Hypothermie im Rettungsdienst Ursachen, Symptomatik, Behandlungsmöglichkeiten im Rettungsdienst und in der Klinik
Dr. med.Thorsten Perl
Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin Abteilung Anaesthesiologie II Georg-August-Universität, Göttingen
Fallbeispiel
• Allein lebende Frau (93 Jahre) seit 48 h nicht mehr gesehen worden
• Nachbarn informieren Rettungsdienst
• Wohnungseröffnung
• Befunde:
• GCS 7 (4-2-1)
• Bradyarrhythmie (Hf 40 bpm) AV°III
• Temperatur tympanal < 32°C
Fallbeispiel
• Verdachtsdiagnose:
• Rhythmusstörung
• unklare Bewusstseinsstörung
• Hypothermie
• zentral-neurologisches Geschehen
• Maßnahmen:
• Monitoring, iv-Zugang, Sauerstoff
• Medikation: Atropin 1mg iv., 500ml/h kristalloide Infusion (gewärmt)
• Isolation
• Schonender Transport
Klinischer Verlauf
• Bei Aufnahme übliche Diagnostik
• Labor, Rö-Thorax, EKG
• Intensivmedizinische Überwachung
• Wiedererwärmung mit konvektiver Luftwärmung
• Zunehmende Aufklarung
• Ab 34°C Körperkerntemperatur Sinusrhythmus
• Keine Residuen
Ursachen der Hypothermie
Ursachen: Extreme Klimabedingungen
Ursachen: Extreme Klimabedingungen Ursachen: Ertrinkungsunfälle
Ursachen: Skiunfälle Ursachen: Lawinen
Ursachen: Hochseeunfälle Ursachen: Hochseeunfälle
Ursachen: Trauma Trauma
• Prospektive Studie an 302 Traumapatienten
• Christoph 22, Primäreinsätze
• 49,6% der Traumapatienten hypotherm (< 36°C)
• Risikofaktoren: Einklemmung, Alter > 65 Jahre
• Jahreszeit unabhängig
Helm et al. 1995 Anästhesist 44: 101-107
Ursachen: Erkrankungen
• Immobilität (Alter, Behinderung)
• Vergiftungen
• Alkohol
• Drogen
• Psychiatrische Erkrankung
• Schilddrüsenunterfunktion
• Koma (Blutzuckerentgleisung, ICB, Apoplex)
Ursachen in Göttingen
Milde Hypothermie (> 30°):
•
Polytrauma
Häufigkeit in Göttingen : ca. 50-200 Fälle/Jahr
Moderate und schwere Hypothermie (< 30°C):
•
Alkohol- und Drogenmissbrauch (Erwachsene)
•
Vergiftungen
•
Psychiatrische Erkrankungen
•
Ertrinkungsunfälle (Kinder)
Häufigkeit in Göttingen : ca. 1 bis 4 Fälle /Jahr
Klinik der Hypothermie
Klinische Symptomatik
•Bis 33 °C: Kältegefühl, Kältezittern
•Unter 33°C: Apathie, Somnolenz Zunehmende Muskelstarre Bradypnoe
Bradykardie, Arrhythmien HZV-Abnahme, Zentralisation
•Unter 30°C: Bewusstlosigkeit Atempausen
EKG-Veränderungen (J-Welle)
•Unter 25°: Herz-Kreislauf-Stillstand
Was ist die J-Welle?
• J-Welle oder Osborn-Wave
• Veränderung unmittelbar nach dem QRS-Komplex
• Möglicherweise Hinweis auf drohende Arrhythmien
Einteilung
nach Giesbrecht und Bristow:
•
Milde Hypothermie
(Körperkerntemperatur bis 30°C)
•
Moderate Hypothermie (Körperkerntemperatur 30-25°C)
•
Schwere Hypothermie (Körperkerntemperatur <25°C)
Folgen der Hypothermie
• Erwachsene mit ISS > 25 (Polytrauma)
• 42% Motalität bei Tc < 34°C
• Mortalität steigt mit abnehmender Körpertemperatur
Jurkovich et al 1987 J Trauma 27: 1019-1024 40%
69%
100%
0%
20%
40%
60%
80%
100%
T c < 34°C Tc < 33°C Tc < 32°C M o rtalität
Präklinische Versorgung
• Dran denken!
• Diagnostik:
• Anfassen des Patienten
• 1. Peripher (Hände, Füße)
• 2. Am Rumpf (Rücken, zwischen den Schultern)
• Messung der Körperkerntemperatur
Exkurs 1: Was ist die Körperkerntemperatur?
• Die Körperkerntemperatur ist die in den Körperhöhlen herrschende Temperatur
1.
• Es gibt drei Körperhöhlen:
• Kopf
• Thorax
• Abdomen
1Gebert G, Physiologie als Grundlage der klinischen Medizin. Schattauer Verlag, Stuttgart, 1987 S. 226
Exkurs 2: Wo soll man die Körperkerntemperatur messen?
• Im Rettungsdienst praktikabel und verlässlich sind:
• Gehörgangstemperatur
• Nasopharyngeal
• Rektal
• Ungeeignet sind:
• Axilla
• Mund
Exkurs 3: Wie kann man Temperatur messen?
Quecksilber- oder Flüssigkeitsthermometer
•
Vorteile:
•Billig und einfach.
•
Nachteile:
•Zerbrechen leicht
•Können nicht tief eingeführt werden
•Träge Messung
Exkurs 3: Wie kann man Temperatur messen?
Thermistoren
•In der Anästhesie und Intensivmedizin häufig genutzt.
•Thermistoren sind Halbleiter, deren elektrischer Widerstand mit steigender Temperatur abnimmt.
•Diese Widerstandsänderung ist nicht linear.
Temperatur [°C]
Widerstand[Ohm]
Thermistor
Infrarotthermometer
110°
Infrarotthermometer
•messen die Temperatur über die Infrarotstrahlung, die aus dem Gehörgang abgegeben wird.
•Sie messen jedoch nicht die Trommelfelltemperatur, da der Messwinkel 110°
beträgt.
•Fehleranfällig!
modif. nach Fritz et al. (1996) Anaesthesist 45:1056 Thermometer
Trommelfell
Präklinische Versorgung
Präklinische Versorgung
Rettung, wenn erforderlich:
• Möglichst wenig Bewegung am Patienten verursachen.
• Möglichst horizontale Körperhaltung des Patienten.
• Patient nicht aktiv bewegen lassen (Aufstehen etc.)
• Immobilisation
• Nasse Kleidung aufschneiden und entfernen, um weitere Auskühlung zu verhindern.
Präklinische Versorgung
Milde und moderate Hypothermie ohne Kreislaufstillstand (Körperkerntemperatur > 25°C)
•Sauerstoffgabe
•Monitoring (EKG, NIBP, (SaO2))
•I.v. Zugang, wenn ohne große Probleme möglich
•Intubation wenn erforderlich ohne Medikamente
•Isolation mit Bettdecke
•Keine großen Infusionsmengen mit kalter Infusion verabreichen.
•Transport in die Klinik ohne besondere Hast.
•Notarzt ab Körperkerntemperatur unter 30°C sinnvoll (evtl.
schnell Arrhythmie und Kreislaufstillstand)
Isolation Isolation
Gesamtisolation [clo]
0 1 2 3 4 5 6 7 8
hRC[Wm-2°C-1]
0 2 4 6 8 10 12
Isolation von Luft (0,6 clo)
Isolation mit 1 Baumwolltuch (0,1 clo)
Isolation mit Bettdecke (1,5 clo)
maximale Isolation (2,6 clo) 100 %
80 %
60 %
40 %
20 %
0 %
Wärmeverlust
Isolation mit Gold-Silber-Folie (0,6 clo)
modifiziert nach English M, et al. (1998) AINS 33: 386
Wärmeverluste durch Infusionen
Zusammenhang von Infusionsmenge, Infusionstemperatur und Körpergewicht
Infusionstemperatur Körpergew. 20°C 28°C 33°C
50 kg 2640 ml 5390 ml 15370 ml
55 kg 2900 ml 5930 ml 16910 ml
60 kg 3170 ml 6470 ml 18445 ml
65 kg 3420 ml 7000 ml 19980 ml
70 kg 3700 ml 7545 ml 21520 ml
75 kg 3960 ml 8085 ml 23055 ml
80 kg 4220 ml 8625 ml 24590 ml
90 kg 4750 ml 9700 ml 27670 ml
bei 20°C Infusionstemperatur 52 ml/kg bei 22°C Infusionstemperatur 61 ml/kg bei 28°C Infusionstemperatur 108 ml/kg bei 33°C Infusionstemperatur 307 ml/kg . Infusionsmengepro kg Körpergewicht, die mittlere Körpertemperatur 1°C reduziert:
Aktive Wärmung
λ Aktive Wärmung mit 1000W Strahler λ Gefahr: Verbrennung,
Feuer
Reanimation bei Hypothermie
• Intubation und Beatmung (8-10/min)1
• HDM (50-60/min)1
• Maximal 3 Defibrillationsversuche (meist erfolglos)1
• Suprareningabe hat meist geringeren Effekt1
• Nach Reanimationsbeginn schnell Entscheidung zum Transport unter Reanimation treffen.
• In der Klinik anmelden zur Wiedererwärmung an der Herz-Lungen- Maschine (Information an die THG). Bei Kindern Alter und evtl.
geschätztes Gewicht angeben.
• Reanimationsende erst bei Körperkerntemperatur > 32°C, evtl.
über mehrere Stunden reanimieren
•
• „Nobody„Nobodyis dead untilis dead untilheheisiswarm andwarm anddeaddead!“!“
1Mair (2000) Unterkühlung im Rettungsdienst S. 45-47
Klinische Versorgung
Klinische Versorgung
•
Diagnostik: Messung der Körperkerntemperatur
•
Versorgung:
•Intubation und Beatmung
•Kreislaufstabilisierung
•Volumensubstitution (erwärmte Infusionslösungen)
•Angepasste Sedierung (Propofol, Piritramid)
•Arterielle Druckmessung
•ZVK (V. femoralis)
•Reanimation
•Wiedererwärmung
Ziele bei der Wiedererwärmung
•Kontinuierliche und gut steuerbare Wiedererwärmung
•Einfach durchzuführen
•Schnell einsatzbereit
•Nachprüfbare physikalische Effektivität
•Angepasste Invasivität
•Erfahrung
•Kein Afterdrop (insbesondere unter 30°)
•Hohe Wiedererwärmungsrate ???
Methoden
•Passive Wiedererwärmung des Patienten mit Isolation
•Anwärmung und Anfeuchtung der Atemgase
•Konvektive Luftwärmung
•Wasserbad
•Pleuralavage, Peritoneallavage, Mediastinallavage
•Veno-venöser Bypass
•Herz-Lungen-Maschine
Passive Wiedererwärmung mit Isolation
Vorteile:
•Einfach durchzuführen, schnell einsatzbereit
•Keine Invasivität
•Erfahrung vorhanden
Nachteile:
•Keine steuerbare Art der Wiedererwärmung
•keine aktive Wärmeübertragung
•Afterdrop möglich
Indikation:
•Keine
•(stabile Patienten mit milder Hypothermie (> 30°C) ??)
Konvektive Luftwärmung Konvektive Luftwärmung
Vorteile:
•Einfach durchzuführen, schnell einsatzbereit
•Keine Invasivität
•Erfahrung vorhanden
•Effektive Wärmeübertragung
Nachteile:
•Mäßig gut steuerbare Wiedererwärmungsmethode
•Afterdrop möglich
Indikation:
•Stabile Patienten mit milder Hypothermie (> 30°C)
Veno-venöser Bypass mittels Hämofiltration und Infusionswärmer
Vorteile:
•Einfach durchzuführen, schnell einsatzbereit
•Gut steuerbar, kein Afterdrop
•Geringe Invasivität (Shaldon Katheter statt ZVK)
•Effektive Wärmeübertragung
•Heparinisierung nur mit 10 000 E/d erforderlich
•Erfahrung vorhanden
•Möglichkeit der Giftelimination durch Dialyse oder Hämofiltration
Nachteile:
•Zu invasiv bei milder Hypothermie
Indikation:
•Stabile Patienten mit moderater Hypothermie (25 -30°C)
Göttinger Erfahrungen
• 4 Erwachsene mit veno-venösem Bypass über CVVH und Infusionswärmer bei schwerer Hypothermie wiedererwärmt
• 3 ohne Schaden überlebt
• 1 Todesfall bei reaktivierter chronischer Pankreatitis
Zeit [min]
0 60 120 180 240 300 360 420 480 540 600
Körperkerntemperatur[°C]
25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Verlauf der Körperkerntemperatur
Temperaturverlauf von vier Patienten unter Wiedererwärmung mittels Venö-venösem Bypass über Hämofiltration und Infusionswärmer
Herz-Lungen-Maschine
Herz-Lungen-Maschine
Vorteile:
•Einfach durchzuführen, schnell einsatzbereit
•Höchste erreichbare Wärmeübertragung (bis 10°C/h) , gut steuerbar
•Kein Afterdrop zu Beginn der Wiedererwärmung
•Erfahrung vorhanden
•Oxygenierung und Kreislaufstabilisierung problemlos möglich
Herz-Lungen-Maschine
Nachteile:
•Nur an Zentren mit Kardiochirurgie verfügbar.
•Maximal invasives Verfahren
•Vollheparinisierung nur mit 300 E/kg KG erforderlich (begleitendes SHT nicht auszuschließen), wenn keine heparinisierten Systeme verwendet werden.
•Nach langer Wiedererwärmung an der Herz-Lungen-Maschine ist die Ausbildung einer Blutungsneigung (Thrombozytenfunktionsstörung, Hyperfibrinolyse) und eines SIRS möglich mit erneuter hämodynamischer Instabilität
Indikation:
•Patienten mit hypothermiebedingtem Kreislaufstillstand
•Sehr instabile Patienten mit moderater und schwerer Hypothermie
Göttinger Erfahrungen
• Seit 1988 wurden 10 Kinder mit der Herz-Lungen- Maschine nach Ertrinkungsunfällen wiedererwärmt.
• Alle 10 Kinder hatten einen Kreislaufstillstand
• Durchschnittsalter 2,5 Jahre
• Körperkerntemperatur vor Wiedererwärmung 25,4°C
• Wiedererwärmungsrate 3,5°C/h
Göttinger Erfahrungen
Ergebnisse:
• 2 Kinder verstarben im OP (keine ausreichende Herzfunktion erzielbar)
• 2 Kinder verstarben in den ersten 48 h nach Wiedererwärmung wegen Hirnödem.
• 2 Kinder verstarben nach vielen Tagen auf Intensivstation an Infektionen.
• 1 Kind blieb apallisch
• 2 Kinder haben geringes neurologisches Defizit.
• 1 Kind hat keinen Schaden
Zusammenfassung:
Präklinische Versorgung
• Dran denken!
• Diagnostik: Anfassen des Patienten, Messung der Körperkerntemperatur
• Rettung:
• Möglichst wenig Bewegung am Patienten verursachen.
• Möglichst horizontale Körperhaltung des Patienten.
• Patient nicht aktiv bewegen lassen (Aufstehen etc.)
• Immobilisation
• Nasse Kleidung aufschneiden und entfernen um weitere Auskühlung zu verhindern.
Präklinische Versorgung
•Milde und moderate Hypothermie ohne Kreislaufstillstand (Körperkerntemperatur bis 25°C)
•Sauerstoffgabe
•Monitoring (EKG, NIBP, (SaO2))
•I.v. Zugang, wenn ohne große Probleme möglich
•Intubation wenn erforderlich ohne Medikamente
•Isolation mit Bettdecke
•Keine großen Infusionsmengen mit kalter Infusion verabreichen.
•Transport in die Klinik ohne besondere Hast.
•Notarzt ab Körperkerntemperatur unter 30°C sinnvoll (evtl.
schnell Arrhythmie und Kreislaufstillstand)
Reanimation bei Hypothermie
• Intubation und Beatmung (8-10/min)1
• HDM (50-60/min)1
• Maximal 3 Defibrillationsversuche (meist erfolglos)1
• Suprareningabe hat meist geringeren Effekt1
• Nach Reanimationsbeginn schnell Entscheidung zum Transport unter Reanimation treffen.
• In der Klinik anmelden zur Wiedererwärmung an der Herz-Lungen- Maschine (Information an die THG). Bei Kindern Alter und evtl.
geschätztes Gewicht angeben.
• Reanimationsende erst bei Körperkerntemperatur > 32°C, evtl.
über mehrere Stunden reanimieren
1Mair (2000) Unterkühlung im Rettungsdienst S. 45-47
Innerklinische Wiedererwärmungsstrategie
Milde Hypothermie (>30°C):
•Konvektive Luftwärmung
Moderate Hypothermie (30-25°C):
•Bei Kreislaufstabilität: Veno-venöser Bypass und konvektive Luftwärmung
•Bei hochgradiger Kreislaufinstabilität: Herz-Lungen-Maschine
Schwere Hypothermie (<25°C):
•Mit oder ohne Kreislaufstillstand: Herz-Lungen-Maschine
Zusatzdias
Aktive Anwärmung und Anfeuchtung der Atemgase
Nachteil:
•
Nur minimale Wärmeübertragung möglich, daher indiskutabel als Wiedererwärmungsmethode
Wasserbad
Vorteile:
•Keine Invasivität
•Effektive Wärmeübertragung
Nachteile:
•Extrem unpraktisch
•Monitoringmöglichkeiten und Interventionsmöglichkeiten sind schlecht
•Keine gut steuerbare Wiedererwärmungsmethode
•Afterdrop möglich
Indikation:
•Keine
Pleuralavage,
Peritoneallavage, Mediastinallavage
Vorteile:
•Effektive Wärmeübertragung
•Kein Afterdrop
Nachteile:
•Nicht steuerbar
•Invasiv
•Wenig Erfahrung vorhanden
Indikation:
•Keine
•(Patienten mit hypothermiebedingtem Kreislaufstillstand ohne Möglichkeit eine Herz-Lungen-Maschine einzusetzten)
Messgenauigkeit von Thermistoren
Thermistortemperatur [°C]
28 30 32 34 36 38 40 42
Referenztemperatur[°C]
28 30 32 34 36 38 40 42
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