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Archiv "Sechs Stunden als Notfallpatient: Ein Betrieb, der krank macht" (08.03.2013)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 10

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8. März 2013 A 475

H

eute findet im Lübecker Rat- haus eine Festrede mit Ein- führung in die Ausstellung zum Exil und der Fremdheit im eigenen Land und im Land des Exils statt.

Als Schirmherrin spricht die Litera- turnobelpreisträgerin Herta Müller, selbst Exilantin aus Rumänien. Sie berichtet über ihre Ausreise aus Ru- mänien und die Schikanen der Se- curitate. Meine Frau und ich sitzen in der dritten Reihe.

Nach einigen Minuten überkom- men mich Hitzewellen, und mir wird flau. Das Gesprochene kommt von weiter weg, wird nebulös. Ich beschließe, nicht hinauszugehen, kenne ich ich doch seit Jahrzehnten diese Angstreaktion in Theatern und vollen Sälen, die sich erfahrungsge- mäß im Laufe einer halben Stunde legt. Ich ziehe mir die Strümpfe her - unter, um Kühlung zu haben und auch, um mich zu bewegen.

Als ich erwache, hält meine Frau mich am linken Arm, und eine fest- lich gekleidete Zuhörerin mit blauer Stola hält mich am rechten Arm.

Sie hat mir bereits die Brille abge- nommen und fordert mich auf, aus dem Saal zu gehen, ein Rettungs- wagen sei schon angefordert. Es braucht einen Moment, bis ich ori- entiert bin. Ich kann aus eigener Kraft aufstehen und, wenn auch auf wackeligen Beinen, den Saal ver- lassen. Mir ist flau. Die Dame mit der blauen Stola gibt sich als Neu- rologin zu erkennen. Ich soll mich auf den Rücken und die Beine auf den bereitgestellten Stuhl legen. Sie hockt sich in ihren Röcken neben mich. Trotz der Situation gibt es ei- ne gewisse Komik. Mir fallen Sze- nen aus dem Roman von Thomas Hürlimann „Fräulein Stark“ ein. Ich spüre Durst und Übelkeit. Sie lässt mir ein Glas Wasser bringen. Die SECHS STUNDEN ALS NOTFALLPATIENT

Ein Betrieb, der krank macht

Ein Hausarzt im Ruhestand erleidet einen Schwächeanfall

und wird in die Notaufnahme eines Universitätsklinikums gefahren.

Ein Erfahrungsbericht

Retter treffen ein. Ich fühle mich benommen, bekomme aber alles scharf, fast karikaturenhaft mit. Das abgeleitete EKG ist unauffällig, Blutdruck 130/80. Meine Frau bit- tet mich auch, im Rettungswagen zum Krankenhaus zu fahren. Sie ist äußerst besorgt. Ich kann die Trep- pe im Rathaus mit Armhalte-Eskor- te der beiden Retter hinuntergehen, seitlich in den Rettungswagen ein- steigen und mich auf die mittig platzierte Liege legen. Man reicht mir einen Brechbeutel und erbittet die Krankenversichertenkarte. Wäh- rend der Fahrt ohne Signal werden noch anamnestische Fragen an mich gerichtet. Es liegt eine dünne Schneedecke.

Der Wagen hält in der zugigen Sichtbetonhalle des Universitätskli- nikums Schleswig-Holstein, in der noch mehrere Rettungswagen mit Besatzung einsatzbereit sind. Auf der Liege liegend werde ich in die Notaufnahme gerollt. Hier stehen Betten schon auf dem Flur. Eine Schwester holt ein Bett, in das ich mich nach Aufforderung mit Klei- dung lege. Das Bett wird jetzt in ei- nen Raum geschoben, in dem be- reits Patienten an Überwachungsge- räte angeschlossen sind, die alle laut Pieptöne von sich geben. Die Sicht

Zeichnung: Elke R. Steiner

S T A T U S

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A 476 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 10

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8. März 2013 auf die Nachbarn ist durch mobile

Vorhänge notdürftig versperrt.

Ich fühle mich schläfrig, mir ist leicht übel. Ein Arzt kommt kurz vorbei, fragt mich nach der Vorge- schichte und jetzigen Umständen.

Er kündigt an, mich 24 Stunden mit EKG und automatischem Blut- druckmessen überwachen zu wol- len. Ich erkläre mich einverstanden.

Er komme gleich wieder zu mir, er- scheint aber nicht mehr. Ich werde entsprechend verkabelt. Meine Si - gnale mischen sich jetzt unter das Piepsen der anderen. Eine Braunüle wird in eine Vene meines rechten Unterarms gelegt. Am rechten Ohr- läppchen wird ein Finalgon-Pflaster befestigt, um später besser Kapillar- blut zur Blutgasanalyse gewinnen zu können. Das bleibt hernach trotzdem schwierig, muss zweimal gemacht werden und geht nur unter

„Melken“ des Ohrläppchens. Ve- nenblut wird über die Braunüle ent- nommen, eine Infusion angehängt.

Überraschend, ohne Kommentar

wird mir ein Pappbecher mit Kali- nor-Brause gebracht. Die Lösung schmeckt widerlich süß, verstärkt meinen latenten Brechreiz. Ich mag sie nicht austrinken.

Es vergehen etwa drei Stunden.

Zwischenzeitlich bekomme ich MCP via Braunüle gegen meine Übelkeit. Das Bett ist unbequem.

Das Kopfteil steht zu steil, ich kann es nicht selbst verstellen. Das Per- sonal hat alle Hände voll zu tun.

Insgesamt herrscht trotz des An- drangs ein ruhiger Ton. Meine Frau ist mit dem Auto nachgekommen.

Sie wird nicht zu mir gelassen, weil im Raum und auf dem Flur fortlau- fend Patienten zu versorgen sind.

Im Raum der Notaufnahme, in dem ich links von der offenstehen- den Tür im Bett liege, krampft hin- ter dem Vorhang zu meinem Fuß- ende ein Mann. Er ist bei Bewusst- sein und spricht sehr höflich. Nach vermutlich langjähriger Erfahrung mit seiner Krankheit weiß er offen- bar, was er braucht, um den Anfall zu kupieren. Ich höre von einer

weiblichen Stimme das Wort „Leit- linie“ als Gegenargument und die Aufforderung an ihn, jetzt mal mit dem Zittern aufzuhören. Ich höre über Minuten die Übertragungen des hochfrequenten Körperzuckens auf das Bett. Es hört sich an, als liefe eine Pumpe. Nach vergebli- cher Anwendung der Leitlinien, während Konvulsierender und Therapierende fortwährend mit - einander sprechen, beide Parteien auf ihren Vorstellungen beharrend, bekommt er doch das von ihm von vornherein geforderte Mittel aus der Gruppe der Benzodiazepine, und der Krampf ist nach kurzer Zeit beruhigt.

Zu meiner Linken wird jemand entlassen, das Bett ausgetauscht, und ein alter Herr, der zu Fuß das Zimmer betritt und mir durch eine Vorhanglücke im Vorbeigehen lä- chelnd zunickt, wird aufgenom- men. Das Aufnahmegespräch, das sich auf mehrere nacheinander ihn befragende Pflegepersonen verteilt

und inhaltlich wiederholt, ist kei- nesfalls zu überhören. Der Patient ist einer der stets Dankbaren, die ja sehr viel mit Ergebenheit ertragen, um sich dann doch plötzlich als Notfall zu empfinden und mit unab- weisbarer Bestimmtheit zu jeder Tages- und Nachtzeit die Notfall- station aufzusuchen. Für diesen Menschen ist das Maß jetzt einfach voll, obwohl sich die diagnostizier- te Krankheit (Prostatakrebs, Harn- verhalt und Schlafstörung, bedingt durch sehr häufigen Harndrang) nicht verändert hat. Mein freund- lich-dankbarer Nachbar wird also mit stoischer Ruhe vom Personal aufgenommen, muss aber noch selbst um eine Bettflasche bitten, obwohl er sein durchaus delikates

„Hauptproblem“, die frustran häufi- ge Miktion, mehrfach und mit wohlgewählten Worten, ohne Scheu gegen alle ungefragten Mithörer, schildert. Nachdem auch er verka- belt wurde, gehen auch seine Signa- le nun piepsend in die Geräuschku- lisse ein.

Und in dieser Fabrik, in der auch Patienten eine Rolle spielen, soll ich nun bleiben? In mir keimt ein heftiger Widerwille. Mir geht es besser. Die Übelkeit ist fast weg, und ich fühle mich kräftiger.

Ein junger kardiologischer As- sistenzarzt kommt zusammen mit meiner Frau ins Zimmer. Ich bin besorgt um sie. Sie muss den gan- zen Stress aushalten. Der Arzt ist freundlich, aber nicht wirklich zu- gewandt. Er gehört zu der Generati- on, die auch innerlich, bei äußerlich weggestecktem Gerät, immer ten- denziell auf ihr Smartphone-Dis- play schauen. Er erhebt noch ein- mal meine nahezu leere Anamnese.

Pflegende und Ärzte wirken je et- was verwundert, nahezu ungläubig, wenn ich sage, dass ich keinerlei Medikamente nehme.

Alle Laborwerte, bis auf ein ge- ringfügig unter der Norm liegendes Kalium – daher das Kalinor – und das EKG mit unbedeutendem links- anterioren Hemiblock sowie die Blutdruckwerte sind unauffällig. Er macht noch eine flüchtige körperli- che Untersuchung, die auch keine Auffälligkeiten ergibt und bietet mir einen Platz im Vierbettzimmer zur weiteren Überwachung an.

Meine Frau fragt ihn, ob weitere Untersuchungen nicht auch am Hei- matort gemacht werden können. Er bejaht dies, bleibt aber bei 24 Stun- den stationärer Erstüberwachung.

Gerne unterschreibe ich meine Entlassung gegen ärztlichen Rat. Als Gesunder, als solchen betrachte ich mich immer noch nach dem Kol- laps, kann man in diesem „Gesund- heits“-Moloch nur krank werden.

Die elektronische Geräuschkulisse empfinde ich belastender als meinen langjährigen Tinnitus. Der Arzt macht zügig die Papiere fertig. Gegen 24 Uhr verlassen meine Frau und ich das Krankenhaus und fahren mit un- serem Auto nach Hause. Wir haben Schwierigkeiten, den Ausgang aus dem riesigen Gelände zu finden.

Das gelingt erst nach zweimaligem Wenden und Rückfrage beim Pfört- ner über die Gegensprechanlage an einer der Schranken. Wir sind beide geschafft und froh, zusammen zu

Hause zu sein.

Leonhard Ehlen

Und in dieser Fabrik, in der auch Patienten eine Rolle spielen, soll ich nun bleiben? In mir keimt ein heftiger Widerwille.

S T A T U S

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