den 1960er Jahren nach der Wahlniederlage der »christlichen« Parteien in den 1970er Jahren wieder aufbrach.

Er verweist auf das Versammlungsordnungsgesetz, das allerdings nicht, wie Mer- gel schreibt, 1950 erlassen wurden, sondern 1950 von der Bundesregierung verab- schiedet wurde (Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd 2: 1950, Bop- pard a.Rh. 1984, S. 474) und nach langen Beratungen in den parlamentarischen Gremien als Gesetz über Versammlungen und Aufzüge auf den 24. Juli 1953 da- tiert ist.

Mergel filtert aus Reden, Slogans, Rundfunk- und Fernsehsendungen Wahl- kampftechniken heraus und ordnet sie bestimmten Kategorien zu. Er verzichtet weitgehend darauf, Texte chronologisch festzumachen. Das führt nicht nur zu Wie- derholungen (»Finis Germaniae«, S. 264, 274, 287 oder »Brandt alias Frahm«, S. 218,

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289, 294 f.) sondern in einigen Fällen auch dazu, dass Texte aus dem Zusammenhang gerissen werden. Wenn die CDU 1949 von »Nazimethoden der SPD gegen Erhard«

spricht (S. 289) oder Schumacher Adenauer »Lügenauer« nennt (S. 285), wäre es hilf- reich zu erfahren, auf welche Äußerungen Bezug genommen wird. Für die Behaup- tung, Adenauer sei der »erste Kanzlerkandidat der CDU bei den Bundestagswahlen 1949« gewesen (S. 312), gibt er keinen Beleg an und dies widerspricht auch seiner zutreffenden Bemerkung, dass man »nur sehr wenig von Personen, sondern viel mehr von Zielen« sprach (S. 211). Adenauer wurde in der Wahlversammlung am 9. August 1949 in Landau von dem Mitglied des rheinland-pfälzischen Landtags Finck als künftiger Bundespräsident bezeichnet. In der Rhöndorfer Konferenz am 21. August, in der Adenauer vor Vertretern von CDU und CSU seine Kanzlerkan- didatur bekanntgab, erwähnte er in Anwesenheit Fincks dessen »ganz nichtsnut- zige Rede, dass ich Bundespräsident werde. Die wichtigste Persönlichkeit ist der Bundeskanzler. Präsident soll ein anderer werden, ich will Kanzler werden« (Ru- dolf Morsay, »Die Rhöndorfer Weichenstellung vom 21. August 1949«. In: Viertel- jahrshefte für Zeitgeschichte, 1980, S. 527). Die 1979 veröffentlichte Erinnerung eines Journalisten, Adenauer habe am 9. August 1949 auf Anfrage gesagt, er wolle Kanzler werden (ebd., S. 528), für die es keine weiteren Belege gibt, könnte ein Rückschaufehler sein. »Kanzlerkandidat« war er nicht. Mergel hat die Bundestags- debatten nicht in seine Untersuchung einbezogen. Trotzdem hat sich ein Zitat aus einer Bundestagsdebatte eingeschlichen, ohne dass es als solches kenntlich gemacht wird. Der »berühmte Zwischenruf« Schumachers »Bundeskanzler der Alliierten«

fiel nicht, als Adenauer »am 25. September 1949 eine Rede hielt« (S. 290), sondern in der legendären Bundestags-Nachtsitzung vom 24. auf den 25. November 1949.

Kein Wahlkampfzitat, aber ein sehr aussagekräftiges.

Ursula Hüllbüsch

Christian Th. Müller, US-Truppen und Sowjetarmee in Deutschland. Erfah- rungen, Beziehungen, Konflikte im Vergleich, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2011, 397 S. (= Krieg in der Geschichte, 70), EUR 48,00 [ISBN 978-3-506-77193-3]

Ausländische Truppen prägten fünf Jahrzehnte lang den Alltag im geteilten Deutschland. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Besatzungstruppen sta- tioniert, wandelte sich deren Charakter im Zuge des Kalten Krieges rasch zu dem verbündeter Streitkräfte. Deren Präsenz auf dem vermuteten »Schlachtfeld Deutsch- land« sollte die Teilhabe an der gemeinsamen Verteidigung beiderseits des Ei- sernen Vorhanges erhöhen und gleichzeitig das Kriegsrisiko mindern. Christian Th. Müller füllt mit seiner Studie eine Forschungslücke, indem er den unübersicht- lichen Beziehungskomplex zwischen den amerikanischen Streitkräften und der westdeutschen Bevölkerung auf der einen und zwischen den sowjetischen Trup- pen und der ostdeutschen Bevölkerung auf der anderen Seite analysiert und mit- einander vergleicht. Da der Autor mit diesem Thema absolutes Neuland betritt, ist es konsequent, in einem ersten Teil Begriffe wie »Besatzung«, »alliierte Vorbehalts- rechte« usw., zu erläutern. Ausgehend vom Völkerrecht bezeichnet Müller die nä- her zu betrachtende Truppenpräsenz als eine »Besatzung im weiteren Sinne«.

Es folgt ein kluger und gut geschriebener Überblick über die Truppenstationie- rung im Nachkriegsdeutschland, in dem die Fragen nach der Wahrnehmung und

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Selbstdarstellung der fremden Truppen im Mittelpunkt stehen. Trotz der säuber- lich voneinander getrennten Betrachtungen beider deutscher Staaten fallen bereits hier einige »gemeinsame« Befunde auf. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR führten die ausländischen Soldaten mit ihren Familien praktisch eine weitgehend parallele Existenz zur einheimischen Bevölkerung. Zwar gab es offi- ziell verschriebene Programme wie die deutsch-amerikanischen Freundschaftswo- chen oder die »Märsche der Waffenbrüderschaft«, um diese Parallelwelten zusammen zu führen. Und sicherlich gab es auch – im Westen mehr als im Osten – zahlreiche geglückte »Integrationsprojekte« bis hin zu lebenslangen Freund- schaften und glücklichen Ehen – oder die Hunderttausende Westdeutsche, die nach 1945 als Angestellte der US-Army den »American Way of Life« hautnah erlebten und oft auch übernahmen. Jedoch bleibt am Ende Müllers eher deprimierendes Fazit, keiner wollte – aus welchen Gründen auch immer – so richtig etwas mit dem anderen zu tun haben. Man blieb sich fremd.

Wo genau diese Beziehungsunfähigkeit sowohl der ausländischen Soldaten als auch der jeweiligen Einheimischen herrührte, zeigt der Autor anhand zweier aus- gewählter Beispiele, den Garnisonstädten Bamberg in Oberfranken und Jüterbog im Brandenburgischen.

Zwei schwer miteinander zu vergleichende Garnisonstädte, kam doch in der alten Domstadt an der Regnitz nur ein amerikanischer Soldat auf rund 1000 Ein- wohner. In der alten preußischen Soldatenstadt hingegen kamen rund 1,4 sowje- tische Soldaten auf einen Jüterboger. Für Bamberg weist Müller überzeugend nach, dass der zivil-militärische Kontaktbereich vor allem im Wirtschaftsleben positive Auswirkungen hatte. Sowohl als Arbeitgeber als auch als großer Nachfrager nach Gütern und Dienstleistungen aller Art waren die US-Streitkräfte gerne gelitten.

Weniger gerne sah man den Verbündeten in seiner Rolle als fremder Soldat mit Cowboy-Manieren. Der Rezensent kann sich selbst an die Stimmung in Bamberg in den 1980er Jahren erinnern. Die sogenannten Zupfer verließen die Kasernen au- genscheinlich nur, um in den Kneipenvierteln ihren Frust abzubauen. Das Bild des einfachen GI war das eines ungebildeten, an der deutschen Kultur desinteressierten Halbwüchsigen, der seine Zeit in einem fremden Land absitzen musste. Die wenigen erfolgreichen Integrationsversuche, wie der deutsch-amerikanische Wanderklub, wa- ren kaum bekannt und änderten nichts an dem städtischen Neben- statt Miteinander.

Noch weniger Integration zwischen der Zivilbevölkerung und den fremden Streit- kräften fand in Brandenburg statt. Mehr als die amerikanische Housing Area war das russische Militärstädtchen von außen unzugänglich. Die Problembereiche waren wie in Franken vor allem Manöverschäden, Verkehrsunfälle und auch Straf- und Gewalt- taten. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Militärpräsenz waren weniger wirksam, allerdings dürfen die offiziell unerwünschten Tauschgeschäfte zwischen den Einhei- mischen und den sowjetischen Soldaten nicht unterschätzt werden. Der propagierten deutsch-russischen Brüderschaft stand die beiderseitige Distanz entgegen, die seitens der ostdeutschen Bevölkerung noch durch das weit verbreitete Urteil vom »rückstän- digen und unzivilisierten Russen« verstärkt wurde. Der Rotarmist stand von Anfang an in schlechtem Ruf, blieb zudem hermetisch in den Kasernen abgeschottet. Daran änderten auch Ernteeinsätze oder andere Unterstützungsleistungen nichts. Anspruch und Wirklichkeit klafften hier deutlich weiter auseinander als im Westen Deutsch- lands.

Am Beispiel ausgewählter Konflikte bzw. Missstände wie Gewaltdelikte oder Ma- növerschäden verdeutlicht der Autor schließlich, wie die unterschiedlichen politischen

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Systeme unterschiedliche Lösungen gerierten. Während im Westen deutsche, aber auch amerikanische Behörden und eine kritische Öffentlichkeit aufmerksam über die Ein- haltung der getroffenen Vereinbarungen wachten, konnten die sowjetischen Streitkräfte völlig unkontrolliert, teilweise sogar willkürlich agieren. Die DDR-Behörden wurden letztlich von den Sowjets nicht als gleichrangiger Partner anerkannt.

Allerdings zeigten sich die US-Streitkräfte oftmals ebenso wenig kooperativ und pochten auf alliierte Sonderrechte. Die soziale Schichtung der ausländischen Truppen wies auch Parallelen auf. Kamen in den 1950er Jahren Amerikaner aus allen Gesell- schaftsschichten nach Westdeutschland, so veränderte sich dies in den 1970er Jahren.

Nach Abschaffung der Wehrpflicht folgten Zeit- und Berufsoldaten, die eher aus den unteren Bevölkerungsschichten der USA stammten. Mit seismografischem Gespür ging die einheimische Bevölkerung auf Distanz, was sich auch an den Eheschließungen ab- lesen lässt. Wurden zwischen 1946 und 1962 noch jährlich rund 5000 Ehen zwischen amerikanischen Soldaten und deutschen Frauen geschlossen, so sank die Zahl Mitte der 1970er Jahre auf rund 1400 (S. 111).

Diese Wirklichkeiten waren kaum mit dem Anspruch der Großmächte, sich über ihre Armee zu Leitbildern zu stilisieren, in Einklang zu bringen. Der Leser hätte sich gewünscht, am Beispiel solch ausgewählter Themenkomplexe eine vergleichende Be- trachtung der amerikanischen und sowjetischen Truppen in beiden deutschen Staaten präsentiert zu bekommen. Dies gelingt dem Autor leider nur in einer zehnseitigen Zwi- schenbilanz und in seiner Zusammenfassung.

Dennoch überzeugt Christian Th. Müller mit seiner umfassenden, auf beachtlich breiter Quellenbasis fußenden Habilitationsschrift zu einem wichtigen Thema der Kal- ten Kriegs-Forschung: Der Prägung der west- und ostdeutschen Alltags- und Lebens- welten durch ausländische Truppen oder – mit den Worten des Autors – durch »fremde Freunde« (S. 217) über fast drei Generationen hinweg.

Helmut R. Hammerich

Frederick Kempe, Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt. Aus dem amerik. Engl. von Norbert Juraschitz und Michael Bayer, München: Siedler 2011, 671 S., EUR 29,99 [ISBN 978-3-88680-994-3]

Jahrestage bieten sich bekanntlich für Rückblicke gut an; der fünfzigste – in un- serem Fall der Mauerbau 1961 – besonders gut. Nun ist der Mauerbau zunächst einmal eine deutsche Geschichte, mit der sich die Deutschen 2011 in Ost und West denn auch in vielfältiger Weise auseinandergesetzt haben: in zahlreichen Büchern, (Fernseh-)Dokumentationen, Kolloquien und Konferenzen. Der nicht-deutsche Le- ser konnte zu drei englischsprachigen Darstellungen greifen, die inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegen, und zwar: Hope Harrison, Driving the So- viets up the Wall, 2003 (dt.: Ulbrichts Mauer, 2011); Frederic Taylor, The Berlin Wall, 2009 (dt.: Die Mauer, 2009, Rezension in MGZ, 69/2010); und eben F. Kempe, Ber- lin 1961. Kennedy, Khrushchev, and the Most Dangerous Place on Earth, New York 2011.

Kempe war 25 Jahre Journalist des Wall Street Journals. Und viele amerika- nische Journalisten zeichnet etwas aus, was manchem (deutschsprachigen) Histo- riker fehlt: Sie können ungemein fesselnd schreiben. Das gilt auch für Kempe. Das amerikanische Original ist noch spannender zu lesen als die – sehr gute – Überset-

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zung. Kempe kennt die gesamte einschlägige Literatur, nutzt die veröffentlichten Dokumente, ist sogar selbst in Archive gegangen und hat dort neues Material ge- funden, etwa Henry Kissingers Analyse aus dem Jahr 1961. Dennoch bleibt festzu- halten: grundsätzlich Neues teilt auch Kempe nicht mit. Wie sollte er auch? Aber:

Wie er die bekannten Fakten wie bei einem Puzzle zusammensetzt, Schauplätze und Personen wechselt und aus Dokumenten nicht einfach alles zitiert und ein- fach gut schreibt – das ist meisterhaft. Als Beispiel sei auf das Treffen Kennedys mit Chruschtschow in Wien Anfang Juni 1961 verwiesen, das er auf 50 Seiten be- schreibt und analysiert. Das muss man lesen, auch wenn vieles ja längst bekannt ist.Dass Kempe manchmal beim Formulieren etwas übers Ziel hinausschießt, sei dem Journalisten nachgesehen. Es liest sich trotzdem gut, etwa wenn er schreibt:

»Seine [Kennedys] Augen waren gerötet und wässrig und verrieten, wie todmüde er war. In seinem Rücken pochte der Schmerz.« Für ähnliche Formulierungen gibt es noch zahlreiche andere Beispiele.

Kempes Kritik an Kennedy – »unerfahren und schwach« –, dem der »bauern- schlaue« Kremldiktator gegenübersitzt, ist m.E. aber etwas übertrieben. Und über seine These, dass bei einer härteren Haltung Kennedys der Mauerbau möglicher- weise verhindert worden wäre, lässt sich trefflich streiten.

Fazit: eines der besseren Bücher zum Mauerbau.

Rolf Steininger

Tetsuji Senoo, Ein Irrweg zur deutschen Einheit? Egon Bahrs Konzeptionen, die Ostpolitik und die KSZE 1963–1975, Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 2011, 415 S. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 31: Politikwissenschaft, 588), EUR 59,80 [ISBN 978-3-631-60345-1]

Die von Tetsuji Senoo im Jahr 2008 an der Universität Bonn eingereichte Disserta- tion trug den weniger prägnanten, aber den Inhalt der Arbeit genauer spiegelnden Titel »Die Bedeutung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Eu- ropa für die Ostpolitik Willy Brandts unter besonderer Berücksichtigung der ge- samteuropäischen Konzeptionen Egon Bahrs und der Koordination des Vorgehens mit den westlichen Partnern 1969–1975«. Tatsächlich gliedert sich die Arbeit in drei sehr ungleiche Teile: Nach der Einleitung widmen sich 32 Seiten Egon Bahrs au- ßenpolitischen Ideen bis 1969, dem folgt eine 80-seitige Darstellung der bilateralen Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition bis 1973, und schließlich werden auf et- was mehr als zweihundert Seiten die Vorgespräche, Konsultationen und Verhand- lungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bis 1975 untersucht.

Der dünne Teil zu Bahrs »Konzeptionen« fokussiert ausschließlich auf dessen Plan für ein »europäisches Sicherheitssystem« (ESS) aus dem Sommer 1968. Die- ser Plan war – was im Text unterschlagen wird, aber in der internationalen Histo- riografie längst bekannt ist – das Produkt einer engen, wenn auch nicht unbedingt reibungsfreien Kooperation mit Günter Diehl, einem Intimus und späteren Bun- despressesprecher des CDU-Kanzlers Kurt-Georg Kiesinger. Beide waren von ih- ren »Chefs«, dem Außenminister der Großen Koalition Willy Brandt und dem Kanzler – mit einem Neuanfang der Bonner Deutschland- und Ostpolitik beauf-

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tragt worden. Die Wiedervereinigung fest im Visier, wurde zunächst über mög- liche Rahmenbedingungen und Szenarien hierfür nachgedacht, um dann eine lang- fristig angelegte Politik zur Herstellung dieser Rahmenbedingungen konzipieren zu können. Das Ergebnis war eine in der Tat »neue Ostpolitik«, die Kiesinger 1969 in der eigenen CDU/CSU-Fraktion zwar nicht mehr durchsetzen, die aber anschlie- ßend der sozial-liberalen Bundesregierung unter Brandt und Walter Scheel als Ori- entierung und »Fahrplan« diente.

Das antizipierte blockübergreifende »Sicherheitssystem« in Europa sollte einen solchen Rahmen für die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten bieten:

ausgewogene, gleichwohl asymmetrische Truppenreduzierungen, umfassende Rüs- tungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen sollten zu einem Höchstmaß an Trans- parenz und Vertrauensbildung führen. Ein immer enger werdendes Netz aus Ost- West-Kommunikation und Kooperation sollte nicht nur menschliche Kontakte fördern (wie der Autor richtig hervorhebt), sondern eben auch diesen Prozess ge- genseitiger Bedingt- und Abhängigkeiten unumkehrbar machen und damit erst den gesellschaftlichen Wandel kommunistischer Herrschaft in Mittel- und Osteu- ropa ermöglichen. In diesem Prozess – so die hinter dem ESS-Konzept steckende Annahme – würden die beiden militärischen »Blöcke« in dem Maß an Bedeutung verlieren, in dem die legitimen Sicherheitsinteressen eines jeden involvierten Staates durch blockübergreifende Verträge und Kooperationen garantiert würden.

Erst der Abbau der Ost-West-Konfrontation und die durch die im ESS angelegte übergreifende Kooperation langfristig gewährte Sicherheit vor Deutschland könnte dessen Wiedervereinigung überhaupt möglich machen.

Die von den Ländern des Warschauer Paktes und insbesondere vom neuen Ge- neralsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, immer wieder geforderte paneuro- päische Sicherheitskonferenz könnte, so die Annahme Bahrs, den Weg zu einem derartigen ESS vorbereiten und durch einen andauernden Verhandlungsprozess über alle nur denkbaren Themen und Ebenen die angestrebte Intensivierung der Ost-West-Kooperation geradezu katalytisch befördern. Die Europäische Sicher- heitskonferenz – von den Sowjets ganz offenbar als Ersatz für den seit 1945 feh- lenden Friedensvertrag mit und über Deutschland und damit als nachträgliche Le- gitimierung der Gebietsgewinne nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht – sollte gegen ihre Erfinder gewendet werden, die dann nicht einmal dagegen argumen- tieren könnten. Leider fehlt auch dieses, zudem längst veröffentlichte Schlüssel- dokument zum ostpolitischen Konzept von Bahr und Brandt im vorliegenden Werk. Der später in KSZE umbenannten paneuropäischen Sicherheitskonferenz kam in der »neuen Ostpolitik« Bonns damit gleich eine doppelte Bedeutung zu:

Sie sollte die bilateralen Ostverträge Bonns multilateralisieren, damit absichern und einen international kodifizierten Rahmen für die offiziellen staatlichen Bezie- hungen zwischen den Ländern des Warschauer Pakts, der NATO und den neu- tralen und nicht paktgebundenen Staaten (den sogenannten N+Ns) bilden. Zu- gleich sollten die im Schlussdokument niedergelegten Werte und Normen (die

»Prinzipien« der Schlussakte von Helsinki 1975) aber auch gesellschafts- und herr- schaftspolitische Reformen in den Gesellschaften des Warschauer Paktes ermöglichen.

Die Verhandlungsdiplomatie der Bundesregierung fokussierte daher auf zwei wesentliche Inhalte: die explizite Erlaubnis von »friedlichen Grenzveränderungen«

und den freieren Austausch von Menschen und Ideen in Europa. Das eine schuf die unabdingbare Voraussetzung für Deutschlands Wiedervereinigung (nicht um- sonst wird im Vertrag zur deutschen Einheit vom Oktober 1990 explizit auf die

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Schlussakte von Helsinki Bezug genommen), das andere wurde bereits im Mo- ment der Veröffentlichung zum Bezugs- und Legitimationspunkt von Oppositions- und Dissidensgruppen in ganz Europa. Mit einem deutlichen Fokus auf der Frage der »friedlichen Grenzveränderungen« rekonstruiert das Werk von Tetsuji Senoo detailliert den höchst komplizierten Verhandlungsprozess in Genf und Helsinki sowie die nicht minder vertrackten Abstimmungsbemühungen im westlichen La- ger aus deutscher Sicht.

Aufgrund der exklusiven Verwendung westdeutscher diplomatischer Quellen stößt das Werk immer wieder an bereits methodisch präjudizierte Grenzen. Die politischen Prämissen geraten angesichts der geschilderten diplomatischen Taktik allzu oft in den Hintergrund oder gar ganz aus dem Blick. Selbst die Gründe für die letztlich doch erfolgte Aufnahme einer Passage zur Möglichkeit friedlicher Grenzveränderungen bleiben im Vagen – gerade weil dieses äußerst spannende internationale Tauziehen auf allerhöchster Ebene zwischen Washington, Bonn und Moskau außerhalb des engen diplomatischen Konferenzrahmens stattfand (was im Übrigen – ebenfalls unerwähnt – bereits erforscht und publiziert worden ist).

Ein derart komplexer multilateraler Prozess – der, wie manche internationalen His- toriker argumentieren, der Anfang vom Ende des sowjetischen Machtbereichs dar- stellte – lässt sich durch eine nationale und zudem in entscheidenden Passagen auch noch mono-archivalische Herangehensweise eben nicht hinreichend erklä- ren. Ohne internationale, multi-archivalische Quellenarbeit lässt sich nicht einmal verifizieren, ob die Urteile der deutschen Diplomaten über andere und sich selbst angemessen waren – und wie diese bundesdeutsche Politik den frühen KSZE-Pro- zess tatsächlich beförderte oder behinderte. Nicht umsonst gilt in der mit interna- tionalen Themen befassten Historiografie der in dieser – politikwissenschaftlichen – Arbeit verwendete Ansatz seit Längerem als obsolet.

Wie aber steht es nun um den im Titel verkündeten »Irrweg« Bahrs auf der Su- che nach deutscher Einheit? Die mit der KSZE-Schlussakte von August 1975 en- dende Darstellung scheint geradezu das Gegenteil zu belegen: Sowohl der Verlauf der bilateralen Ostpolitik als auch die in der Multilateralisierungsphase – also in den KSZE-Verhandlungen – kodifizierten Inhalte entsprachen den vom Planungs- stab des Auswärtigen Amts unter Bahrs Ägide vorgelegtem Fahrplan. Selbst die angesichts erster gesellschaftlicher Implikationen eintretenden politischen Span- nungen wurden korrekt vorausgesagt (was leider ebenfalls im Werk fehlt).

Worin bestand also der – offenbar in Anlehnung an ein älteres Werk von Chris- tian Hacke – formulierte »Irrweg« Egon Bahrs? Das Buch bleibt eine Antwort schul- dig. Die zeitgenössische und aktuelle Kritik an Bahr von Walther Hahn, Franz Josef Strauß, Brigitte Seebacher u.a. (Neutralisierung Deutschlands, Vorherrschaft Mos- kaus, Behinderung der europäischen Integration, S. 57 f.) bleibt auch in der Schluss- betrachtung unkommentiert. Mitbedingt durch den beschränkten Zeithorizont bis 1975 und die weitgehende Ausblendung der gesellschaftlichen Zielrichtung der Politik von Brandt und Bahr sieht der Autor den Wert der Bahrschen »Vision« vor allem in der katalytischen Wirkung im Aufbruch zu einer neuen Ostpolitik in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Eine konzise Ausdeutung der Implikationen des Bahrschen Konzepts für die verbleibenden 14 Jahre des Ost-West-Konflikts und des deutsch-deutschen Gegen- und Miteinanders – nur dies könnte die Frage tat- sächlich beantworten helfen – unterbleibt hingegen.

Oliver Bange

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Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. Hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und des Deutschen Histori- schen Instituts Washington von Philipp Gassert, Tim Geiger und Hermann Wentker, München: Oldenbourg 2011, 410 S. (= Schriftenreihe der Viertel- jahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), EUR 59,80 [ISBN 978-3-486- 70413-6]

Die »Nachrüstungsdebatte« über eine angemessene westliche Antwort auf die Auf- stellung eurostrategischer sowjetischer Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20, gip- felnd im NATO-Doppelbeschluss von 1979 und beendet mit dem INF-Vertrag von 1987, markierte in der Geschichte des Kalten Krieges dreierlei: den vorerst letzten Höhepunkt des nuklearen Wettrüstens zwischen den Supermächten, den Wende- punkt von der Rüstungskontroll- zur Abrüstungspolitik und den Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Die spezifischen allianzpolitischen Impulse deutscher Sicher- heitsexperten, die Aufheizung der Krise durch die Aktionen einer neuartigen Frie- densbewegung als Massenbewegung und ihre geostrategische Lage machten die Interessen der Bundesrepublik dabei zum zentralen Faktor. Es war denn auch ein legitimes Anliegen, die bislang gewichtigste wissenschaftliche Tagung dazu auf deutschem Boden unter einen deutschlandzentrischen Schwerpunkt zu setzen.

Veranstalter wie Referenten verloren bei alledem jedoch die strategischen und inter- nationalen Rahmenbedingungen sowie Auswirkungen dieses Zweiten Kalten Krieges nicht aus dem Blick. Allein schon die Zahlen von Demonstranten in Westeu- ropa wie in den USA gegen die Aufstellung westlicher Mittelstreckenraketen wei- sen nämlich nachdrücklich darauf hin, dass es sich bei den Strategiedebatten wie den Gegenaktionen nicht um ein ausschließlich deutsches Phänomen handelte.

Als zeitlicher Rahmen für den sogenannten Zweiten Kalten Krieg erscheint der weiter gesteckte Rahmen der Jahre 1973 bis 1987 angemessen. Nicht erst die Rake- tenkrise, sondern schon das wachsende Ausgreifen der Sowjetunion in die süd- liche Hemisphäre und die daraus resultierende Verhärtung in den Ost-West-Be- ziehungen dürfen als wesentliche Signale dafür gewertet werden, dass die Détentepolitik noch vor ihrem wichtigsten Erfolg in Helsinki (1975) bereits an Schwungkraft zu verlieren begann. Für die Analyse der Krisenjahre haben die He- rausgeber vier Forschungsansätze herausgearbeitet. In der Krise selbst wie in ih- ren unmittelbaren Nachwirkungen dominierten zunächst Erklärungsmuster, die noch stark vom politischen Standort der jeweiligen Betrachter beeinflusst waren.

Da standen erstens den Befürwortern einer glaubwürdigen westlichen Verteidi- gungsfähigkeit zweitens die Kritiker einer überzogenen Bedrohungswahrnehmung im Westen gegenüber. Mit der Öffnung der Archive verwissenschaftlichte sich dann auch der Diskurs, der nunmehr drittens die innergesellschaftlichen Auseinander- setzungen ebenso in den Blick nahm, wie er viertens die internationalen Strategie- dispositionen zu objektivieren suchte. Es gehört zu den Vorzügen des Bandes, dass er dazu alle diese unterschiedlichen Blickwinkel zum Tragen bringt. Offene Fra- gen zwischen den Tagungsteilnehmern werden dabei ebenso deutlich markiert, wie Quellenprobleme einer wesentlich auf deutsche Archive abgestützten For- schung kenntlich gemacht werden.

Genau an letzterem Punkt treten freilich auch Grenzen der vorwiegend auf deutsche Quellen abgestützten Beiträge zutage. Sicherlich spiegeln die deutschen diplomatischen und sicherheitspolitischen Berichte immer zugleich den internati-

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onalen Disput um eine westliche Nachrüstung wider, nur eben in dezidiert deut- schen Bewertungen. Das gilt selbst dann, wenn man in Rechnung stellt, dass ein jahrzehntelanges Zusammenrücken innerhalb der NATO das Bewusstsein von den internationalen Verflechtungen gerade bei deutschen Akteuren des Kalten Krieges schärfte und besonders ausgeprägt bis in die diplomatische Berichterstattung hi- nein durchschlagen ließ. Die unmittelbare Betroffenheit der Deutschen an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts von allen Veränderungen auf internationaler Ebene verliehen deren Wahrnehmung in Bonn wie in Ost-Berlin eben auch eine spezifische Alarmiertheit. Aus Bonn schlug daher der Carter-Administration in der Frage von Neutronen- wie Mittelstreckenwaffen frühzeitig und durchgängig der Vorwurf mangelnder Partnerschaftlichkeit gegenüber den regionalen Sicherheits- belangen der Mitteleuropäer entgegen. Nur treten dahinter die globalen Einschät- zungen und Verantwortlichkeiten der westlichen Führungsmacht doch stärker in den Hintergrund, als dies bei ausgewogenerem Zugang zu deutschen wie ameri- kanischen Akten möglich wäre. Dass zudem auch die Bonner Debatte nicht frei von Einseitigkeiten und Gegensätzen war, wurde nirgends deutlicher als im öf- fentlichen Meinungsstreit über Sicherheit und Entspannung innerhalb der regie- renden SPD. Schon das bündnispolitische Debakel um Neutronenwaffen wird man daher nicht ausschließlich auf taktisches Jonglieren des US-Präsidenten zurück- führen dürfen. Man denke nur an Egon Bahrs wortgewaltige Gegenposition!

Wie ertragreich demgegenüber die Möglichkeit zur Akteneinsicht in deutschen wie russischen Archiven sein kann, macht der Beitrag über das sowjetische Krisen- verhalten deutlich. Unklar bleibt zwar weiterhin, ob die SS-20 wesentlich die Ab- schreckungsfähigkeit der östlichen Supermacht stärken oder im Konfliktfall sogar als Präventivwaffe eingesetzt werden sollte. Umso eindeutiger werden aus sowje- tischen Quellen die Vorteile, die man sich in Moskau aus dem Gegenwirken einer breiten Friedensbewegung in der Bundesrepublik versprach, gelang es doch, ei- gene Gefolgsleute in deren Strukturen einzusteuern. Selbst in der Ära Reagan/Kohl setzte man daher offenbar noch auf Chancen, das westliche Bündnis über seine in- ternen Kritiker handlungsunfähig zu machen. Da andererseits die USA nur aus ei- ner Position westlicher Stärke heraus zu erfolgversprechenden Verhandlungen be- reit waren, verkamen diese zunächst zum beiderseitigen Kampf um die Öffentlichkeit. Erst als die Nachrüstung 1983 Fakt geworden war, zeigte sich die sowjetische Seite unter Gorbatschow bereit, auf Präsident Reagans Kernforderung einer doppelten Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen in Europa einzugehen. Da- mit wurde der Weg zum INF-Vertrag von 1987 frei.

In der Regierung Schmidt-Genscher, die seit 1977 wesentlich zur Auslösung der Debatte beigetragen hatte, zeigten sich indes schnell innere Belastungen, die schließlich 1982 zur Mitbegründung für den Koalitionsbruch eingesetzt wurden.

Obwohl weder für die SPD noch für die FDP die Bündnistreue der Bundesrepu- blik grundsätzlich infrage stand, lieferte die wachsende Gegnerschaft innerhalb der Sozialdemokratie gegen eine westliche Nachrüstung den Freidemokraten doch die Handhabe, genau dies als zusätzlichen Bruchpunkt zu den wirtschaftspoli- tischen Differenzen für das Ende der sozialliberalen Koalition zu machen. Den al- lianzpolitischen Gewinn daraus sollte die Nachfolgeregierung Kohl-Genscher zie- hen. Ihre Verlässlichkeit in der Stationierungsfrage wird zu Recht als gewichtiger Aktivposten dafür herausgearbeitet, dass es 1989/90 gelang, innerhalb der NATO Widerstände gegen eine deutsche Vereinigung mit ihren allianzpolitischen Risiken abzubauen. Aber auch die DDR sollte wegen ihrer begrenzten Konfliktbereitschaft

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gegenüber der Sowjetunion, mit der sie selbst nach Stationierung westlicher Mit- telstreckenraketen in der Bundesrepublik die eigenen wirtschaftlichen Sonderbe- ziehungen mit Bonn unbeschadet zu lassen suchte, zugleich internationales Ge- wicht bei der Wiederaufnahme europäischer Entspannungspolitik erhalten.

Weniger Erfolg war allerdings dem parallelen Versuch der SED-Führung beschie- den, daraus zusätzlich innergesellschaftliche Legitimation als Friedensmacht zu aktivieren. Nicht zuletzt ihre Anstrengungen zur Steigerung der Wehrbereitschaft waren dafür kontraproduktiv.

Im westdeutschen Parteienspektrum erbrachte die Ablehnung einer Nachrüs- tung nicht nur für die SPD eine innere Stabilisierung nach dem Regierungswech- sel von 1982. Auch den Grünen erwuchs daraus ein wesentlicher Schub für ihre Konsolidierung als Partei. Nachdem sich die DKP und ihr nahestehende Organi- sationen schon Ende der 1970er Jahre für eine breite Kooperation innerhalb der Friedensbewegung geöffnet hatten, gelang es zudem zwar schon im November 1980, 4,7 Millionen Unterschriften für den einseitig gegen eine westliche Nachrüs- tung gerichteten »Krefelder Appell« einzuwerben. Ambivalent für die finanziell stark engagierte DDR blieb dagegen durchgängig die Haltung der Grünen, die sich – von spektakulären Ausnahmen abgesehen – insbesondere wegen ihrer Haltung in Menschenrechtsfragen nicht für eine nachrichtendienstliche Zuarbeit für die DDR missbrauchen ließen. Eine Zusammenarbeit bis hin zu den Sozialdemokraten war für die kommunistische Seite von vornherein historisch vorbelastet und mit der Sorge verbunden, dadurch letztlich an Einfluss in der Friedensbewegung zu verlieren. Insgesamt führte der breite innergesellschaftliche Widerstand im Üb- rigen auch nicht zu einer Entfremdung vom Westen, speisten sich seine radikalde- mokratischen Ansätze doch wesentlich aus westlichem Demokratieverständnis.

Außerdem war die Friedensbewegung zu breit bis in die angelsächsischen Länder hinein ausgelagert, als dass man gelegentliche antiamerikanische Vorbehalte zum Grundkanon ihrer Überzeugungen machen dürfte. Von einer unübersehbaren Dif- ferenz war die transatlantische Kooperation der westeuropäischen Friedensbewe- gungen mit der amerikanischen Freeze-Bewegung allerdings durchgängig belas- tet, forderte man in den USA doch einen beiderseitigen anstatt eines einseitigen westlichen Verzichts auf Nachrüstung.

Insgesamt bietet dieser Tagungsband mithin eine außerordentlich breite The- men- und Diskurspalette an, die geeignet ist, auch die Debatte um diese letzte große Krise des Kalten Krieges mit der gebotenen Differenziertheit weiterzuführen.

Bruno Thoß

Clausewitz goes global – Carl von Clausewitz in the 21st Century. Commemora- ting the 50th Anniversary of the Clausewitz Society. Ed. for the Clausewitz-So- ciety by Reiner Pommerin, Berlin: Hartmann Miles-Verl. 2011, 380 S., EUR 34,80 [ISBN 978-3-937885-41-4]

Die vorliegende, in englischer Sprache abgefasste Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen der Clausewitz-Gesellschaft e.V. untersucht die weltweite Bedeutung des preußischen Generals Carl von Clausewitz. Nach einem kurzen Blick auf die Ge- schichte und Aktivitäten der Gesellschaft durch den derzeitigen Präsidenten, Klaus Olshausen, gibt der Herausgeber des Bandes, Reiner Pommerin, einen Überblick

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über die Anlage des Buches und weist dabei auf wichtige Ergebnisse hin. Das Er- kenntnisinteresse, das die vorliegenden Aufsätze bestimmt, zielt darauf ab, die Rolle, die Clausewitz in den herangezogenen Ländern bis auf den heutigen Tag spielt, zu analysieren und darzustellen. Charakteristisch für die Autoren dieses Bandes ist ihre enge Beziehung zum Militär – sei es, dass sie an militärischen Bil- dungseinrichtungen gelehrt haben oder lehren, sei es, dass sie über mehrere Jahre hinweg herausragende Positionen als Stabsoffiziere oder Generale in den Streit- kräften ihrer Heimatländer bekleideten.

Die Mehrzahl der Länderbeiträge befasst sich naturgemäß mit der Clausewitz- Rezeption in Europa. Den Auftakt machen Österreich und Belgien; es folgen Dä- nemark, Finnland und Frankreich, ferner Deutschland, Italien, die Niederlande und Norwegen sowie im Anschluss daran Slowenien, Spanien, Schweden und die Schweiz. Aus den außereuropäischen Ländern ist stellvertretend für Asien die Be- schäftigung mit Clausewitz in China und Japan dokumentiert. Der Nahe Osten ist mit Israel vertreten und der afrikanische Kontinent mit Südafrika. Den Abschluss des Bandes bildet die Bestandsaufnahme der Clausewitz-Forschung in den USA.

Das gemeinsame Ziel der Autoren, die historische und aktuelle Diskussion über Clausewitz in ihren Ländern zu erörtern, wird in sehr unterschiedlicher Weise re- alisiert. So gibt es Darstellungen, die sich stark an die Form eines Forschungsbe- richts bzw. einer annotierten Bibliografie anlehnen und dementsprechend einen detaillierten Überblick über die Clausewitz-Literatur in ihrem Land vermitteln, oft ergänzt durch eine Würdigung der vorliegenden akademischen Qualifikationsar- beiten. Darüber hinaus schließt diese Darstellungsperspektive in der Regel auch Hinweise auf die Beschäftigung mit dem Werk von Clausewitz in den militärischen Bildungseinrichtungen ein.

Für diese Art der Annäherung an die Thematik, an der sich die meisten Unter- suchungen orientieren, stehen beispielhaft die Artikel über Frankreich und Deutsch- land. In Frankreich setzte die Beschäftigung mit Clausewitz – wie Hervé Coutau- Bégarie ausführt – bereits in den 1830er Jahren ein, doch trat die entscheidende Wende in der französischen Clausewitz-Rezeption erst mit der englischen Über- setzung des Werkes »Vom Kriege« durch Peter Paret und Michael Howard sowie dem Erscheinen des Buches von Raymond Aron »Penser la guerre. Clausewitz« in der Mitte der 1970er Jahre ein. Der Einfluss dieser Studie, mit der Aron der Öffent- lichkeit einen modernisierten Clausewitz vorstellte, war überwältigend und hielt in Frankreich bis in die 1990er Jahre an. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Niedergang der Sowjetunion erhielt die Diskussion in Frankreich neue Im- pulse und wurde durch andere strategische Optionen erweitert. Parallel zu der pri- mär unter militärischen bzw. militärpolitischen Aspekten erfolgten Rezeption voll- zieht sich in jüngster Zeit eine philosophische Auseinandersetzung mit Clausewitz, die auch die religiösen Aspekte seines Werkes thematisiert.

Für Deutschland gilt nach den Worten von Claus von Rosen und Uwe Hart- mann, dass die Militärtheorie von Clausewitz nur allmählich rezipiert wurde, wäh- rend zunächst die Ideen des Schweizer Offiziers Antoine-Henri Jomini im Vorder- grund des Interesses standen. Meilensteine der Debatte über Clausewitz waren die erste Biografie über den preußischen Militärtheoretiker von Karl Schwartz (1878) sowie die Herausgabe einzelner seiner Schriften in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts. Neue Impulse erhielt die Forschung durch die Arbeit von Hans Rothfels aus dem Jahr 1920, in der die Beziehung zwischen Politik und Krieg bei Clause- witz analysiert wurde.

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Die Geschichte der Clausewitz-Rezeption nach 1940 ist eng mit Werner Hahl- weg verbunden. Er erschloss mit der 16. Auflage des Buches »Vom Kriege« (1952) den Originaltext – 120 Jahre nach dessen erstem Erscheinen. Darüber hinaus pu- blizierte er zwischen 1966 und 1990 eine mehrbändige Ausgabe der Clausewitz- schen Schriften. Unter praktischen Gesichtspunkten wurde die Bedeutung von Clausewitz für die »Innere Führung« in der Bundeswehr ausführlich diskutiert.

Kennzeichnend für die Situation im geteilten Deutschland war, dass auch in der DDR eine intensive Auseinandersetzung mit dem preußischen Militärtheoretiker stattfand. Dabei ging es einerseits um die Herausgabe grundlegender Clausewitz- Texte, andererseits um die Aneignung seines Werkes unter marxistischem Vorzei- chen. Insgesamt – so die Einschätzung der Autoren – werde in Deutschland eine rege Debatte über Clausewitz geführt, was allerdings nur wenig darüber aussage, inwieweit sein Gedankengut in der Öffentlichkeit tatsächlich präsent sei.

Einen Sonderfall stellen diejenigen Beiträge dar, in denen es die jeweiligen Au- toren selbst sind, die aufgrund einer eingeschränkten Clausewitz-Rezeption in ih- rem Land den Diskurs über Clausewitz vorangetrieben haben und dementspre- chend ihre persönliche Annäherung an dieses Thema in den Vordergrund rücken.

Dies gilt zum Beispiel für den Aufsatz von Michael H. Clemmesen, der die Clau- sewitz-Rezeption in Dänemark untersucht. Seine Kernthese lautet: »The theory of Carl von Clausewitz has never been integrated into how the Danish armed forces or the national defence politicians think or act« (S. 60). Die Ursache für diesen Um- stand sieht der Autor darin, dass die frühe Clausewitz-Rezeption in Dänemark durch eine vertiefte Beschäftigung mit den Werken Antoine-Henri Jominis über- lagert und die militärtheoretische Diskussion im weiteren Verlauf des 19. Jahrhun- derts nachhaltig durch Frankreich und Großbritannien beeinflusst wurde. Mit Blick auf diese Entwicklung stellt der Autor seine eigenen Untersuchungen über Clau- sewitz vor, die im Anmerkungsteil detailliert dokumentiert werden.

Ein anderer Zugriff, der für einen weiteren Teil der Aufsätze dieses Bandes cha- rakteristisch ist, resultiert aus der politisch-militärischen Situation, in der sich das betreffende Land in jüngster Zeit befunden hat bzw. nach wie vor befindet. Sie bil- det den Ausgangspunkt für die Erörterung der Clausewitz-Rezeption, was zur Konsequenz hat, dass in diesen Fällen zumeist ein kritischer Umgang mit Clause- witz erfolgt. Insbesondere wird das Problem erörtert, dass die Einsichten des preu- ßischen Militärtheoretikers bei der Analyse und Bewältigung gegenwärtiger poli- tisch-militärischer Konflikte oft an unübersteigbare, eben zeitbedingte Grenzen stoßen.

Dieser Ansatz findet sich in den Beiträgen über Israel und Südafrika wieder, gilt aber auch für den Aufsatz von Yu Tiejun über die Rezeption des Werkes »Vom Kriege« in China. Der Verfasser geht zunächst der Frage nach, wie dieses Buch in China eingeführt wurde und analysiert im Anschluss daran die Rolle, die Clause- witz bei der Entwicklung der militärischen Lehren Mao Zedongs spielte, die bis in die Gegenwart das strategische Denken in China beeinflussen. Die Rezeption der Clausewitzschen Ideen wurde entscheidend dadurch bestimmt, dass sich Mao nach dem Langen Marsch gezwungen sah, angesichts eines militärisch starken Japan und im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Kuomintang-Regierung un- ter Chiang Kai-shek eine eigene Militärstrategie zu entwickeln. In diesem Kontext stand für ihn die politische Dimension des Krieges, so wie sie Clausewitz umris- sen hatte, eindeutig im Vordergrund. Es gehört zu den Charakteristika der Debatte über Clausewitz in China, dass dieser oft mit Sun Tsu und dessen »Kunst des

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Krieges« verglichen wird, mit dem Ziel, die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen beiden militärischen Denkern möglichst präzise herauszuarbeiten. Da- bei ist man heute geneigt, ihre Positionen eher als komplementär, denn als gegen- sätzlich zu begreifen.

Alles in allem trägt dieser Band maßgeblich zum Verständnis der vielfältigen Ansätze in der internationalen Clausewitz-Rezeption bei. In manchen Beiträgen dient allerdings der Name des preußischen Militärtheoretikers primär dazu, be- stimmte militärpolitische und militärische Entwicklungen, die von den Autoren diskutiert werden, zu begleiten, ohne dass ein spezifisches, an Clausewitz festzu- machendes Erkenntnisinteresse damit verbunden wäre. Von daher spiegelt der Sammelband auch die Schwierigkeiten eines kritischen Umgangs mit einem mili- tärischen »Klassiker« wider, dem es nicht darum ging, Handlungsanweisungen im Hinblick auf das operative oder taktische Verhalten zu entwerfen, sondern viel- mehr den Zusammenhang von Krieg, Politik und Gesellschaft aufzuklären, worü- ber er, trotz vieler zeitbedingter Elemente, nach wie vor grundlegende Einsichten vermittelt.

Heinz Stübig

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