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Archiv "Der medizinische Sachverständige im Strafprozeß" (10.02.1977)

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Der Sachverständige ist kein Richter, sondern eigenständiger als die übrigen Beweismittel im Strafprozeß ein selbständiger Helfer bei der Wahrheitsfindung und ein Berater des Richters. Ob man ihn Richtergehilfe nennt, erscheint unwesentlich. Wenn damit eine Abbängigkeit vom Richter bezeichnet werden soll, wäre der Ausdruck irreführend.

Dem Sachverständigen kommt ... aufgrund seiner Sachkunde ein wesentlicher Einfluß auf die Entscheidung zu.

1. Kompetenzkonflikt zwischen Richter und Sachverständigem Die Stellung des medizinischen Sachverständigen im Strafprozeß scheint derzeit in mehrfacher Hin- sicht problematisch. Seit längerem hat sich eine Entwicklung vollzogen, die von beiden Seiten — sowohl von den Medizinern wie von den Juristen

— mit großem Unbehagen, ja mit Arg- wohn betrachtet wird. Die Entwick- lung der Seinswissenschaften, um diesen allgemeinen Begriff zu ver- wenden, insbesondere der Natur- wissenschaften, der Medizin, der Psychiatrie und der Psychologie, ha- ben in immer größerem Umfang zur Heranziehung von Sachverständi- gen in Gerichtsverfahren geführt.

Auf juristischer Seite hat man von einer Inflation der Sachverständi- gen, einem bedenklichen Kompe- tenzverlust des Richters, ja von sei- ner teilweisen Abdankung gespro- chen. Andererseits wird dem Richter vorgehalten, daß er seine Entschei- dungen noch viel zu weitgehend mit sogenannten Alltagstheorien, wis- senschaftlich nicht haltbaren Laien- kenntnissen unter Berufung auf an- fechtbare allgemeine Sätze des so- genannten gesunden Menschenver- standes begründe. Die medizini- schen Sachverständigen fühlen sich z. B. in ihrer Kompetenz bedroht, wenn ein Gericht einem Sachver- ständigen nicht folgt, auch keinen anderen bestellt, sondern ein eige- nes Urteil, etwa über die Frage, ob ein Arzt einen Patienten fehlerhaft behandelt hat, in Anspruch nimmt.

So ist es etwa in dem viel diskutier- ten Urteil des Bundesgerichtshofes

(BGH) vom 22. April 1975 gesche- hen. Das Gericht stellt, ohne daß die gehörten medizinischen Sachver- ständigen das eindeutig bestätigt hatten, hier fest, daß bei der Be- handlung einer Osteomyelitis die beklagte Ärztin schon in einem viel früheren Zeitpunkt nach unange- fochtener medizinischer Erkenntnis eine Radikaloperation hätte vorneh- men müssen. Das Instanzgericht nahm mit Billigung des BGH für sich in Anspruch, durch mehrere schrift- liche Gutachten und wiederholte Anhörung der medizinischen Sach- verständigen selbst eine weitgehen- de Übersicht über die medizinischen Erkenntnisse gewonnen zu haben, die es zu eigenen Schlußfolgerun- gen und zur eigenen Beurteilung der Frage befähige, ob ein Arzt im gege- benen Falle die ihm dem Patienten gegenüber obliegende Sorgfalts pflicht erfüllt habe oder nicht.

Am Beispiel des BGH-Urteils läßt sich das problematische Verhältnis von Richter und medizinischem Sachverständigen gut verdeutli- chen: Der Richter soll eine Entschei- dung treffen, die wesentlich von me- dizinischen Sachfragen bestimmt wird, für die er nicht kompetent ist.

Der medizinische Sachverständige soll seinen Sachverstand in die Ent- scheidung des Prozesses einbrin- gen, er selbst soll es aber hinneh- men, daß ihm ein medizinischer Laie nicht folgt, sondern eine eigene Ent- scheidungskompetenz auch in die- ser Frage für sich beansprucht. Las- sen sich die hier nur beispielhaft und sehr unvollkommen geschilder- ten Kompetenzprobleme zwischen

Der medizinische

Sachverständige im Strafprozeß

Hans-Ludwig Schreiber und Gundula Müller-Dethard

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Der medizinische Sachverständige im Strafprozeß

Richter und medizinischem Sach- verständigen lösen oder wenigstens mildern?

Zur Beantwortung dieser Frage soll kurz die Funktion beschrieben wer- den, die das geltende Strafprozeß- recht den Sachverständigen zu- schreibt; dann soll dem die tatsäch- liche Situation in der Gerichtspraxis gegenübergestellt und abschließend versucht werden, einige denkbare Wege aus dem Dilemma zu erörtern.

Dieses Dilemma kann man vielleicht

— zugespitzt in Anlehnung an eine Formel Eberhard Schmidts — dahin umschreiben, daß bei der Erarbei- tung einer Entscheidung zwei In- stanzen zusammenwirken müssen, die je auf dem Gebiet der anderen, nämlich der Richter auf dem Fach- gebiet des Sachverständigen und der Sachverständige im Bereich der Rechtsbegriffe, in ähnlicher Weise Dilettanten sind.

II. Regelung und Schwierigkeiten des geltenden Rechts

1) Die Regelung der Strafprozeßord- nung ist recht dürftig. Sie ist aber doch insoweit eindeutig, daß der Richter als allein verantwortlicher Entscheidungsträger angesehen wird. Der Bundesgerichtshof cha- rakterisiert die Stellung des Sach- verständigen in einer Entscheidung knapp wie folgt (vgl. BGHSt 7, 239):

„Der Sachverständige ist ein Gehilfe des Richters. Er hat dem Gericht den Tatsachenstoff zu unterbreiten, der nur aufgrund besonders sachkundi- ger Beobachtungen gewonnen wer- den kann, und das wissenschaft- liche Rüstzeug zu vermitteln, das die sachgemäße Auswertung ermög- licht. Der Sachverständige ist jedoch weder berufen noch in der Lage, dem Richter die Verantwortung für die Feststellungen abzunehmen, die dem Urteil zugrunde gelegt werden.

Das gilt nicht nur von der Ermittlung des Sachverhalts, von dem der Sachverständige in seinem Gutach- ten auszugehen hat — den Anknüp- fungstatsachen —, sondern auch von seinen ärztlichen Beobachtungen und Folgerungen. Selbst diese hat der Richter, sogar in solchen Fällen, in denen es sich um besondere wis-

senschaftliche Fachfragen handelt, auf ihre Überzeugungskraft zu prü- fen." (Ganz ähnlich BGHSt 8, 118).

2) Andererseits ist gar nicht zu ver- kennen, daß es der Sachverständige ist, der häufig tatsächlich den Pro- zeß entscheidet. Die „Macht" der Sachverständigen ist — wie bereits eingangs angedeutet — infolge der Fortschritte in Wissenschaft und Technik in den letzten Jahrzehnten außerordentlich gewachsen. Man hat davon gesprochen, daß der Sachverständige sich zum eigentli- chen Entscheidungsproduzenten gemausert habe (Krauß). Zutreffend hat Bockelmann darauf hingewie- sen, daß insbesondere auf dem Ge- biete der Beurteilung der Glaubwür- digkeit von Zeugenaussagen — also dem früher als ureigenstes Gebiet des Richters angesehenen Felde der Menschenbeurteilung — der Richter wesentliche Kompetenzen tatsäch- lich verloren hat. Der Richter ist häu- fig gar nicht in der Lage, die von ihm verlangte Würdigung des Sachver- ständigengutachtens in medizi- nisch-wissenschaftlichen Fachfra- gen selbst vorzunehmen.

Eine neuere Entscheidung des Bun- desgerichtshofs zur Haftung eines Sachverständigen für angebliche Fehler seines Gutachtens (Fall Wei- gand), nimmt dem Sachverständi- gen — ähnlich wie dem Richter — die Haftung für eine fahrlässige Verlet- zung seiner Gutachterpflicht weitge- hend ab. Er führt aus, daß der Sach- verständige, wenn er auch keine richterlichen Funktionen ausübe, doch „als Gehilfe mit besonderer Sachkunde wesentlichen Einfluß auf die Entscheidung gewinnen" kann.

Es ist die Rede von der auf dem Gutachten des Sachverständigen

„mitberuhenden Entscheidung" des Gerichts.

Tatsächlich dürfte gar nicht zu be- streiten sein, daß der Faktor „Sach- verstand" in großem Umfang bei der Erarbeitung gerichtlicher Entschei- dungen an Bedeutung gewonnen hat und noch weiter gewinnen wird.

Peters hat diesen Prozeß in Parallele zum wesentlichen Rückgang des Laienelementes in der Strafrechts-

pflege gesetzt. Wie das Laienele- ment zugunsten des gelehrten Be- rufsrichters zurückgedrängt worden sei, so werde der Trend zur Speziali- sierung auch im Verhältnis Richter/

Sachverständiger weiter wirken.

Angesichts dieser Entwicklung er- geben sich für das gegenwärtige Verhältnis Richter/medizinischer Sachverständiger schwerwiegende Probleme, die wenigstens stichwort- artig genannt werden sollen. Sie las- sen die Frage einer gesetzlichen Neuregelung dringlich erscheinen.

Stellen wir die wesentlichen Fragen zusammen; es sind vier:

• Die Kompetenz des Richters zur Entscheidung darüber, ob über- haupt ein Sachverständiger heran- gezogen werden muß.

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Die Frage der Auswahl des bzw.

der Sachverständigen.

• Die Frage, ob der Richter das Gutachten des Sachverständigen selbständig würdigen und beurtei- len darf.

O Wer darüber zu entscheiden hat, ob — eventuell nach Anhörung eines Sachverständigen — weitere andere Sachverständige herangezogen werden müssen.

> Zunächst die erste Frage:

Nach der Strafprozeßordnung (StPO) liegt es im Ermessen des Richters, darüber zu entscheiden, ob seine Pflicht zur Erforschung der Wahrheit (§ 244 Abs. 2) es erforder- lich macht, einen Sachverständigen heranzuziehen. In den §§ 246 a, 81 u.

87 StPO zählt das Gesetz einige Fälle auf, in denen das Fehlen einer hinreichenden eigenen Sachkunde beim Gericht vermutet und deshalb die Hinzuziehung von Sachverstän- digen vorgeschrieben wird. Im übri- gen liegt in der Tendenz der Recht- sprechung eine wachsende Be- schränkung des richterlichen Er- messens bei dieser Frage.

> Zur zweiten und vierten Frage:

Auswahl des Sachverständigen und Entscheidung, ob weitere Sachver- ständige herangezogen werden müssen:

Nach der Strafprozeßordnung hat der Richter neben dem Ob der Gut-

374 Heft 6 vom 10. Februar 1977 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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achterbestellung, auch über die Auswahl des Sachverständigen zu entscheiden. Auch hier bestehen zur Zeit erhebliche Schwierigkeiten. Für einen Richter ist es kaum möglich zu beurteilen, welcher medizinische Sachverständige etwa auf einem be- sonderen Fachgebiet eine aner- kannte Sachkunde besitzt. Gerichte haben vielfach ihre Hausgutachter, die sie immer wieder heranziehen.

Bei Schuldfähigkeitsgutachten ent- scheidet häufig schon die Auswahl des Gutachters — je nach der Schule, der er angehört — ob eine Exkulpa- tion wahrscheinlich ist oder nicht.

Für die Juristen sei in diesem Zu- sammenhang ergänzend darauf hin- gewiesen, daß nach der Neufassung des § 161 a Abs. 1 Satz 2 StPO im Ermittlungsverfahren die Kompe- tenz zur Auswahl des Sachverstän- digen nun ausdrücklich der Staats- anwaltschaft übertragen ist.

Ebenso wie die Auswahl, stellt die Frage, ob ein Gutachten ausreicht oder ob etwa ein weiterer Sachver- ständiger hinzugezogen werden soll, die Richter vor häufig kaum lös- bare Aufgaben. Die Würdigung des Gutachtens muß notwendig weitge- hend auf eine gewisse Plausibilitäts- kontrolle beschränkt bleiben. Der revisionsrichterlichen Nachprüfung standhaltende Formulierungen las- sen sich relativ leicht finden. Viel- fach werden stereotype Formeln verwandt, wie etwa, daß nach dem überzeugenden Gutachten der Sachverständigen, dem sich das Ge- richt nach eigener Prüfung in vollem Umfang anschließe, eine bestimmte Tatsache feststehe. Wenn das Ge- richt nach § 244 Abs. 4 StPO darüber entscheiden muß, ob die Sachkunde eines Gutachters zweifelhaft ist, ob ein von den Beteiligten angebotener neuer Sachverständiger über For- schungsmittel verfügt, die denen ei- nes früheren Gutachters überlegen erscheinen, so wird es damit genö- tigt, etwa in innermedizinischen Konflikten möglicherweise zwischen zwei Schulen zu entscheiden: eine Aufgabe, mit der es vielfach überfor- dert ist.

> Nun zur dritten Frage:

Zwischen Sachverständigem und

Gericht stehen — um einen modi- schen Ausdruck zu gebrauchen — vielfältige „Sprachbarrieren", die das wechselseitige Verständnis er- schweren. Zutreffend ist von ärztli- cher wie von juristischer Seite auf den Unterschied der herkömmlichen juristischen und medizinischen Denkweise hingewiesen worden.

Unseres Erachtens ist es nicht nur der Unterschied zwischen der Denk- weise des Naturwissenschaftlers und des in normativen, das heißt wertenden Kategorien denkenden Juristen. Vielmehr sind auch die normativen Kategorien beider Berei- che durchaus unterschiedlich.

Das eingangs schon zitierte neue, viel diskutierte Sachverständigenur- teil des Bundesgerichtshofes aus dem vorigen Jahr entscheidet im methodischen Ansatz durchaus in Übereinstimmung mit der ganz herr- schenden Auffassung auf der Ebene des Juristen. Es erklärt die Entschei- dung, ob ein Arzt in einem gegebe- nen Fall seine ihm dem Patienten gegenüber obliegende Sorgfalts- pflicht erfüllt habe, für eine vom Richter selbst zu beurteilende Rechtsfrage. Das Gericht habe sich auch durch schriftliche Gutachten und wiederholte Anhörung von Sachverständigen eine weitgehende Übersicht über die medizinischen Erkenntnisse verschafft, die ihm eine eigene Beurteilung der in juri- stischer Wertung zu entscheidenden Frage ermöglicht habe, ob eine Pflichtverletzung des Arztes vorlie- ge. Für recht unglücklich und ver- fehlt halten wir die allgemeinen, pauschalen Ausführungen zur Stan- dessolidarität der Gutachter, auf die es im übrigen für die zu treffende Entscheidung gar nicht angekom- men wäre. Das Urteil zeigt aber deutlich das Dilemma, in dem sich praktisch das Verhältnis von Richter und Sachverständigen befindet.

III. Welche Lösungsmöglichkeiten wären denkbar?

Welche möglichen Abhilfen sind denkbar?

1. Der Versuch einer Entflechtung der Entscheidungszuständigkeit

zwischen Richter und medizini- schem Sachverständigen würde alle vier oben genannten Fragen betref- fen. Man könnte daran denken, zu diesem Zwecke die Entscheidungs- kompetenz hinsichtlich medizini- scher Fachfragen in verschiedener Gestalt vom Juristen auf den Sach- verständigen zu verlagern.

a) Zunächst käme die Einbeziehung des Sachverständigenelementes in das Gericht selbst in Frage. Das Lo- sungswort lautet hier: „Sachver- ständige auf die Richterbank". Wäh- rend des 43. Juristentages 1960 in München hatte schon Schröder diese Idee zur Diskussion gestellt.

Wie etwa besondere Kammern für Handelssachen, könnte eine beson- dere Instanz mit einem medizini- schen Sachverständigen als Richter eingeführt werden. Auf den ersten Blick scheint das eine geniale Lö- sung zu sein. Das Gericht wäre da- mit selbst sachverständig und könnte sich die von der Rechtspre- chung ja immer verlangte eigene Prüfung medizinischer Fachfragen zutrauen, auch wenn nur ein Mit- glied dieses Spruchkörpers auf die- sem Gebiet besondere Kenntnisse besitzt. Die Bedenken gegen eine solche Lösung überwiegen aber.

Einmal entstehen — in Hinblick auf Art 92 Grundgesetz — verfassungs- rechtliche Schwierigkeiten. Freilich würde, wie das Bundesverfassungs- gericht (NJW 1970, 1227 f) entschie- den hat, die ausschließliche Verwen- dung von rechtsgelehrten Richtern nicht notwendig sein. Angesichts der Verschiedenheit der auftreten- den Sachverständigenfragen dürfte aber die Einrichtung eines solchen Sachverständigengerichts auf un- überwindliche Schwierigkeiten sto- ßen. Bedenken bestehen auch inso- weit, als damit der Sachverstand bei einem, notwendig nicht auf allen medizinischen Gebieten erfahrenen Sachverständigen monopolisiert würde. Der sachverständige Richter würde gar nicht wirklich Sachver- stand auf den einzelnen Gebieten besitzen. Scheidet die Hinzuziehung eines Sachverständigen als Richter aus, so dürfte sich notwendig die erste Frage dahin beantworten, daß die Entscheidung, ob ein Sachver-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Der medizinische Sachverständige im Strafprozeß

ständiger hinzugezogen werden muß, Sache des Gerichtes — das heißt also Sache der juristischen Seite bleiben muß. In der Tat wird sich das nicht umgehen lassen, da die rechtliche Relevanz einer medi- zinischen Frage nur im rechtlichen Gesamtzusammenhang in der Pro- zeßsituation entschieden werden kann.

b) Weiter ließe sich denken, daß eine konkrete Frage von seiten des Ge- richts als entscheidungserheblich herausgearbeitet würde, die dann von einem Sachverständigen-Gre- mium oder auch von einem einzel- nen Sachverständigen bindend ent- schieden würde. Das heißt, das Ge- richt soll nur die für das Urteil aus- schlaggebenden medizinischen Fra- gen bezeichnen. Ihre bindende Ent- scheidung wäre dann Angelegenheit eines Sachverständigen.

Zu fragen wäre hier zunächst, was näher unter einer medizinischen Frage und was unter bindender Wir- kung zu verstehen ist. Medizinische Fragen könnten einmal „rein medi- zinische" Fragen sein, weiter aber auch solche, die mit normativen Im- plikationen — das heißt Wertungen — verbunden sind. Ein Beispiel für letztere, nicht rein durch Darstellung naturwissenschaftlich zu erfassen- der Vorgänge beantwortbare Fragen ist etwa, ob ein Arzt bei einem Ein- griff sorgfaltswidrig gehandelt hat.

Bei solchen Fragen könnte man wie- der nach medizinisch-normativen und juristisch-normativen Katego- rien unterscheiden: Man könnte dem Sachverständigen nur die Be- fugnis zur Mitteilung der aus medizi- nischer Sicht normativen Überzeu- gungen geben, etwa zur Mitteilung, was nach Ansicht des Sachverstän- digen in der Medizin als sorgfalts- widrig gilt. Der Jurist könnte das dann noch einmal an seinen, der Rechtsordnung zu entnehmenden normativen Prämissen messen, etwa ob ein Verhalten auch juristisch als sorgfaltsgemäß gelten kann.

Bei dem hier erörterten Modell hätte bindende Entscheidung medizini- scher Fragen auch alle normativen Implikationen zu umfassen. So

müßte der medizinische Sachver- ständige zum Beispiel die Frage der Sorgfaltswidrigkeit abschließend beantworten, ohne daß der Jurist noch nach eigenen Maßstäben diese Antwort überprüfen könnte. Alles andere wäre gegenüber der bisheri- gen Sachlage keine Veränderung.

Aber auch gegen diese Lösung be- stehen durchgreifende Bedenken.

Die teilweise Entscheidung einer Rechtssache würde damit auf einen Nicht-Richter verlagert. Eine solche Verlagerung wäre im Hinblick auf Artikel 92 Grundgesetz bereits er- heblichen Bedenken ausgesetzt.

Hinzu kommt weiter, daß sehr pro- blematisch wäre, wie das zuständige Gremium, beziehungsweise der zu- ständige Sachverständige bestimmt werden könnte. Eine Auswahl durch den Richter dürfte sich bei dieser Lösung verbieten. Die Bestimmung des maßgeblichen Sachverständi- gen beziehungsweise der maßgebli- chen Sachverständigengruppe wäre auf die nicht hinreichend organisier- te Seite des Sachverstandes verla- gert. Man müßte vielleicht an die Auswahl durch die Ärztekammer oder durch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften denken. Aber auch hier liegen die Einwände nahe:

Wären genügend Neutralität und Objektivität bei der Auswahl garan- tiert?

2. Läßt sich danach eine gänzliche oder teilweise Übertragung der Ent- scheidungszuständigkeit hinsicht- lich medizinischer Fachfragen nicht durchführen, kann also die „Gemen- gelage" nicht beseitigt werden, so kann es nur um die Verbesserung der offenbar unausweichlichen Zu- sammenarbeit gehen.

Sarstedt (NJW 1968 Seite 178) hat zur Beseitigung von Mißständen und Konflikten auf der juristischen Seite den Vorschlag gemacht, die Bestel- lung des Sachverständigen nicht einseitig, etwa durch den Richter oder gar durch den Staatsanwalt im Vorverfahren vorzunehmen, son- dern im Zusammenwirken der ver- schiedenen Beteiligten, unter Anhö- rung auch des Verteidigers, einen Sachverständigen gemeinsam aus-

zuwählen. Dadurch könnten Rei- bungsflächen beseitigt werden. Viel- leicht wäre sogar in dieser Phase an die Anhörung eines den Sachver- stand repräsentierenden Gremiums, gebildet etwa bei der Ärztekammer, zu denken. Einige, aber gewiß nicht entscheidende Mißhelligkeiten könnten so ausgeräumt werden.

Zu erwägen wäre weiter, ob dem Richter von seiten des medizini- schen Sachverstandes Listen der Sachverständigen, die in den jewei- ligen Fachgebieten kompetent sind, zur Verfügung gestellt werden kön- nen. Der Richter wäre dann gehal- ten, von dieser unter medizinisch- fachlichen Kriterien aufgestellten Li- ste einen Sachverständigen heran- zuziehen. Die beliebige freie Aus- wahl unter den Ärzten wäre ihm da- mit versagt.

Ein solches Verfahren setzt freilich eine gewisse Organisation der Sach- verständigenseite voraus. Das müßte, meinen wir, im Interesse der Mediziner liegen: Denn man würde damit dem Element des Sachver- standes einen größeren, selbständi- geren Raum einräumen als bisher.

Die Auswahl des jeweils für den Pro- zeßausgang wesentlichen Sachver- ständigen würde nicht beliebig durch die juristische Seite erfolgen, sondern aufgrund einer Präsenta- tion durch das Sachverständigen- element. Vielleicht würde sich dann ein sachverständiger Facharzt für bestimmte Gebiete entwickeln, ein Arzt, der neben seinen medizini- schen Fachkenntnissen auch Praxis im Umgang mit Gerichten hat.

Über die Frage, ob ein vorliegendes Gutachten ausreicht oder ob ein weiterer Sachverständiger gehört werden muß, hätte dann wieder die richterliche Seite zu entscheiden.

Dabei könnte an eine Beratung durch eine ärztliche Institution — etwa nach dem Vorbild des in Nord- rhein-Westfalen tätigen gerichts- ärztlichen Ausschusses — gedacht werden. Ob der Richter an die Rei- henfolge der auf der Liste genann- ten Sachverständigen gebunden ist.

wäre zu diskutieren. Zu empfehlen wäre das wohl nicht. Bei der Sach-

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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verständigenliste geht es darum, die Beteiligung der Sachverständigen- seite zu verstärken und eine gewisse Objektivierung und den Ausschluß von Zufälligkeiten bei der Auswahl durch den Richter zu vermeiden.

3. Das Problem der Sprachbarrieren beziehungsweise der Verständi- gungsschwierigkeiten zwischen Richter und medizinischem Sach- verständigen wird damit freilich nicht gelöst. Es belastet besonders die unter 3 genannte Frage der ei- genständigen Würdigung und Beur- teilung des Gutachtens durch den Richter. Bleibt die letzte Entschei- dung, das heißt, die Entscheidung darüber, ob überhaupt ein Sachver- ständiger erforderlich ist, und die Entscheidung über die im Gutach- ten behandelte Frage beim Richter, das heißt, wird der Richter nicht an das Gutachten eines — wie auch im- mer ausgewählten — Sachverständi- gen gebunden, so wird sich der Richter als medizinischer Laie mit medizinischen Fachfragen befassen müssen.

Es müßte darum gehen, daß jeden- falls hinsichtlich wichtiger Grundbe- griffe eine gemeinsame „Metaspra- che" entwickelt würde, die gegen- über den beiden Objektbereichen selbständig ist. Der medizinische Sachverständige kann seine Aufga- be für die Rechtsprechung nur erfül- len, wenn er wenigstens in Grundzü- gen die Bedeutung der verwendeten Begriffe kennt. Andererseits muß der Jurist bereit sein, über die rein sprachliche Explikation seiner Be- griffe hinaus, sich den Lebenssach- verhalten und den Methoden ihrer Erfassung durch die medizinische Wissenschaft ernsthaft zuzuwen- den. Das wird sich nicht ohne eine gewisse begrenzte Spezialisierung in der Justiz ermöglichen lassen, die auch in der Gerichtsorganisation ih- ren Ausdruck finden müßte. Etwa könnte die sachliche Zuständigkeit für alle Arztsachen bei einem Spruchkörper konzentriert werden, der Erfahrung gewinnen würde. Der Arzt müßte auch die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Kontrolle ärztli- chen Verhaltens im Interesse der Ärzte selbst durch seine Gutachter-

tätigkeit bei Gericht anerkennen. Er dürfte sich nicht scheuen, für Kolle- gen Nachteiliges zu sagen.

Mit dem Vorwurf von seiten der Juri- sten an die medizinischen Sachver- ständigen, sie seien — so der Bun- desgerichtshof in seinem Sachver- ständigenurteil — noch dem herge- brachten Standesdenken verhaftet, und der empörten Zurückweisung solcher Unterstellungen ist es nicht getan. Man kann den Teufelskreis zwischen mangelndem Verständnis auf seiten der Juristen und Selbst- schutz durch Verweigerung der of- fenen Mitarbeit auf seiten der Medi- ziner nicht durch so pauschale Vor- würfe, wie sie das Urteil des Bundes- gerichtshofes enthält, und nicht durch empörte Zurückweisung durchbrechen. Der Arzt wird seine Mitarbeit bei der Durchsetzung des Rechtes um so weniger direkt oder indirekt verweigern, je mehr er weiß, daß die Vertreter des Rechts seine Handlungssituation und seine Pro- bleme wirklich kennen und ernst nehmen. Der Jurist wird dem medizi- nischen Sachverständigen leichter vertrauen, wenn er weiß, daß der Mediziner Verständnis für die Funk- tion des Juristen auch gegenüber der Praxis der Medizin hat. Was hier weiterführen kann, ist unseres Er- achtens nur umfassende. wechsel- seitige Information. Jurist und medi- zinischer Sachverständiger sind nun einmal unausweichlich zur Zusam- menarbeit verurteilt, da sich ihre beiderseitigen Aufgaben im Straf- prozeß nicht werden trennen lassen.

IV. Fazit

Versuchen wir abschließend eine knappe Umschreibung der Aufga- ben des medizinischen Sachver- ständigen im Strafprozeß. Der Sach- verständige ist kein Richter, sondern eigenständiger als die übrigen Be- weismittel im Strafprozeß ein selb- ständiger Helfer bei der Wahrheits- findung und ein Berater des Rich- ters. Ob man ihn Richtergehilfe nennt, erscheint unwesentlich.

Wenn damit eine Abhängigkeit vom Richter bezeichnet werden soll, wäre der Ausdruck irreführend. Dem

Sachverständigen kommt, wie es

der Bundesgerichtshof in seinem

Urteil zur Klage gegen den Weigand- Gutachter

formuliert hat, aufgrund seiner Sachkunde ein wesentlicher Einfluß auf die Entscheidung zu.

Diese beruht gerade auch auf seiner Mitwirkung.

Man sollte versuchen, die eigenstän- dige öffentlich-rechtliche Funktion des Sachverständigen in einer ande- ren, neuen Formel auszudrücken, die den Begriff des Gehilfen vermei- det. Damit soll nicht verdeckt wer- den, daß der Richter, dem nach der Verfassung die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist, die Verantwor- tung für die Entscheidung in letzter Linie zu tragen hat. Man könnte viel- leicht daran denken, die im Verwal- tungsrecht gebräuchliche Figur des öffentlich-rechtlich Beliehenen her- anzuziehen. Damit ließe sich die den tatsächlichen Verhältnissen ent- sprechende Stärkung, auch der rechtlichen Stellung des Sachver- ständigen, besser zum Ausdruck bringen. Sie würde etwa die von uns vorgeschlagene Beteiligung der Sachverständigenseite bei der Aus- wahl des Sachverständigen besser erklären. Aus ihr ließe sich auch die von der Rechtsprechung in Anleh- nung an das Richterprivileg entwik- kelte Haftungsbeschränkung des Sachverständigen für etwaige Feh- ler bei seinem Gutachten erklären.

Eine glatte, alle Schwierigkeiten be- seitigende Lösung ist hier nicht an- zubieten. Sie wäre unseres Erach- tens auch eine unzulässige Simplifi- kation.

Literatur

1. Arbab-Zadeh, Des Richters eigene Sachkun- de und das Gutachterproblem im Strafprozeß, NJW 1970, 1214 — 2. Bockelmann, Strafrichter und psychologischer Sachverständiger, GA 1955, 321 ff. — 3. Denemark, Der ärztliche Gut- achter beim Strafgericht, DRiZ 1971, 232 — 4.

Jessnitzer, Der gerichtliche Sachverständige, 5. Auflage, Berlin 1975 — 5. Krauß, Richter und Sachverständiger im Strafverfahren, ZStW 73, 320 ff. — 6. Sarstedt, Auswahl und Leitung des Sachverständigen im Strafprozeß (§§ 73, 78 STPO) NJW 68, 177 ff.

Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. jur. Hans-Ludwig Schreiber Wiss. Ass. Gundula Müller-Dethard Juristisches Seminar der

Georg-August-Universität

Nikolausberger Weg 9 a

3400 Göttingen

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