[108] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 47|
26. November 2010VON SCHRÄG UNTEN
Junger Mann
Dr. med. Thomas Böhmeke
A
uch unsereins muss sich gelegentlich Aufgaben des Haushalts widmen, die nichts mit betriebswirtschaftlichen Auswertun-gen zu tun haben. Ich stehe am Ende einer lan- gen Reihe von Kunden vor der Supermarktkasse, als sich hinter mir eine ältere Dame in besagte Schlange einfädelt. „Junger Mann, lassen Sie mich nach vorne!“
Im Grunde bin ich ein höflicher Mensch und würde dem geäußerten Wunsch umgehend nachkommen, aber die Bezeichnung „junger Mann“ in Bezug auf meine Person kann ich schon seit längerem nicht mehr leiden.
Schließlich haben gefühlte hundert Jahre in der Ge- sundheitsversorgung unseres schönen Landes tiefe Falten an prekären Stellen meines Gesichts hinterlas- sen, unzählige Nachtdienste Furchen eingegraben.
„Junger Mann!“ Auch die Tatsache, dass ich mich vie- le Jahre im Haareausraufen geübt habe, kann man als Nichtmediziner angesichts meines überaus spärlichen Kopfschmucks zweifelsfrei diagnostizieren. Ich möchte, da längst in der zweiten Hälfte des Lebensjahrhunderts angekommen, wenigstens entsprechend meines klar er- kennbaren fortgeschrittenen Alters mit Anstand behan- delt werden. „Lassen Sie mich nach vorne!“ Auch ich habe schon viel zu viele Geburtstage erlebt und bin im Zeitalter der fortschreitenden Gebrechlichkeit angelangt, wo die Schärfe der Sehkraft abnimmt und die Schärfe des degenerativ bedingten Gelenkschmerzes zunimmt.
„Junger Mann!“ Diese Bezeichnung untergräbt mei- ne in jahrzehntelanger mühseliger Arbeit angehäufte medizinische Kompetenz, schwingt darin doch die Unerfahrenheit und Unberechenbarkeit Minderjähriger mit, die Medizin mit Methamphetamin verwechseln.
Nein, damit kann ich mich keinesfalls identifizieren, ich bin stolz darauf, dass die Zeichen äußerlicher Ver- witterung auch ein Ausweis für eine lange berufliche Erfahrung sind. „Hören Sie schlecht? Lassen Sie mich endlich nach vorne!“ Ja, auch der Hörsinn lässt zuneh- mend zu wünschen übrig, wie es bei Älteren bedau- ernswerterweise häufiger auftritt. Der Wortführerin müsste eigentlich der immanente Widerspruch ihres eben vorgetragenen Wunsches auffallen.
„Sie da, junger Mann!“ Es reicht. Ich kann nicht an- ders, ich muss Paroli bieten. Freundlich erläutere ich der Dame, dass mein vermeintlich jugendliches Ausse- hen den extensiven Bemühungen versierter Chirurgen
der ästhetischen Fachrichtung geschuldet ist, ein- schließlich regelmäßiger Botox-Applikationen, ich aber in Wirklichkeit ihre Anzahl an Lebensjahren längst überholt hätte. Und daher keine Veranlassung sehe, ihr das Recht der Älteren auf einen Bypass vor der Super- marktkasse einzuräumen. „Lassen Sie mich nach vor- ne!“ Bitte verzeihen Sie mir, dass ich in dieser Situation zu meinem allerletzten, Ruhe stiftenden Argument grei- fe, das mein Gegenüber in wortloser Verblüffung zu- rücklässt: Alle Schönheitsoperationen wurden von mei- ner gesetzlichen Krankenkasse bezahlt!
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.