• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Lifestyle-Medikamente und körperdysmorphe Störungen: Ein neues medizinisches Phänomen am Beispiel der Dermatologie" (17.01.2003)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Lifestyle-Medikamente und körperdysmorphe Störungen: Ein neues medizinisches Phänomen am Beispiel der Dermatologie" (17.01.2003)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

M E D I Z I N

A

A128 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 317. Januar 2003

D

er verstärkte Wunsch nach Ju- gendlichkeit und Schönheit west- licher Gesellschaftssysteme führt aktuell besonders im Fachgebiet Der- matologie zur dramatischen Wende, hin zum Schwerpunkt dermatologische Kosmetik (22). Auch die kosmetische und pharmazeutische Industrie hat be- reits frühzeitig auf diese Entwicklung mit dem Angebot einer breiten Pro- duktpalette reagiert.

Die zusätzliche Thematisierung der dermatologischen Kosmetologie in den Medien (Lifestyle-Magazine, Pri- vat-Fernsehen und Internet) sowie die Zulassung von modeabhängigen Le- bensgenussmedikamenten (Lifestyle- Medikamenten) für Haarwachstum, Potenz und Gewichtsreduktion hatte eine rasche und zeitlich abhängige gravierende Zunahme von Patienten- vorstellungen mit kosmetischen Fra- gestellungen und einem schnell anstei- genden Behandlungsbedarf zur Folge.

Hierbei erfolgt der Arzt-Patienten-

Kontakt oftmals zwecks klarer Ab- sicht der Verordung einer definierten Wunschmedikation von Lifestyle-Me- dikamenten.

Diese Patientengruppe zeichnet sich durch einen hohen Anteil von psychi- schen Störungen aus. Besteht eine übermäßige Beschäftigung mit einem eingebildeten Mangel oder einer Ent- stellung in der äußeren Erscheinung, die Beeinträchtigungen in sozialen und beruflichen Bereichen verursacht, liegt per Definition eine körperdysmorphe Störung vor (28). Pathogenetisch spie- len seelische Belastungssituationen und Konflikte eine wesentliche Rolle (14, 39). Eine Untersuchung hinsicht- lich psychosomatischer Gesichtspunk- te erfolgt – wenn überhaupt – erst nach mehrjährigen Verläufen und erfordert spezifische therapeutische Strategien (36).

Klassifikation und Komorbidität

Körperdysmorphe Störungen (11, 28) werden im Diagnostischen und Statisti- schen Manual psychischer Störungen, DSM-IV, zu den somatoformen Störun- gen gezählt (10, 11). Im ICD 10 (F 45.2) ist diese Störung als Dysmorphophobie eine Unterform der hypochondrischen Störung. Da es sich bei den körperdys- morphen Störungen nicht um wirklich phobische Störungen handelt, ist die Dysmorphophobie als ein veralteter Be- griff anzusehen.

Die diagnostischen Kriterien bei kör- perdysmorphen Störungen sind:

>A: Eine übermäßige Beschäftigung mit einem eingebildeten Mangel oder ei- ner Entstellung in der äußeren Erschei- nung.Wenn eine leichte körperliche Ano- malie vorliegt, so ist die Besorgnis der betroffenen Person stark übertrieben.

>B: Die übermäßige Beschäftigung verursacht in klinisch bedeutsamer

Lifestyle-Medikamente und körperdysmorphe Störungen

Ein neues medizinisches Phänomen am Beispiel der Dermatologie Wolfgang Harth, Marcus Wendler, Ruthild Linse

Zusammenfassung

Eine neue Medikamentengruppe, die den psy- chosozialen Schönheitsidealen der westlichen Zivilisationsgesellschaft entspricht, sind die so genannten Lifestyle-Medikamente. Seit der Einführung von Lifestyle-Medikamenten wie Finasterid und Sildenafil wird eine sprunghaf- te Zunahme von Patienten mit körperdysmor- phen Störungen in der Hautklinik Erfurt fest- gestellt. Hierbei erfolgt der Arzt-Patienten- Kontakt oftmals zwecks klarer Absicht der Verordnung einer definierten Wunschmedika- tion von Lifestyle-Medikamenten. Körperdys- morphe Störungen bezeichnen die übermäßi- ge und ständige Beschäftigung mit einem mi- nimalen oder nicht vorhandenen Mangel und beinhalten ein breit gefächertes Spektrum von eingebildeten körperlichen Erscheinun- gen. Patienten mit körperdysmorphen Störun- gen finden sich in jeder medizinischen Praxis wieder und sind schwierig zu behandeln. Bei

körperdysmorphen Störungen liegt keine Therapiegrundlage für den Einsatz von Life- style-Medikamenten vor, und es steht eine adäquate Psychotherapie oder medikamentö- se Behandlung mit Psychopharmaka im Vor- dergrund.

Schlüsselworter: körperdysmorphe Störung, Psychosomatik, Arzneimittelmissbrauch, Life- style-Medikament, Dermatologie

Summary

Lifestyle-Drugs and Body Dysmorphic Disorder: A new Medical Phenomenon Demonstrated for Dermatology

A new group of drugs which meets the life- style demands and fulfils ideal interpreta- tions and beauty ideals of western society are the so-called lifestyle drugs. Following the in- troduction of the new lifestyle drugs finaste-

ride and sildenafil the authors observed a dramatic increase in the number of patients suffering from body dysmorphic disorder attending the clinic for skin diseases in Erfurt, Germany. These patients frequently contact their doctor demanding a prescription of a particular lifestyle drug. The body dys- morphic disorder is defined as the repeated preoccupation with a minimal or non-evident defect and includes a wide spectrum of im- agined defects in appearance. Patients with body dysmorphic disorder are present in every clinical practice and are difficult to treat. However, there is no indication for the use of lifestyle drugs in the treatment of a body dysmorphic disorder. The appropriate treatment includes psychotherapy and psycho- pharmacological medication.

Key words: body dysmorphic disorder, psycho- somatics, drug abuse, lifestyle drug, dermatol- ogy

Klinik für Hautkrankheiten (Chefärztin: Prof. Dr. med. Rut- hild Linse), Helios Klinikum Erfurt

(2)

Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen.

>C: Die übermäßige Beschäftigung wird nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt.

Bei der Diagnosestellung muss der behandelnde Arzt bedenken, dass von dem Patienten die körperlichen Ano- malien, auch wenn sie eingebildet sind, als real erlebt werden (5). Da die Störung vorrangig das Gesicht als Ort der Schamexpression sowie den Be- reich der Brust und Genitalien betrifft, wird die Scham zum Leitaffekt (5), so- dass auch von einer Schamkrankheit gesprochen werden kann. So kann ho- hes Alter, Dickleibigkeit, Unsportlich- keit und falsche Behaarung (14, 35) eher Schamgefühle auslösen, als nackt zu sein. Die Scham setzt dabei den in- terpersonellen Blick des Anderen vor- aus und kann aus Angst vor visueller Exposition zur Vermeidung von Öffent- lichkeit mit Soziophobie führen.

An Komorbiditäten fanden Cotteril (8), Phillips (26) und Stangier (34) bei Patienten mit körperdysmorphen Stö- rungen insbesondere Zwangsstörungen, soziale Ängste, Depressionen, narzissti- sche Persönlichkeitsstörungen bis hin zu körperbezogenem Wahn (21). Zwangs- gedanken beschränken sich dabei nicht nur auf die Sorgen um das Ausse- hen, sondern es bestehen auch andere Zwangshandlungen. Dies beinhaltet ins- besondere eine ständige Kontrolle des Aussehens vor dem Spiegel, Betasten und aufwendige Pflegemaßnahmen.

Klinische Befunde

Das Auftreten von körperlichen Sym- ptomen, für die sich keine ausreichenden organischen Ursachen nachweisen las- sen, gehört zum ärztlichen Alltag (12, 23) und findet sich in allen medizinischen Disziplinen. Letztendlich kann jedes Or- gan, jede körperliche Funktion betroffen sein (20). Insbesondere das Hautorgan und die Hautanhangsgebilde sind auf- grund der visuellen Exposition ein be- sonderer Fokus für die Beobachtung von körperlichen Symptomen (6).

Die Inzidenz der körperdysmorphen Störung liegt in der Gruppe der derma- tologischen Patienten bei 11,9 Prozent

bis 15,6 Prozent (26) und kann in ei- ner dermatologischen Kosmetologie- Sprechstunde in Abhängigkeit von der Patientenklientel 23,1 Prozent und mehr betragen (15). Die körperdysmor- phe Störung ist besonders häufig bei Frauen zwischen dem 35. und 50. Le- bensjahr und Männern vor dem 35. Le- bensjahr (32) zu beobachten.

Die Klagen zu Mängeln des äußeren Erscheinungsbildes beziehen sich ins- besondere auf Schönheitsfehler im Ge- sicht, der Kopfbehaarung sowie auf den Brust- und Genitalbereich (8). Die an- gegebenen Symptome der körperdys- morphen Störungen sind sehr variabel

und umfassen Haarausfall, übermäßige Gesichtsbehaarung, Akne, Falten, Pig- mentstörungen, Narben, Gefäßzeich- nungen, Blässe oder Rötung der Haut, Schwellungen, Gesichtsasymmetrien oder Disproportionalität der Form und Größe von Nase, Augen, Augenlidern, Augenbrauen, Ohren, Mund, Lippen, Zähnen, Kiefer, Kinn, Wangen oder Kopf. Seltener beklagen sich die Patien- ten über das Aussehen der Füße, der Hände, der Brust und des Rückens.

Kürzlich wurde ein weiteres klini- sches Konzept als Dorian-Gray-Syn- drom beschrieben, wobei eine körper- dysmorphe Störung mit narzisstischer Regression, Soziophobie und dem star- ken Wunsch nach Bewahrung der Ju- gendlichkeit einhergeht (4). In einigen Fällen sollen Lifestyle-Medikamente dann den natürlichen Alterungsprozess

aufhalten. Hierbei handelt sich es um kein neues Thema. Der Traum nach Ju- gend und Schönheit wurde bereits 1546 von Lucas Cranach dem Älteren in sei- nem Gemälde Jungbrunnen dargestellt.

Lifestyle-Medikamente

Patienten mit körperdysmorphen Stö- rungen suchen in erheblichem Maße nach traditionellen Behandlungsmaß- nahmen. Die dermatologischen kosmeti- schen Therapieschwerpunkte beinhalten in den letzten Jahren ein breites Spek- trum an konservativen und invasiven

Verfahren, wobei verstärkt moderne Technologien, insbesondere der Laser, angewendet und weiterentwickelt wur- den. Operative Eingriffe oder lange Me- dikamentenanwendung können jedoch auch die Störung verstärken und weitere erfolglose Behandlungen nach sich zie- hen. Betroffene Personen haben künstli- che Nasen, Ohren, Brüste oder Hüften, mit denen sie nach wie vor unzufrieden sind (9).

Eine neue Medikamentengruppe, die dem Lebensstil und Bedarf der westli- chen Gesellschaft nach Idealvorstellun- gen und Schönheitsidealen entsprechen, sind Lifestyle-Medikamente. In der Lite- ratur fehlt bisher eine allgemeingültige, verbreitete Definition für Lifestyle-Me- dikamente (7). Aus diesem Grund schla- gen die Autoren folgende Definition vor:

„Lifestyle-Medikamente sind Pharmaka, M E D I Z I N

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 317. Januar 2003 AA129

´ Tabelle C´

Spezielle Lifestyle-Medikamente in der Dermatologie

Medikament Medizinische Lifestyle-Verwendung Indikation

Vitamin-A-Cremes Akne vulgaris Anti-Faltentherapie: Streben nach jugendlichem Aussehen (Dorian-Gray-Syndrom)

Orlistat, Sibutramin Adipositas Einnahme durch Normalgewichtige zum Halten oder Erreichen eines gesellschaftlichen Schönheitsideals oder bei Anorexia nervosa

Sildenafil, Erektile Streben nach Potenz und steuerbarer Erektion Phentolamine Dysfunktion

Minoxidil, Finasterid Androgenetische Einnahme bei altersentsprechender Alopezie Alopezie

Botulinum-Toxin Hyperhidrosis Stabilisierung der normwertigen physiologischen Hyperhidrose bei physischer oder psychischer Be- lastung oder im Rahmen psychischer Störungen (Soziophobie, körperdysmorphe Störung)

(3)

die von gesunden Menschen zur Erlan- gung eines aktuell psychosozialen Schön- heitsideals eingenommen werden und nicht der Stabilisierung körperlicher Vi- talfunktionen von Kranken dienen“. Die Zuordnung eines Medikamentes zur Ka- tegorie der Lifestyle-Therapeutika ist da- bei entscheidend von psychosozialen Aspekten des Behandlungswunsches ge- prägt. Die Ovulationshemmer waren die erste Medikamentengruppe, welche die Kriterien eines Lifestyle-Medikamentes erfüllte und einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Lebensgewohnheiten, insbesondere das Sexualverhalten, Ethik- diskussion und auch die Krankheitsmor- bidität von Geschlechtserkrankungen hatte (16).

Die Zahl der Lifestyle-Medikamente hat sich in den letzten Jahren deutlich er- höht. Zu den Hauptgruppen gehören heute Medikamente verschiedener Gruppen beispielsweise Nootropika (Pi- racetam, Yohimbin, Hydergin), Psycho- pharmaka (Fluoxetin), Hormone (Ana- bolika, Melatonin, Dehydroepiandro- steron) und Eco-Drugs wie Absinth, Echinacea, Kava-Kava, und Johannis- kraut. An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Anwendung von Nootropika oder Psy- chopharmaka als Lifestyle-Medikamen- te um die missbräuchliche Einnahme dieser Substanzen bei Gesunden zur Steigerung des Wohlbefindens handelt.

Die Therapie mit diesen Medikamenten bei Patienten mit medizinischer Indika- tion soll hier nicht angezweifelt werden.

In den Bereich des Strebens nach kör- perlicher Fitness gehören Anabolika, die auch in der nichtprofessionellen Body- buildingszene große Verbreitung gefun- den haben. Auf dem Gebiet der Psycho- pharmaka können Antidepressiva wie Fluoxetin, wenn diese ohne Indikation eingenommen werden, ebenso als Life- style-Medikamente gelten wie Präpara- te, denen über die eigentliche therapeuti- sche Wirkung hinausgehende Effekte zu- geschrieben werden wie beispielsweise Selegilin oder Ondansetron. Auch psy- choaktive Drogen, beispielsweise Ecsta- sy zählen zu dieser Kategorie. Schon im Altertum gebräuchlich, haben Aphrodi- siaka in neuerer Zeit wieder an Beliebt- heit gewonnen.

Der Dermatologe wird besonders für die rezeptpflichtigen Lifestyle-Medika-

mente (Tabelle) oder aufgrund der Ne- benwirkungen, wie bei der phototo- xisch/photoallergischen Kontaktderma- titis nach Einnahme von Johanniskraut, konsultiert (10). Im Folgenden werden einige Substanzgruppen vorgestellt.

>Vitamine (Vitamin-A-Verordnung), Nahrungsergänzungsmittel, Mineralien und Hautcremes werden als lebensver- längernd und als Jungbrunnen bewor- ben. Neue Aspekte der Prophylaxe und Therapie des Hautalterns beziehen sich auf die Vitamin A, Vitamin E und Vita- min C (29). Die bisher in Zellkulturen und in Tiermodellen untersuchten positi- ven Effekte von Vitamin C und E als An-

tioxidanzien und partiell als Stimulato- ren der Kollagensynthese konnten in kli- nischen Studien bisher nicht nachgewie- sen werden. Beispielsweise wurde bei ei- ner Überdosierung mit Vitamin E von mehr als 1 000 IU/Tag ein gegenteiliger Effekt mit zunehmender Mortalität be- schrieben (30).

>Orlistat wird zur Behandlung adi- pöser Patienten eingesetzt und ist ein In- hibitor gastrointestinaler Lipasen. Diese Substanz wird auch von Normalgewichti- gen missbräuchlich als Lifestyle-Medika- ment eingenommen (13). Als Nebenwir- kung können Pigmentierungsstörungen, Flatulenz, Stuhlinkontinenz und Rek- tumschmerzen auftreten.

>Sildenafil ist ein Phosphodieste- raseinhibitor, wobei die Wirkung in einer verlängerten Verfügbarkeit des 3’5’-cGMP liegt.Als Nebenwirkung kön- nen Kopfschmerzen, Gesichtsröte sowie Störungen des Farbsehens (Blauschleier) auftreten. Nach der Einführung von Sil- denafil kam es zum Anstieg der Inzidenz der Patientenvorstellungen bei Männern mit der Überweisungsdiagnose Impoten- tia coeundi. Die Zunahme ist durch eine Somatisierung sexueller Dysfunktionen zu erklären (17). Im Vordergrund steht der Wunsch einer somatischen Therapie der sexuellen Dysfunktion, vor dem Hin- tergrund des Mythos, dass nur eine per- fekte Erektion im Normalbereich liegt.

Dem Arzt stellte sich dabei die Frage nach der notwendigen Indikation einer Lifestyle-Medikation: Wo besteht eine normale situationsbedingte Unzuläng- lichkeit und wo eine schwerwiegende Er- krankung? Dies ist besonders bei Silden- afil aufgrund der möglichen Interaktion mit anderen Arzneimitteln und bei Herz- Kreislauf-Erkrankungen einschließlich stattgehabter Komplikationen mit To- desfolge zu beachten.

>Finasterid wird zur Therapie der androgenetischen Alopezie bei Männern eingesetzt. Die Typ-II-5-Alpha-Redukta- se wird in den Haarfollikeln gehemmt und die periphere Umwandlung von Testosteron in das Androgen Dihydro- testosteron (DHT) blockiert.Als Neben- wirkung wurden verminderte Libido, vermindertes Ejakulatvolumen und erek- tile Dysfunktion sowie eine Vergröße- rung der Brust beschrieben.

Nach der Einführung von Finasterid im Januar 1999 stellten sich mehr Patien- ten mit körperdysmorphen Störungen (Abbildung) wegen vermeintlichem Haarausfall vor. Hierbei erfolgte der Arzt-Patienten-Kontakt zwecks klarer Absicht einer definierten Wunschme- dikation von Lifestyle-Medikamenten, welche von den Patienten durch Lesen und Vorlage entsprechender Fachinfor- mationen eingefordert wird.

>Botulinumtoxin ist das Neurotoxin des Anaerobiers Clostridium botulinum und hemmt die Acetylcholinausschüt- tung (1) an motorischen und vegetativen Nervenendigungen. 1980 wurde das Bo- tulinum-Neurotoxin Typ A erstmals zu therapeutischen Zwecken des Strabis- mus eingesetzt. Seitdem wurde das In- M E D I Z I N

A

A130 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 317. Januar 2003

Körperdysmorphe Störung: Patient mit ver- meintlichem Haarausfall

(4)

dikationsspektrum deutlich erweitert, einschließlich ästhetischer Indikationen im Gesicht und zur Behandlung der Hy- perhidrose (3). Die auffälligste Entwick- lung in der Dermatologie zeigt derzeit der Behandlungswunsch der Hyperhi- drose auf. Seit der Einführung der Thera- pie der Hyperhidrose (25, 31) mit Botuli- numtoxin ist auch die Schweißbildung ein besonderer Fokus für die Beobach- tung von einer physiologischen Körper- funktion geworden, welche gleichzeitig von den Patienten als körperliche Ano- malie wahrgenommen wird. So wün- schen einige Patienten mit körperdys- morphen Störungen eine Therapie mit Botulinumtoxin als Selbstzahlerleistung.

Für die neue Lifestyle-Venenophilie nach Botulinumtoxin, insbesondere bei körperdysmorphen Störungen mit norm- wertigem, physiologischem Schwitzen und zusätzlich hartnäckiger Forderung der Patienten nach Botulinumtoxin-The- rapie trotz negativer Ergebnisse, schla- gen die Autoren als neue Diagnose die Bezeichnung „Botulinophilie“ vor. In ei- ner Untersuchung unter biopsychosozia- len Gesichtspunkten lag bei 23,1 Prozent der Patienten mit Hautfacharztüberwei- sung wegen Hypyperhidrose an der Hautklinik Erfurt eine Botulinophilie vor. Das Durchschnittsalter der im ersten Quartal 2000 betreuten 13 Patienten be- trug 28,2 Jahre, wobei es sich hauptsäch- lich um weibliche Patienten (84,6 Pro- zent) handelte. Der Therapiewunsch ist dann der Versuch, mithilfe des Botuli- numtoxins ein psychisches Gleichgewicht (2, 6) zu stabilisieren und auf Organebene eine Pseudolösung zu erreichen.

Therapie

Das Einfordern der Therapie mit re- zeptpflichtigen Lifestyle-Medikamenten setzt den Arzt unter emotionalen Druck in der Ambivalenz zwischen Drängen und nicht gegebener Indikation. Beson- ders aufmerksam sollte der behandelnde Arzt bei dramatisierenden und zugleich vagen Symptomschilderungen werden.

Wichtig ist die adäquate Indikationsstel- lung im Vorfeld (3). Wenn bei relativer Indikation die psychischen und physi- schen Störungen gegen den Schaden der Therapie nicht sicher abgewogen werden können, muss der Arzt die Behandlung

ablehnen. Dabei sollten zusätzlich zu den somatischen Gegenanzeigen auch psy- chosomatische Kontraindikationen in den Beipackzetteln berücksichtigt wer- den. Der Verzicht auf einen invasiven Eingriff, wie bei der nicht zugelassenen Therapie der Hyperhidrose mit Botuli- numtoxin, kann oftmals mehr ärztliche Professionalität verlangen als eine quali- tativ hochwertige Dienstleistung.

Eine in jedem Fall gültige oder spezifi- sche Therapie für körperdysmorphe Störungen gibt es bisher nicht (19, 38).

Bei der wahnhaften Form steht die medi- kamentöse Behandlung mit Psychophar- maka und beim nicht wahnhaften Typ ei- ne adäquate Psychotherapie im Vorder- grund der Behandlungsstrategie.

Das Ziel der Therapie kann weniger die vollständige Beseitigung sämtlicher Beschwerden sein. Es sollte vielmehr darin bestehen, den Patienten ernst zu nehmen, Vertrauen zu bilden und zu hel- fen, die Ursache und den Sinn seiner Be- schwerden besser zu verstehen sowie die Konfliktsituation als kausale Grundlage zu thematisieren (33). Auch die gezielte Verringerung der Einnahme von Medi- kamenten und Vermeidung von Opera- tionen sowie seltenere Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen sind ein re- levantes Therapieziel. Eine konfrontati- ve Überprüfung irrationaler Gedanken bezüglich des Defektes ist kontraindi- ziert. Mit verhaltenstherapeutischen Be- handlungsansätzen (24, 37) werden ins- besondere das soziale Vermeidungsver- halten und die Überbewertung des äuße- ren Erscheinungsbildes bearbeitet, sodass eine Umstrukturierung mit Korrektur der Überbetonung der äußeren Erschei- nungsbildes erfolgen kann. Des Weiteren wurden Therapieversuche mit Antide- pressiva, insbesondere SSRI (Serotonin- Wiederaufnahmehemmer) wie Fluvoxa- min oder aber auch Anxiolytika durch- geführt (24, 37). Eine aktuelle Studie weist eine signifikant bessere Wirksam- keit von Clomipramin im Vergleich zu Desipramin bei der körperdysmorphen Störung nach (18).

Im Bereich der dermatologischen Kosmetologie ist bei gesicherter psychi- scher Störung nur selten eine Patienten- motivation zur Einleitung einer Psycho- therapie gegeben. Vorrangiges Ziel ist dann oftmals die Einleitung einer neben- wirkungsarmen Therapie und Verhinde-

rung nicht indizierter, komplikationsrei- cher Therapien. Liegt bei angebotsindu- ziertem Bedarf ein normwertiger Kör- perbefund zugrunde, muss der Behand- lungswunsch bei psychosomatischen Störungen durch den Arzt korrigiert wer- den. Ist ein in der Praxis durchgeführtes Beratungsgespräch nicht ausreichend, kann bei diesen Patienten die Liaison- sprechstunde als adäquates Instrument eingesetzt werden. Insbesondere für je- den praktisch tätigen Kollegen als ent- scheidender Manager der Patienten ist es wichtig, dieses neue psychosomatische Phänomen der körperdysmorphen Stö- rungen bei Wunsch nach Lifestyle-Medi- kation zu kennen und frühzeitig die Ver- dachtsdiagnose zu stellen. Die Prognose bei psychosomatischen beziehungsweise psychiatrischen Erkrankungen ist, wie bei anderen organischen Erkrankungen auch, umso günstiger, je früher Diagno- stik und Therapie begonnen werden.

Verdeckte, nicht diagnostizierte psy- chosomatische und psychiatrische Er- krankungen müssen als nachteilig ange- sehen werden, da sich ungünstige Chro- nifizierungsmechanismen manifestieren können. Die Verordnung von Lifestyle- Medikamenten wird häufig von Patien- ten mit körperdysmorphen Störungen eingefordert. Für den Einsatz von Life- style-Medikamenten gibt es bei der kör- perdysmorphen Störung keine Therapie- grundlage. Es steht die Therapie der psy- chosozialen Störung (Psychotherapie, Psychopharmaka) im Vordergrund.

Manuskript eingereicht: 24. 4. 2002, revidierte Fassung angenommen: 28. 8. 2002

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2003; 100: A 128–131 [Heft 3]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit303 abrufbar ist.

Anschrift der Verfasser:

Dr. med. habil. Wolfgang Harth Marcus Wendler

Prof. Dr. med. Ruthild Linse

Klinik für Hautkrankheiten des Helios Klinikums Erfurt Nordhäuserstraße 74, 99089 Erfurt

E-Mail: wharth@erfurt.helios-kliniken.de M E D I Z I N

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 317. Januar 2003 AA131

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

sie fast ganz auf die Beteiligung an Rennen, und wenn sie sich doch beteiligten, war es oft mehr ein Entgegenkommengegen die Sportverbände als das ernsthafte Bestreben, einen Sieg

Die US-amerikanische Arz- neimittelbehörde FDA schätzt, dass es sich bei bis zu 25 Pro- zent aller Medikamente, die in Entwicklungsländern vertrie- ben werden, um Fälschungen

zugleich, indem die Lexikon- beiträge nach einem metho- disch einheitlichen Konzept strukturiert sind in: Defini- tion der Belastung/Gefähr- dung, Vorkommen, Berufsbe-

Denn die neuen kleinen Helfer kurieren nicht nur Kranke, sie ver- helfen auch den in ihrem Wohlbe- finden Gestörten zu neuer Lebens- qualität: Frauen, die sich in einer seelischen

In acht Fällen, so Dürr, wurde lediglich eine Biopsie, in zwei Fällen mit LWS-Beteiligung eine Dekom- pression mit und ohne Stabilisation, einmal auch ein

R.: Seit 2002 hat sich die Anzahl Frauen, die für eine landwirtschaftsnahe Aktivität auf dem Betrieb wie zum Bei- spiel Direktvermarktung verantwortlich sind, verdoppelt und

Die Steuerverwaltung prüft zur Zeit eine Reduktion der Anzahl der provisorischen Abrechnungen sowie die Notwendigkeit der Aktualisierung der Rechnungsstellung, ohne

Wenn es später je- doch darum geht, die einzelnen kri- tischen Punkte im Produktionsprozess (v. Übertragung von der Haut auf das Fleisch) im jeweiligen Betrieb abzu- klären, wird