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Archiv "Vom Willen der Welt" (18.02.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Vom Willen der Welt

Vor zweihundert Jahren begann Arthur Schopenhauer zu leiben und zu leiden, weil die Welt es wollte.

Vierzig Jahre brauchte sein Haupt- werk „Die Welt als Wille und Vor- stellung" (1819), bis es als Anre- gung einer neuen Weltanschauung in die Siegesallee der großen Phi- losophen einzog.

Grimmigst gelachte Lacher und titanische Schimpfausbrüche, frugal- ste Fressereien und Junggesellen- weibereien halfen ihm darüber hin- weg, im Berlin des allmächtigen He- gel kein Professor geworden zu sein, und die Mißachtung der Mutter, Schwester und eines gewissen Goe- the, nahezu dreißig Jahre als Privat- gelehrter in Frankfurt leben zu müs- sen, bis ihm endlich später Ruhm seine Rechthaberei zu Selbstsicher- heit erhöhte und messianisches Be- wußtsein entfachte: „Wo zwei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen."

Nichts widersprach seiner Lehre der Weltverneinung besser als seine egoistische, oft brutale und am Ende gar grotesk-eitle Lebensführung.

Vielleicht verzichtete er deshalb auf eine Autobiographie: „ . . ich habe nie gesagt, daß ich ein Heiliger wä- re." Wäre er einer geworden, wäre die Geschichte der Seifenblasen um eine ärmer geworden, denn Heilige schreiben nicht. Bereits an der Schwelle zu seiner Gedankenwelt, der Abhandlung „Über die vierfa- che Wurzel des Satzes vom zurei- chenden Grunde", offenbart sich, daß ihm die Einsicht in Sprache und damit Erkenntnis verschlossen bleibt: „Nichts ist ohne Grund, war- um es sey." Welche banalere Nega- tion spräche die Nichtwelt unklarer aus? Das sophistische Wortspiel mit Ursachenklassen verbirgt das Fehlen einer Definition überhaupt nicht.

Die Zweiteilung in Verstand und Vernunft, gar nützlich für seine Erkenntnistheorie, führt letztlich zur sauberen Beseitigung beider Be- griffe: Beide sollen den Intellekt ausmachen und nur „zusammen"

die Welt begreifen können. Hat nicht manches Tier Verstand und manch Einfältiger Vernunft? Scho- penhauer genügt für die Einsicht in

die materielle Welt (tierischer) Ver- stand und in die immaterielle (ein- fältige) Vernunft.

Urteile setzen sich nach wie vor mit tautologischen Begriffen ausein- ander, die an Sinneseindrücke erin- nern. Erinnerungen entspringen der Wirkungswelt und bedürfen keines Erkenntnisgrundes. Jeder Beweis erübrigt sich für Tautologien. Die Mixtur aus wirkenden Ursachen und Erkenntnisgründen hilft aber, Un- kenntnis wenigstens symmetrisch aufzubauen. Schopis Rückgriff auf

die Geometrie gerät zum vollende- ten Wortwitz um den „Seinsgrund" . Das deutsche Wort „Grund"

bleibt, undefinierbar und vieldeutig wie es ist, etymologisch unerklärbar.

Kein Vernünftiger verknebelt

„Weinbauer" und „Vogelbauer"

zu einem Einheitsbegriff. Bei Platon hat das Wort „Ursache" („logos") vierundsechzig und bei Aristoteles achtundvierzig Bedeutungen; es heißt vor allem schlicht „Wort".

Nur wenn ich zwei Sachverhalte mit meinem Urteil verknüpfe, darf ich

„Grund" oder „Ursache" ausspre- chen — ansonsten gerate ich in die Mythologie, wo man Gott ganz lo- gisch die letzte Ursache nennt.

Schopenhauer mythologisiert den „Willen" ins Ungeheure, indem er aus ihm die letzte Ursache, den Urgrund beider Welten, der wirk-

lichen und metaphysischen gestaltet, ständig die menschliche Handlung mit der Abstraktion des Willens ver- wechselnd. Er verfälscht das menschliche Bewußtsein, denn der Wille handle nach Motiven. Motiva- tion sei etwas total anderes, nämlich

„Kausalität von innen gesehen".

Was das auch bedeuten mag, Schopi tat's dem Willen zuliebe, seinem grundlosen Gott.

Gehört der Wille aber nicht zur Vorstellungs- oder Erscheinungs- welt wie das Motiv zur Ursache?

Wer zieht dem Unangenehmen nicht das vor, was er sich angenehm vor- stellt? Bei der Wahrnehmung stellt der Leib den leidenden Teil: Die Sinne erleiden Wirkungen von au- ßen. Beim Handeln geschieht das- selbe, bloß umgekehrt: Die Umwelt leidet. Die Umwelt regt unter dem Namen „Motiv" an zu handeln. In der endlosen Ursachenkette unter- scheidet sich die Handlung durch das Zwischenglied des eigenen Lei- bes. Es gelingt mir nicht, hier das mythische Wort „Ursache" zu ver- meiden, wohl aber „innere Kausali- tät".

Während ein Leidensdruck bei gewohnten Wahrnehmungen fehlt und damit ein Namen für ihn, be- herrscht Gefühl die Handlung und hat auch einen Namen: Wollen. Zur Erklärung der Welt eignet sich das Wollen nicht, denn Gefühl erhellt keinen Begriff, Ganzdunkel erhellt nicht Halbdunkel.

Wozu also noch Schopenhauer lesen? Weil er Descartes abhängt:

„Volo ergo sum" , selbst wenn er nur mystisch zu faszinieren versteht:

„Die Verneinung des Willens ist der einzige Fall von Willensfreiheit."

Logisch, daß daraus die Philosophie des Unbewußten und andere Zau- berlehren vom innersten Wesen des Menschen hervorgingen! Nur sollte der Philosoph beim Kopfsprung ins Innere den Kopf oben behalten, denn die Sprache diktiert das Den- ken. Wie leicht vermischen sich Phi- losophie und Mythologie, doch die Sprache läßt sich von den rhetori- schen Wortwalzen auch eines Scho- penhauer nicht bezwingen. Der Jar- gon verhindert die Ausbreitung phi- losophischer Sekten. Weltwille?

Dr. med. Harald Rauchfuss A-348 (20) Dt. Ärztebl. 85, Heft 7, 18. Februar 1988

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