Aufgaben und Bedeutung der Autopsie
in der modernen Medizin
Georg Dhom
Aus dem Institut für Pathologie
(Direktor Professor Dr. med. Georg Dhom) der Universität des Saarlandes
Die klassischen Aufgaben der Autopsie sind nach wie vor aktuell: Die Abklärung von Grundkrankheit und Todesursache durch die Autopsie stellt eine permanente Qualitätskontrolle der klinischen Diagnostik und Therapie dar. Sie ist damit auch ein unentbehrliches Mittel zur Ausbildung und Erziehung unserer Studenten und jungen Ärzte. Die Fortschritte der modernen Medizin mit ihren zunehmend aggressive- ren Methoden verlangen eine stetige Kontrolle durch eine hohe Autopsie-Rate. Diese ist in der Bundesrepublik mit nur etwa 10 Pro- zent der Todesfälle eindeutig zu niedrig. Eine Verbesserung der Situa- tion kann nur durch eine gezielte Aufklärungsarbeit gegenüber der ärztlichen und allgemeinen Öffentlichkeit erreicht werden. An die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Pathologischen Institute werden dabei zunehmend höhere Anforderungen gestellt.
Autopsie heute: "tobe or not tobe".
-Dieser etwas reißerische Titel steht über einem Aufsatz in der anglo- amerikanischen Zeitschrift "Human Pathology" vom März 1978. Er spie- gelt eine Diskussion wider, die vor allem in den Vereinigten Staaten im vollen Gange ist, gilt es dort doch, eine Renaissance des Verständnis- ses der Autopsie herbeizuführen.
Von der Frage nach Sinn und Be- deutung der Autopsie sind wir in der Bundesrepublik nicht unberührt ge- blieben, wenn wir sie auch längst nicht in der Schärfe erleben, wie un- sere Kollegen in den Vereinigten Staaten. Die folgenden Ausführun- gen befassen sich nur mit der klini- schen Obduktion, nicht mit den fo- rensischen und Verwaltungs-Sektio- nen. Diese sind gesetzlich geregelt.
Die Aufgaben und Ziele der klini- schen Obduktion aber werden in der Öffentlichkeit, auch zum Teil in der ärztlichen Öffentlichkeit, nicht er- kannt oder unterschätzt.
Die nachfolgenden Ausführungen, ursprünglich konzipiert für einen Kreis von Medizinjournalisten, sol- len daher die aktuelle Situation kurz umreißen. -Worum geht es?
Dazu einige wenige Sentenzen:
1. Die klassischen Aufgaben der Autopsie sind nach wie vor aktuell 1.1 Die Autopsie dient der Abklä- rung von Grundkrankheit und To- desursache. Sie stellt somit eine Qualitätskontrolle der klinischen Diagnose und Therapie dar. Die lrr- tumswahrscheinlichkeit klinischer Diagnosen liegt unverändert bei 40 Prozent (Cincinatti -General Hospi- tal, Prutting 1978); 50 Prozent der aktiven zum Tode führenden Tuber- kulosen unseres eigenen Sektions- materials werden heute zu Lebzeiten nicht diagnostiziert (Seeliger und Gebhard 1978).
ÜBERSICHTSAUFSATZ
1.2 Die Autopsie ist daher nach wie vor ein wichtiges Mittel der Ausbil-
dung, Weiterbildung und Erziehung
unserer Studenten und Ärzte. Am Obduktionstisch werden die Gren- zen ärztlicher Erkenntnis und ärztli- chen Handeins aufgedeckt. Die Aut- opsie ist somit das beste Instrument ärztlicher Selbstkontrolle. Eine hohe Autopsie-Rate einer klinischen Ab- teilung bedeutet immer auch ein ho- hes Maß an Erkenntnisstreben und Mut zur Wahrheit. Der Pathologe ist dabei der Partner des Klinikers, kein selbsternanntes Polizeiorgan.
1.3 Die Autopsie kann eine wichtige Hilfe für die Aufklärung, ja auch zum Trost der Angehörigen sein. Die Mit- teilung des Obduktionsbefundes in geeigneter Form an die Angehöri- gen, am besten das Gespräch des Pathologen mit den Hinterbliebenen ist die wirksamste Form der Aufklä- rung über Leiden und Sterben. Sie schafft Klarheit bei der Frage nach Erbleiden (speziell in der Kinderpa- thologie) und schützt die Hinter- bliebenen vor ungerechtfertigten Selbstvorwürfen.
1.4 Autoptische Befunde können grundlegende Daten für Fragen des Gesundheitsschutzes liefern: "Um- weltpathologie, Environment Patho- logy, Geographische Pathologie"
(Higginson 1977).
.,.. Beispiele: Aufklärung der Ursa- chen der Säuglings- und Mütter- sterblichkeit. Gefährdung durch In- dustrieprodukte: Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen Polyvi-
DEUTSCHES ARZTEBLATT
Heft11
vom13.
März1980
669Autopsie
nyl und Leberkrebs, zwischen As- best und Mesotheliom. Konzentra- tionsmessungen von Schadstoffen in menschlichen Geweben: Schwer- metalle, DDT. Analyse von Verkehrs- unfällen.
2. Die Fortschritte der modernen Medizin verlangen die Kontrolle der diagnostischen und therapeuti- schen Maßnahmen durch die Aut- opsie
Je eingreifender die Maßnahmen werden, um so höher ist die Kompli- kationsrate: "Pathologie der Thera- pie".
Nur mit einer hohen Autopsierate kann das Spektrum möglicher Schä- den mit genügender Sicherheit auf- geklärt werden:
..,.. Beispiele: Tödliche thromboem- bolische Prozesse bei Ovulations- hemmern. Folgen der immunsup- pressiven Therapie. Die irreversible Lungenschädigung nach Schock und Beatmung.
3. Die Autopsie trägt ihren Teil zur Erkennung neuer Krankheitsbilder bei und liefert Grundlagen für die neue Einschätzung alter Beobach- tungen
"Jedes Zeitalter hat seine eigenen Krankheiten". Neue unbekannte Krankheiten treten auf (etwa die Marburg-Krankheit) oder lange ver- schwundene kehren wieder (Diph- therie-Todesfälle im Düsseldorfer Raum).
Die Autopsie ist eine unentbehrliche Hilfe für die Erkenntnis eines "Pan- oramawandels" in der Medizin.
Wenn die Autopsie heute also in der modernen Medizin eine ebenso wichtige, nur thematisch veränderte Rolle zu spielen hat, wie zu Beginn des naturwissenschaftlichen Zeital- ters der Medizin- welche Vorausset- zungen müssen dann erfüllt sein, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden?- Erfüllen wir diese Voraus- setzungen?
..,.. Dazu drei Prämissen
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Vor der Autopsie: Die klinische Information an den Pathologen muß umfassend, die Fragen des Klinikers an den Pathologen sollen formuliertsein. Der zeitliche Abstand zwischen
Tod und Autopsie muß vernünftig kurz und die Leiche sogleich kühl gelagert werden können.
f) Bei der Autopsie: Der Gang einer Autopsie ist weltweit standardisiert.
Je erfahrener jedoch der Patholo- ge ist, um so exakter und besser sind die Befunde. Ziel ist die dem Fall angepaßte "problemorientierte"
Autopsie (Gravanis et al. 1973).
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Nach der Autopsie: Ob die Aut- opsie ihre Ziele erreicht, wird we- sentlich durch das aktuelle Ge- spräch unmittelbar im Anschluß an die Autopsie zwischen dem Kliniker und dem Pathologen am Sektions- tisch entschieden.Das Frage- und Antwortspiel wird um so fruchtbarer, je kompetenter die Gesprächspartner sind. Das Ge- spräch wird fortgesetzt in der Kli-
nisch-Pathologischen Konferenz.
Hier stehen alle klinischen und mor- phologischen Daten, einschließlich der Spezialuntersuchungen, wie Hi- stochemie, Fluoreszenzmikroskopie oder Elektronenmikroskopie zur Verfügung, so daß alle Gesichts- punkte eines Falles noch einmal auf- gerollt werden können.
Werden in der Bundesrepublik Deutschland die skizzierten Aufga- ben der Autopsie erfüllt? - Wo er- geben sich Hindernisse, wo liegen unsere Fehler?
Eine pauschale Antwort, wie erfolg- reich oder wie schlecht wir in der Lage sind, die gesteckten Ziele zu erreichen, kann man nicht geben.
Hindernisse und mögliche Fehler kann man jedoch beschreiben.
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Die Autopsiefrequenz ist in der Bundesrepublik Deutschland zu niedrig. Einschließlich der forensi- schen Obduktionen dürften nicht670 Heft 11 vom 13. März 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT
mehr als 10 Prozent der Todesfälle obduziert werden. ln Hospitälern mit Pathologischen Instituten schwankt die Zahl (in Hamburg) zwischen 23 und 85 Prozent {Selberg 1976).
f) Die Einstellung der Bevölkerung und oft auch der Behörden zur Aut- opsie ist überwiegend negativ. Ad- ministrative Schwierigkeiten sind die Folge.
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Trotz der Zunahme der Zahl der Pathologen ist die personelle Kapa- zität der Institute für eine wesentli- che Steigerung der Autopsietätig- keit zu gering.0
Unter den jungen Medizinern hat die Tätigkeit im Sektionssaal an At- traktivität verloren; ln den Universi- tätsinstituten verdient man sich sei- ne Sporen schneller im Speziallabor oder am Elektronenmikroskop.Die Obduktion wird daher oft bevor- zugt von jüngeren, wenig erfahre- nen Mitarbeitern "erledigt".
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Manche Kliniker schätzen die kontrollierende Tätigkeit des Patho- logen nicht. Andererseits ist es nicht jedem Pathologen gegeben, ein ver- ständnisvoller Partner zu sein.0
Für manchen jungen Stations- arzt ist es einfach lästig, Gespräche mit Angehörigen über eine Obduk- tionserlaubnis zu führen und den Weg in die Pathologie anzutreten.Die Obduktion unterbleibt, oder es findet sich nur ein inkompetenter Gesprächspartner am Sektionstisch ein.
Was muß getan werden?
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Erziehung der Studenten und des jungen ärztlichen Nachwuchses zum Streben nach Wahrheit, in er- ster Linie durch vorzüglich gestalte- te Klinisch-Pathologische Konfe- renzen.f) Die Pathologen selbst müssen al les daran setzen, den hohen in sie gesetzten Erwartungen zu entspre-
chen.
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Aktuelle Medizin Autopsie
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Die Öffentlichkeit und speziell die Verordner und Gesetzgeber müssen über Sinn und Zweck der Autopsie aufgeklärt werden. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, sehen wir uns doch einer Mentalität gegen- über, die den Anspruch des einzel- nen an die Gemeinschaft über- und den Dienst an der Gemeinschaft viel- fach unterbewertet.Wir denken an den Heiligen Franz von Sales, der in seinem Testament bestimmte, man möge seinen Leich- nam den Ärzten übergeben, damit er auch noch nach seinem Tode der Menschheit diene.
Literatur
Burrows, S.: The postmortem examination - scientific necessity or folly? J. A. M. A. 233 (1975) 441- Carter. J. R.: A renascence role of anatomic pathology in modern medicine, Hu- man Path. 8 (1977) 237- Gravanis, M. B., and Rietz. C. W.: The problem-oriented postmor- tem examination and record, Amer. J. clin.
Path. 60 (1973) 522- Higginson, J.: The role of the pathologist in environmental medicine and public health, Amer. J. Path. 86 (1977) 660- Open Forum: A debate on the autopsy: lts quality control function in medicine, Human Path. 5 (1974) 605- Prutting, J.: Autopsies- benefits for clinicians. Amer. J. clin. Path. 69 Suppl., (1978) 223- Seeliger, H., und Gebhard, W.: Die Tuberkulose als Todesursache im klini- schen Obduktionsgut, Med. Weit 29 (1978) 384 - Selberg, W.: Die Pathologischen Institute in der Bundesrepublik Deutschland, Beitr. Path.
159 (1976) 110- Symposium: The Autopsy: A beginning, not an end, Amer. J. clin. Path. 69 Suppl. (1978)
Anschrift des Verfassers: Professor Dr. med.
Georg Dhom
Direktor des Instituts für Pathologie der Universität des Saarlandes 6650 Homburg/Saar
FÜR SIE GELESEN
Cholezystektomie und Kolonkarzinom
Der Dickdarmkrebs nimmt in den westlichen Ländern konstant · an Häufigkeit zu. Die Autoren sind am eigenen Krankengut der Frage nach- gegangen, inwieweit die Cholezyst- ektomie einen Risikofaktor für die Entstehung kalorektaler Karzinome darstellt.
Die Daten von 737 Patienten mit Dickdarmkrebs ohne Cholezystekto- mie wurden denen von 42 Patienten mit Dickdarmkrebs und Cholezyst- ektomie gegenübergestellt.
Für das Dickdarmkarzinom, assozi- iert mit Cholezystektomie, wurden folgende Besonderheiten herausge- arbeitet:
..,. die Krebsmanifestation lag um zehn Jahre früher
..,. die Tumorlokalisation verschob sich nach oral
..,. es zeigte sich ein Trend zum we- niger differenzierten Karzinom.
Als mögliche Ursachen wurden ge- nannt:
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Gemeinsame Ursache von Litho- genität und Karzinom.Es gibt viele Literaturhinweise, die einen Zusammenhang zwischen fett- und eiweißreicher Ernährung und der Entstehung einer Choleli- thiasis einerseits sowie der Entste- hung kolarektaler Karzinome ande- rerseits vermuten lassen.
f) Die Gallenblase als Ort und In- duktor krebsverhütender Mecha- nismen.
Man hat festgestellt, daß nach Cho- lezystektomie die B-und T-Lympho- zyten sowie die allgemeine Antigen- abwehr reduziert sind. Konjugiertes - und damit ungiftiges - Methyl- azooxymethanol wird in der Schleimhaut der Gallenblase zum Teil resorbiert und über die Nieren ausgeschieden. Dickdarmbakterien
672 Heft 11 vom 13. März 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT
dekonjugieren diese Substanz zum kanzerogenen Methylazooxymetha- nol.
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Cholezystektomie als Störfaktor des Gallensäurekreislautes, mit Ver- mehrung kanzerogener Substanzen.Die gefährliche sekundäre Gallen- säure (Desoxycholsäure) ist nach Cholezystektomie relativ vermehrt im Gallensäurekreislauf vorhanden. Die Verlangsamung der Passagezeit des Stuhls, mit Umwandlung der Gallensäuren in andere kanzeroge- ne Substanzen wie Methylcholan- thren, Dimethylhydrazin, Methyl- azooxymethanol, ist möglicherweise auch von Bedeutung. Aloe
Peters, H.; Keimes, A. M.: Die Cholecystekto- mie als prädisponierender Faktor iri der Gene- se des kotorektalen Karzinoms? Dtsch. med.
Wschr. 104 (1979) 1581
Plasmaaustausch- behandlung
bei Glomerulanephritis
Die meisten Formen der Glomerula- nephritis sind durch immunologi- sche Prozesse, entweder durch Ab- lagerung der zirkulierenden Immun- komplexe oder durch die gegen die Niere gerichteten Antikörper be- dingt.
Bei 17 Patienten wurde die Plas- maaustauschbehandlung (Piasma- pherese) parallel zur immunsup- pressiven Therapie durchgeführt: Goodpasture' Syndrom (4), Lupus erythematodes (4), mesangiokapillä- re Glomerulanephritis (2), Glomeru- lanephritis mit gleichzeitiger Leber- zirrhose (2), unspazifische mesan- gioproliterative Glomerulanephritis (3), Glomerulanephritis bei Schoen- lein-Henoch (1 ), Glomerulanephritis bei einer infektiösen Endokarditis (1 ).
Ergebnisse
Goodpasture' Syndrom: Die Lun- genblutung konnte beherrscht wer- den, die Nierentunktion besserte sich bei drei Patienten. [>