vor. Dort ist die Einsicht leitend, dass unerträglich gewordenes Leiden ein Ende haben darf und ein Sterben in Würde möglich sein sollte. Der Le- bensschutz wird ferner relativiert, wenn in Konfliktfällen der Schwanger- schaftsabbruch toleriert wird oder wenn das Embryonenschutzgesetz dar- auf verzichtet, überzählige beziehungs- weise verwaiste Embryonen am Leben zu erhalten (etwa durch Zulassung prä- nataler Adoption).
So unterschiedlich diese Beispiele sind, belegen sie doch, dass in beson- ders begründeten Fällen sogar das menschliche Leben selbst in eine Ab- wägung gestellt werden darf. Die Wür- de des Menschseins und das Prinzip, dass der Lebensschutz fundamental ist und im Zweifel stets vorrangig Geltung besitzt, werden dadurch nicht beein- trächtigt. Den Lebensschutz jedoch
„absolut“ setzen zu wollen lässt sich angesichts konkreter Konflikt- und Entscheidungssituationen nicht durch- halten.
Besondere Abwägungsaspekte für frühe embryonale Stadien
Für die frühen embryonalen Stadien, um die es bei der Stammzellforschung geht, hat die Ethik noch besondere Ab- wägungsaspekte zu beachten. So ist zu fragen, ob – angesichts der fließenden Übergänge zwischen Toti- und Pluripo- tenz und der Reprogrammierbarkeit spezialisierter Zellen – die Totipotenz noch ein plausibles, handhabbares Ab- grenzungskriterium bildet. Zudem ist der Embryo nach der Nidation noch viel deutlicher als vorher ein sich selbst entwickelndes Individuum. Indem sich seine Körperachse ausbildet, nimmt er als Individuum „Gestalt“ an; Zwillings- bildung ist nicht mehr möglich. Insofern stellt sich die Frage, ob ganz frühe Em- bryonalstadien vor der Nidation exakt genauso wie der Embryo nach der Nidation geschützt werden müssen. Für diese frühembryonale Phase sollte zwar keine nach unten hin „abgestufte“
Schutzwürdigkeit behauptet werden.
Aber es lässt sich eine etwas größere Ausnahmemöglichkeit vom grundsätz- lich geltenden Lebensschutz und Le- benserhalt vertreten.
Deshalb werden für die Stammzell- forschung die Verwendung verwaister, ohnehin dem Tod ausgelieferter Em- bryonen und theoretisch sogar über- gangsweise eine Reprogrammierung von Zellkernen, bei der ein Abbruch der Entwicklung nach wenigen Tagen er- folgt, ethisch denkbar. Dass darauf bezo- gene Abwägungen legitim sind, begrün- det sich aus den herausgehobenen Zie- len der Stammzellforschung, nämlich der Therapie von Krankheiten, bei de- nen konventionelle Behandlungsmetho- den an Grenzen stoßen. In bestimmten Fällen scheint der alleinige Rückgriff auf adulte Stammzellen heutigem Ermessen zufolge unzureichend zu bleiben.
Das Votum, das die DFG zugunsten der Forschung an embryonalen Stamm- zellen abgab, legte vor allem auf die Forschungsfreiheit Wert. Diese bildet in der Tat einen Kern neuzeitlicher Verfas- sungsprinzipien und ist auch in der EU- Grundrechtscharta tragend. Für die Ab- wägung, die die Forschung an embryo- nalen Stammzellen betrifft, dürfte letzt- lich jedoch dem Menschenrecht auf Ge- sundheit eine noch höhere Aussage- kraft zukommen. Denn der Embryo- nenschutz einerseits und die Gesund- heitsförderung andererseits stehen als vitale, das Leben betreffende Güter in innerem Bezug zueinander. Das Men- schenrecht auf Gesundheit, nämlich das Recht des Einzelnen auf „das erreichba- re Höchstmaß an Gesundheit“, haben Internationale Konventionen kodifi- ziert (Internationaler Pakt für wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Rech- te von 1966 oder die UN-Kinderrechts-
konvention von 1989). Die EU-Grund- rechtscharta fordert ein „hohes Ge- sundheitsschutzniveau“ für die „Durch- führung aller Politiken und Maßnah- men“. Das Recht auf Gesundheit zählt zu jenen Menschenrechten, die staatli- cherseits nach Maßgabe der jeweiligen technischen, ökonomischen und sozial- kulturellen Bedingungen zu fördern sind. Auch auf der Basis einer Ethik der Zukunftsverantwortung, mithin im Blick auf schwere Krankheitsbilder künftig lebender Patienten, ist das Men- schenrecht auf Gesundheit bedeutsam.
Normierende Kriterien und permanente Überprüfung
Es ist argumentativ unvertraut und neu- artig, den Schutz von Embryonen, also ein Schutzrecht einerseits, und das Recht auf Gesundheit als menschen- rechtlichen Anspruch andererseits in einen Ausgleich zu bringen. Vorausset- zung für eine – therapeutischen Zielen dienende – embryonale Stammzellfor- schung müssten normierende Kriterien, permanente Überprüfung und die Mög- lichkeit der Korrektur einmal betrete- ner Forschungspfade sein. Die Gefahr, dass durch diese Forschung die Ethik des Embryonenschutzes oder gar die kulturelle Geltung der Menschenwürde generell ausgehöhlt würde, könnte so abgewehrt werden.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3272–3274[Heft 49]
Literatur
1. Demel S: Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkom- munikation. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1995.
2. Knoepffler N: Menschliche Embryonen und medizin- ethische Konfliktfälle. In: Knoepffler N, Haniel A (Hrsg.): Menschenwürde und medizinethische Kon- fliktfälle. Stuttgart, Leipzig: Hirzel, 2000; 55–66.
3. Kreß H: Menschenwürde vor der Geburt. Grundsatz- fragen und gegenwärtige Entscheidungsprobleme (Präimplantationsdiagnostik; Nutzung von Stammzel- len). In: Kreß H/Kaatsch H-J (Hrsg.): Menschenwürde, Medizin und Bioethik. Münster: LIT, 2000; 11–37.
4. Kreß H: Präimplantationsdiagnostik, der Status von Embryonen und embryonale Stammzellen. In: Zeit- schrift für Evangelische Ethik 2001; 46: 230–235.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. theol. Hartmut Kreß
Universität Bonn, Evangelisch-Theologische Fakultät Abteilung Sozialethik
Am Hof 1, 53113 Bonn E-Mail: hkress@uni-bonn.de T H E M E N D E R Z E I T
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A3274 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 49½½½½7. Dezember 2001
DÄ: Beiträge zu Embryonenforschung
Seit der Veröffentlichung des „Diskussionsent- wurfs zu einer Richtlinie zur Präimplantations- diagnostik“ (DÄ, Heft 17/2000) läuft der Diskurs nicht nur über die Präimplantationsdiagnostik (PID), sondern auch über Embryonenforschung.
Das Deutsche Ärzteblatt hat sich intensiv an die- ser Diskussion beteiligt und die unterschiedlich- sten Stimmen zu Wort kommen lassen. Eine Zu- sammenstellung der Beiträge kann über das In- ternet unter www.aerzteblatt.de abgerufen werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die veröffentlichten Beiträge keineswegs in jedem Fall mit der Meinung der Redaktion decken. Die Diskussion wird in diesem Heft und in weiteren
Heften fortgeführt. DÄ