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Archiv "Nobelpreisträger in Lindau: Weshalb eigentlich noch?" (03.08.1978)

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DER KOMMENTAR

Wohl keine Veranstaltung ist so oft totgesagt worden wie die Lindauer Nobelpreisträgertagung, deren 28.

(die X. der Mediziner) in der letzten Juniwoche stattgefunden hat. Er- freulicherweise haben sich die Prognosen nie bestätigt. Wir wol- len hoffen, daß gerade diese Ta- gungen das Schicksal aller fälsch- lich Totgesagten teilen und nun ganz besonders lange leben. Sie gehören nämlich inzwischen zu den wenigen international eta- blierten Versammlungen, die sich der Humanitas in einer ständig be- ängstigenderen Welt bloßer ratio- neller, legalistischer, formalisti- scher Wissenschaften, Politik und Verwaltung verschrieben haben.

Wer diese Versammlungen von Anfang an verfolgt hat, weiß, daß das nicht von ungefähr gekommen ist und daß es gerade die Formali- sten unserer Zeit sind, die dieser Einrichtung am Zeuge flicken.

Ende der vierziger Jahre erdacht und 1950 erstmals von dem da- mals in Lindau lebenden Professor Dr. Gustav Parade sowie dem Lin- dauer praktischen Arzt Dr. Rudolf Heim realisiert, sollten diese Ver- anstaltungen helfen, die deut- schen (medizinischen) Wissen- schaften wieder mit der Welt zu verbinden. In dem Maße, in dem diese Notwendigkeit dann in den Hintergrund trat, entwickelten sich die Nobelpreisträgertagungen zu einer bewußt informellen, nicht auf ein bestimmtes Sachziel aus- gerichteten Zusammenkunft, die die daran interessierten Laureaten selbst außerordentlich zu schät- zen lernten.

Es mag sein, daß sich die Veran- staltungen eine Zeitlang mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit hinzogen. Heute sind sie jedoch längst zu einem essentiell notwen- digen Treffen geworden, das die

Spitzen der naturwissenschaftli- chen Forschung mit Studenten und Assistenten unter dem Si- gnum des Menschlichen, des hu- manitären Denkens vereint, einem Signum, das ja gerade von der kri- tischen Jugend heute mehr denn je angezweifelt wird — nicht in zer- störerischer Absicht, sondern aus den Ungereimtheiten des wissen- schaftlichen, politischen und ad- ministrativen Alltags heraus.

Der langjährige Präsident der No- belpreisträger-Tagungen, Graf Lennart Bernadotte von der Bo- denseeinsel Mainau, sagte es heu- er bei der Begrüßung zum wieder- holten Male: „Gemeinsam mit den Preisträgern haben wir immer wie- der überlegt, ob man die Veran- staltung in eine Fachtagung ver- wandeln sollte. Dabei sind wir er- neut zu der Überzeugung gekom- men: Fachkongresse gibt es wie Sand am Meer. Da würde der eine oder andere Laureat vielleicht auch einmal hinfahren. Sie kom- men aber alle gerade deshalb im- mer und immer wieder, weil es kein Fachkongreß ist."

Die Nobelpreisträger aus aller Welt kommen in der Tat wegen des ein- zigartigen Charakters der Zusam- menkunft, die in vieler Hinsicht freie Assoziationen, Erfahrungen und Bekanntschaften wie keine andere Treffen in unserer Zeit ver- mittelt. Die Laureaten haben auch selbst etwas davon; sie sind nicht nur die Gebenden.

Seit sich die Nobelpreistäger-Ta- gungen in Lindau etabliert haben, hat ihr Presseecho gewaltig zuge- nommen, zumindest in Mitteleuro- pa. Davon haben nicht nur die Wissenschaftler, sondern davon hat auch mancher Politiker profi- tiert. Ihre Begrüßungsansprachen waren oftmals mehr als bloße Freundlichkeit.

So stimmte in diesem Jahre die Begrüßungsansprache des Parla- mentarischen Staatssekretärs im Bundesforschungsministerium, Erwin Stahl, den Chronisten mehr als nachdenklich. Stahl erläuterte bei dieser Gelegenheit das Millio- nenforschungsding seines Hau- ses, das nicht nur medizinische und sozialmedizinische Themen vorsieht. Es soll vielmehr die Struktur des Gesundheitswesens selbst unter die Lupe nehmen.

Hier fehlte auch der Vorwurf nicht, daß dieses gesellschaftspolitische Thema bislang kaum einen Wis- senschaftler reizen konnte. Wes- halb wohl? Oder ist es wirklich nur eine Frage der Forschungsmittel?

Der Chronist verstand das im Klar- text etwa so, daß man mit wissen- schaftlichen Mitteln den Struktu- ren, dem System des Gesundheits- wesens an den Kragen will, nach- dem es mit plebiszitären Metho- den nicht gelungen ist. Gesagt hat das Erwin Stahl natürlich nicht. In- des, wenn im Rahmen staatlicher Auftragsforschung haufenweise Millionengelder verteilt werden, erwartet der Staat doch wohl si- cher Ergebnisse, die sein politi- sches Credo stützen. Und das beunruhigt einen heute mehr denn je, weil hinter den Ergebnissen der staatlichen Auftragsforschung im- mer mehr das bloße legalistische, formalistische Prinzip Platz zu greifen scheint, das das Menschli- che total ignoriert — auch wenn's Auftraggeber und Akteure anfangs gar nicht so hätten haben wollen.

Mit einem aktuellen Beispiel aus der Welt des kleinen Mannes kom- men wir auf diesen geradezu be- ängstigenden Verlust des Mensch- lichen noch zu sprechen.

Zum anderen bieten die Lindauer Tagungen der wissenschaftlichen Jugend und den Nobelpreisträ- gern Kontaktmöglichkeiten, die immer mehr in den Vordergrund der Treffen gerückt sind. Diese Treffen mit Assistenten und Stu- denten, also mit den jungen Skep- tikern, Zweiflern und Idealisten, werden eine Woche lang bei vielen Gelegenheiten gefördert. Sie sol-

Nobelpreisträger in Lindau:

Weshalb eigentlich noch?

1776 Heft 31 vom 3. August 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Die Information:

Bericht und Meinung

Zwei Bildbeispiele für die Ungezwungenheit und für die Intensität der Begegnung der Nobelpreisträger „mit ihresgleichen" und mit der Jugend. Von der jährlichen Nobelpreisträger-Tagung in Lindau geht mehr aus als ein Hauch der großen, weiten wissenschaftlichen Welt, nämlich eine Motivationstransformation, der sich der junge Mensch - Schüler, Student oder Arzt - vielleicht gar nicht bewußt wird Fotos (2): Kemmer

len nicht nur Mißverständnisse klären und wissenschaftliche Fra- gen beantworten, sondern den jungen Leuten gelegentlich auch jenes Schlüsselerlebnis vermit- teln, das ihre weitere Laufbahn prägt und das man längst nicht mehr ohne weiteres findet.

Gewiß, anfangs war es nur ein Hauch der großen, weiten wissen- schaftlichen Welt, der von Lindau aus über das Land wehte. Dann aber wurden die Tagungen zu ei- ner unbewußten Motivationstrans- formation, der sich ein junger Mensch allerdings nie so recht be- wußt wird.

Den Erfolgreichen, den Laureaten vermitteln diese Diskussionen Ein- blicke in die Fragen, Probleme, Zweifel und Ideale der Jugend, die hier nicht— wie sonst überall in der Welt — von Meinungsmachern ver- formt sind.

Nach wie vor stehen natürlich die wissenschaftlichen Beiträge der Laureaten selbst im Mittelpunkt des Geschehens in Lindau. Sie werden einmal von den Medizi- nern, im nächsten Jahre von den Chemikern und dann von den Phy- sikern bestritten. Sie bringen in bunter Reihe und in immer dichte- rer Programmfolge:

> neue Gedanken und Untersu- chungsergebnisse von oftmals großer Tragweite;

Werkstatt-Lectures;

1> Hypothesen und subjektive Stellungnahmen.

Alle diese Beiträge sind maßgeb- lich bestimmt von den erheblichen wissenschaftlichen Möglichkeiten, die ein Nobelpreisträger ante und post festum hat, sowie von seinen weltweiten Kontakten.

Über die Sachbeiträge wird an an- derer Stelle berichtet werden.

Schließlich ist jedes Fachblatt, das etwas auf sich hält, in Lindau ver- treten gewesen. Die Sachbeiträge berühren die ärztliche Tätigkeit am Krankenbett und in der Sprechstunde nicht unmittelbar.

Sie zeigen nur die eine Seite der Veranstaltung, eben die im Fach- blatt referierte. Dadurch wird in- des das humanitäre Credo ver- drängt, das zuerst einmal der Not- wendigkeit dient, die zutiefst hu- manitäre Verpflichtung der Natur- wissenschaften vor den Zweiflern darzulegen.

Da jedoch die eigentlichen Benut- zer der wissenschaftlichen Er- kenntnisse nicht nur Industrie und Wirtschaft, sondern ganz speziell auch Politik und Verwaltung sind, gelten die humanitären Appelle diesen Institutionen in erster Linie.

Der Mißbrauch des naturwissen- schaftlichen Fortschrittes wird nicht allein durch Gesetze und ad- ministrative Auflagen oder durch Schwüre der beteiligten Wissen- schaftler verhindert, sondern vor allem durch weitgehendes Ver-

ständnis einer nicht vom Staat und seiner Exekutive geknebelten Öf- fentlichkeit. In dieser Hinsicht sind die Nobelpreisträgertagungen zu einem unentbehrlichen Forum ge- worden, das freilich nur allzugern überhört wird.

Es ist stets sehr problematisch, politische oder wissenschaftliche Reden über Humanität in den All- tag zu übertragen, den Lieschen Müller und Herr Jedermann erle- ben. Im Großen wird heute mehr humanitäre Pracht entfaltet als je zuvor. Doch hinter der Fassade wurstelt der kleine Mann immer erfolgloser mit der legalistisch und formalistisch alles beherrschen- den Macht, die das Adjektiv

„menschlich" immer weniger nö- tig zu haben scheint. Wer die Menschlichkeit in großen Taten beschwört — sei er nun Politiker oder Wissenschaftler — scheint den Verlust des Menschlichen im Kleinen längst nicht mehr zu be- merken. Vielleicht lechzt er gerade deshalb nur noch nach dem gro- ßen humanitären Wurf. Sobald er jedoch sein Podest verläßt und die Administration das Sagen hat, ist's auch dieses Mal mit dem Mensch- lichen wieder aus.

Noch merkt der fleißige, gesunde, kräftige Bürger nichts von der Kehrseite des administrativen Per- fektionismus. Betroffen sind mei- stens nur Behinderte, die den Staat weiß Gott nicht gefährden.

Dennoch bekommen sie heute mehr denn je die Rücksichtslosig-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 31 vom 3. August 1978 1777

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EISE K) HIVDERS ... ALS AßENDS- 10R.GEK3S

Die Information:

Bericht und Meinung Nobelpreisträger in Lindau

keit der Ämter und ihrer Personen zu spüren, die da glauben, „durch- greifen" zu müssen.

So deckt just der Zufall gerade in Lindau anläßlich besagter Tagung legalistische und formalistische Nuancen auf, die sich sehen las- sen können. Es ist nur ein Baga- tellfall, und in seiner Denkrichtung beileibe nicht nur auf die schöne Inselstadt beschränkt, wo man frü- her auch anders handeln konnte:

Die von jeder Inselstadt bekannte enorme Parkplatznot wird bei rein legalistischer und formalistischer Auslegung unserer so vortrefflich dazu geeigneten Straßenverkehrs- ordnung für den schwer Gehbe- hinderten alsbald zur Falle, auch wenn er Brief und Siegel auf ge- wisse Rücksichtnahmen hat.

Bei diesem Beispiel geht es nicht um ein paar Mark Bußgeld (wer Gehbehinderte begleitet, reiht sie längst in die Kategorie „Test-Un- kosten" ein) und vor allem nicht um Recht oder Unrecht im staats- politisch gefährdenden Sinne. Es geht dabei vielmehr um den höfli- chen, unerbittlichen Ausschluß des Behinderten vom gesellschaft- lichen Leben, sozusagen um die Zurückverweisung in sein Ghetto, das zu verlassen nur unter be- stimmten Auflagen gestattet ist, die er auf Grund seiner Behinde- rung nicht erfüllen kann.

Es klingt schier wie ein Alptraum:

Wer die gesunden, unbehinderten Leute auch nur ein bißchen stört, muß weg. Das kann legal und for- mal sogar gedeckt sein; es ist nur nicht menschlich. Da meint wohl sicher nicht nur der Chronist: Ge- nau das ist miserabelster admini- strativer Stil.

Einen solchen Stil haben nun durchaus nicht die Ämter, die Vor- gesetzten oder die Exekutive zu verantworten. Er geht vielmehr ganz allein aufs Konto der ein- schlägigen Legislative, der vom Volke gewählten Parlamentarier in der Gemeinde, im Bundesland und im Bund schlechthin. Diese Aufga- be, nämlich die politische Supervi- sion des täglichen Geschehens an den zahllosen Synapsen zwischen administrativer Gewalt und dem Bürger, scheint den Volksvertre- tern entglitten zu sein, die so gern große humanitäre Taten tun.

Dieses erschreckende Defizit an politischer Supervision ist im er- wähnten Falle eine Bagatelle, die ja bloß einen Gehbehinderten be- trifft. Aber wenn's heute da schon fehlt, wie wehrlos ist der einzelne dann der Verwaltungsdiktatur aus- geliefert, die ihn eines Tages mit Personenkennziffer und Zentral- datei noch ganz anders an die Kandare nimmt und dann jeden in sein Ghetto verweist? Wäre es in dieser Hinsicht in den letzten Jah-

ren und Jahrzehnten nicht immer schlimmer geworden, wäre besag- te Bagatelle keiner Erwähnung wert. Indes, Jahr für Jahr bekommt die Exekutive mehr Zuwachs an Macht. Sie tut immer nur „ihre Pflicht", heute aber schon mit ganz anderen Mitteln der admini- strativen Gewalt. Vielleicht ist auch die Erinnerung an unsere Vergangenheit bei den Statthal- tern dieser Macht verblaßt. Apro- pos, damit man nicht „mit Ab- sicht" mißverstanden wird: Wo Menschlichkeit fehlt, herrscht noch lange keine Unmenschlich- keit. Die Verwechslung dieser bei- den Begriffe blockiert hierzulande nämlich jede Kritik.

Haben in einer solchen Zeit Nobel- preisträger-Tagungen in Lindau überhaupt noch einen Sinn? Man möchte meinen: erst recht! Die Verantwortung, der sich die Legis- lative nicht nur hierzulande immer mehr zu entziehen scheint, bedarf dringend humanitärer Appelle und ständiger Mahnungen; denn noch immer gibt es anderswo Beispiele, die zeigen, daß man Gesetz, Ord- nung und Menschlichkeit auch im Alltag integrieren kann. Solche Appelle müssen von Wissen- schaftlergremien ausgehen, wie sie anläßlich der Nobelpreisträger- Tagungen zusammenkommen.

Andere Gremien zählen heute nicht mehr.

Dr. Werner Pfeiffer

P-T 0 L

,ErlmeL-4,LD

1778 Heft 31 vom 3. August 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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