„Handeln statt verweigern!”, so das Motto der Bundeshauptversammlung des NAV-Virchow- bundes (27. bis 29. November in Köln). In der öffentlichen Veranstaltung diskutierten unter Leitung von Claus Hinrich Casdorff Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (r.) und Dr.
med. Erwin Hirschmann (1.), Bundesvorsitzender des NAV-Virchowbundes, München.
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Bundeshauptversammlung NAV-Virchowbund '92
„Qualitätseinbußen
sind ab 1993 vorprogrammiert"
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andeln statt verweigern! So gab der NAV-Virchowbund die Losung zur diesjährigen Bundeshauptversammlung und zur öffentlichen Veranstaltung (27. bis 29. November 1992 in Köln) aus. Am Ende der zweitägigen Marathon-Be- ratungen erhielt der Bundesvorstand des NAV-Virchowbundes (Verband der niedergelassenen Ärzte) einen konkreten, eilbedürftigen Hand- lungsauftrag: Unverzüglich nach In- krafttreten des auch bei der Köl- ner Versammlung scharf kritisier- ten „Gesundheits-Strukturgesetzes 1993" will der Verband der niederge- lassenen Ärzte durch eines seiner Mitglieder das Bundesverfassungs- gericht anrufen lassen, um das GSG '93 in jenen Punkten verfassungs- rechtlich überprüfen zu lassen, die nach Meinung der niedergelassenen Ärzte einen verfassungswidrigen Eingriff in das Grundrecht der Be- rufsfreiheit (Art. 12 GG) und in das Eigentumsrecht der niedergelasse- nen Arzte (Art. 14 GG) bedeuten.Der Verband werde die totale Zulas- sungssperre für niederlassungswilli- ge Kassenärzte nicht tatenlos hin- nehmen und auch die ab 1993 wirk- same verschärfte Zulassungsdrosse- lung im ambulanten Bereich über- prüfen lassen. Nach einer geschlage- nen, aus der Sicht des NAV-Vir- chowbundes für die Ärzteschaft ver- lorenen Schlacht könne niemand die Ärzteschaft dazu zwingen, die Ruhe als erste Bürgerpflicht einzuhalten.
Vielmehr müsse in einem Rechts- staat jedes Mittel des Rechtsweges genutzt werden, um verfassungswid- rige Gesetzesbestimmungen zu Fall zu bringen und in einer Sofortnovel- le zu annullieren.
Aus der Sicht des NAV-Vir- chowbundes bleibt für die Ärzte- schaft keine andere Wahl, wenn in einer Art großen Koalition zwischen Gesundheitspolitikern der CDU/
CSU, der FDP und der SPD über die Köpfe der Betroffenen in einem Par- force-Ritt ein politischer Konsens erzwungen werde, der weder sachge- recht noch auf Dauer tragbar sei.
Selbst die Krankenkassen, sonst im- mer eher geneigt, sich mit den politi- schen Parteien und dem Gesetzge- ber gegen die Ärzte zu solidarisie- ren, hätten manche Breitseiten ge-
gen das Seehofer-/Dreßler-Gesetzes- paket abgefeuert.
Zu Beginn der öffentlichen Ver- anstaltung stellte Bundesgesund- heitsminister Horst Seehofer vor den 70 Delegierten und den Gästen apo- diktisch fest: „Das Gesundheits- Strukturgesetz rationiert nicht auf Kosten der Qualität der medizini- schen Versorgung, sondern rationali- siert dort, wo unwirtschaftliche Strukturen die Ausgaben in die Hö- he treiben."
Der Minister repetierte, was er landauf landab und vor einzelnen Ärzte-Veranstaltungen seit Wochen und Monaten kundtat: „1991/92 ist das Ausgabenvolumen in der gesetz- lichen Krankenversicherung doppelt so hoch gewesen wie der Grundlohn- summenanstieg, ohne daß mehr Ge- sundheit damit verbunden wäre. Das Gesundheitswesen finanziert auch eine Menge Unwirtschaftlichkeit.
Die Kostendämpfung und die So- fortbremsung im Gesundheitswesen sind nicht nur eine ökonomische Notwendigkeit, sondern vielmehr auch eine ethische Pflicht."
Der NAV-Virchowbund stellte nicht in Abrede, daß noch einige Ra- tionalisierungspotentiale im ambu- lanten und im stationären Bereich zur Kostendämpfung zu aktivieren wären. Seehofer nannte das Labor, die Röntgenleistungen, die Mehr- fachuntersuchungen, Kuren und an- dere Kostentreibsätze als „Quellen von Unwirtschaftlichkeit". Sein Fi- nanzierungskonzept ist simpel: „Wir müssen Unwirtschaftlichkeit abstel- len und die daraus frei werdenden Mittel für andere notwendige medi- zinische Leistungen umschichten."
Lage im Osten
Die stellvertretende Vorsitzen- de des NAV-Virchowbundes, Dr.
med. Carola Paul, Fachärztin für Allgemeinmedizin aus Eilenburg/
Sachsen, berichtete: Das Arzneimit- telbewußtsein bei den Ärzten in den neuen Bundesländern ist völlig an- ders als bei den Ärzten in den alten Bundesländern; im Osten sind die Sensibilisierung im Arzneimittelbe- reich und der Umgang mit der „flot-
Dt. Ärztebl. 89, Heft 50, 11. Dezember 1992 (23) A1-4271
ten Feder" gewiß kritischer als in den alten Ländern. Eine Arzneimit- tel-Positivliste dürfte bei den Ärzten in den neuen Bundesländern als eine Erleichterung und als eine Entschei- dungshilfe gegenüber dem relativ intransparenten GKV-Arzneimittel- markt empfunden werden. Frau Paul berichtete, daß die Ost-Ärzte heute rund 24 000 neue Arzneimittel in der Feder führten, vor der Wende und Wiedervereinigung seien durch die Staatsmedizin lediglich 2 000 Arznei- mittel vorgegeben worden, von denen nicht alle verordnet werden durften.
Mit Sicherheit seien bei den bü- rokratischen Auflagen des GSG '93, gedeckelten Arzthonoraren, streng vorgegebenen Arzneimittel- und Heilmittelbudgets sowie den ab 1994 wirksam werdenden Arzneimittel-
Richtgrößen und verschärften Wirt- schaftlichkeitsprüfungen Qualitäts- einbußen auch bei der Arzneimittel- versorgung zu erwarten. Wenn ein Arzt durch eine restriktive Malusre- gelung bedroht werde, werde er nicht in jedem Falle das notwendige und zumeist teure Arzneimittel ver- ordnen. Die Auswirkungen des GSG '93 werden die Ärztinnen und Arzte im Osten härter treffen als die Kolle- gen im Westen, prognostizierte Frau Dr. Paul. Für die Kassenärzte in Ost- deutschland sei es ungleich schwe- rer, den Patienten Begründungen für etwas zu geben, das sie selbst kaum durchschauen können.
Für Dr. Carola Paul ist das The- ma der fortbestehenden Polikliniken allerdings nicht der Knackpunkt im Gesundheits-Strukturgesetz. Die derzeit noch bestehenden Poliklini- ken seien keine echte Bedrohung für die niedergelassenen Ärzte und sei- en kein Fremdkörper in einem Über- gangs-Gesundheitssystem. Frau Dr.
Paul: „Tatsache ist, daß die noch be- stehenden Rudimente ehemaliger Polikliniken in Form von staatlichen Ambulatorien im kleinen Stil keiner- lei Bedrohung für die niedergelasse- ne Ärzteschaft darstellen. Diese wer- den von Kommunen oder anderen Trägern finanziert und sind nur so lange haltbar, wie sie ökonomisch tragen." Größere Polikliniken gibt es nach dem Bericht der stellvertreten- den NAV-Virchow-Bundesvorsit- zenden nur noch im Raum Berlin-
Brandenburg. Die noch bestehenden und langfristig auslaufenden Polikli- niken böten noch am ehesten eine Möglichkeit, daß sich ältere Kolle- gen beruflich betätigen können.
In dem vom Bundesvorstand in- itiierten Grundsatzbeschluß zum Gesundheits-Strukturgesetz 1993 werden starre, wenn auch zeitlich be- fristete sektorale Budgetierungen abgelehnt. Starre Budgets schreiben das Schlechte fest, lassen aber das Gute sich nicht entwickeln und be- achten nicht die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Sektoren und die unterschiedlichen Rationali- sierungsfortschritte. Es müsse end- lich zur Kenntnis genommen wer- den, was auch der Rat der fünf Wirt- schaftsweisen im jüngsten Jahresgut- achten festgestellt hat, nämlich daß das Gesundheitswesen ökonomisch gesehen ein Wachstumsfaktor sei. Er wachse exponential und nicht linear.
Das Dogma der verabsolutierten Beitragsstabilität und die strikte An- bindung der Krankheitskosten an das Wachstum der beitragspflichti- gen Entgelte seien nicht haltbar.
Als dringend notwendig erachtet es der Verband, Verbundnetze in der Regie der niedergelassen Ärzte zu schaffen, um mehr Wettbewerb gegenüber dem subventionierten Krankenhaus zu erzielen.
Um Wettbewerbsneutralität zwi- schen ambulantem und stationärem Sektor zu erreichen, müsse das dua- listische Finanzierungssystem auf reine Monistik umgestellt werden.
Dies schließe ein, daß für die Wirt- schaftlichkeitsprüfung im stationä- ren Bereich die gleichen Kriterien wie im ambulanten Sektor ange- wandt werden. Die auch durch das
GSG initiierte stärkere Verzahnung von ambulant/stationär erfordere, so der NAV, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen künftig in die Pla- nungsausschüsse auf Länderebene als „unmittelbar Beteiligte" gemäß Krankenhausfinanzierungsgesetz aufgenommen werden. Der NAV- Virchowbund will auch künftig dia- logbereit bleiben und bei reformge- stalterischen Maßnahmen aktiv mit- wirken, wenn dies mit Sachverstand geschieht und nicht wiederum einsei- tig zu Lasten einer einzelnen Gruppe geht. Dr. Harald Clade
Medica-Gespräch
Run auf
Zulassungen
Einen massiven Anstieg der Kassenzulassungen noch in diesem Jahr erwartet Dr. Rainer Hess, Hauptgeschäftsführer der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Der Grund dafür seien die im Gesundheits-Strukturgesetz ab Ende Januar 1993 geplanten Ein- schränkungen bei der Eröffnung neuer Kassenarztpraxen.
In den letzten fünf Wochen habe eine derartige Antragsflut auf Kas- senzulassungen eingesetzt, daß sich die Zahl der Kassenärzte netto um fünf Prozent erhöhen werde, sagte Hess in einem Gespräch mit Gernot Kettler, Geschäftsführer der Barmer Ersatzkasse (BEK), auf der „Medi- ca" in Düsseldorf zum Thema „Der Arzt-/Ers atzkassenvertrag nach mehr als 60 Jahren — Ende einer so- zialpolitischen Vorreiterschaft? Die Situation des Vertragsarztes nach dem Gesundheits-Strukturgesetz".
Begrenztes Honorarvolumen
Eine solche Nettozunahme wer- de, so Hess, enorme Probleme schaf- fen, da die zusätzlichen Ärzte auf ein begrenztes Honorarvolumen treffen.
Allein in den alten Bundesländern müßten 75 000 Kassenärzte dann den „Honorar-Kuchen" mit mehr als 3 000 neuen Kollegen teilen. Durch die Einschränkung der Wahl des Zu- lassungsortes würden viele Ärzte, die jetzt kurz vor dem Abschluß ihrer Weiterbildung stünden, hart getrof- fen. „Langfristig stimmen die Arzte zwar einer Zulassungsbeschränkung zu, doch durch die zeitgleiche Ein- führung mit der Budgetierung ist jetzt dafür der falsche Zeitpunkt ge- wählt", sagte der KBV-Hauptge- schäftsführer.
„Stillstand bei der Entwicklung des Arzt-/Ersatzkassenvertrages be- deutet Rückschritt," meinte Kettler im Hinblick auf die vorgesehene A1-4272 (24) Dt. Arztebl. 89, Heft 50, 11. Dezember 1992