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Archiv "Brauchen wir eine neue medizinische Ethik?" (05.12.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

EDITORIAL

Brauchen wir

eine neue medizinische Ethik?

Dietrich Rössler

„Ich habe Besseres zu tun", soll jüngst ein Kliniker geant- wortet haben, als er zur Teil- nahme an einer Diskussion über ethische Fragen aufge- fordert wurde. Mancher wird ähnlich denken und die offen- sichtliche Konjunktur des The- mas Ethik für eine Mode hal- ten, die auch wieder vergeht.

Wer so denkt, irrt sich, und dieser Irrtum wäre nicht nur seine Privatsache. Er wäre heu- te geradezu ein Kunstfehler.

Denn der ärztliche Alltag hat sich verändert. Die Aufgaben, mit denen der Arzt heute kon- frontiert ist, sind komplexer und vielschichtiger geworden, und zwar keineswegs nur durch die immer schnelleren

Fortschritte auf rein medizini- schem Gebiet. Komplex und vielschichtig ist die ärztliche Aufgabe heute vor allem da- durch geworden, daß Fragen ganz anderer Art in diese Auf- gaben eingedrungen sind. Das liegt auf der Hand bei den ökonomischen Fragen, die im Alltag ärztlichen Handelns im- mer mehr an Gewicht gewin- nen. Sind wir uns aber wirk- lich schon klar über die Fol- gen dieser Entwicklung? Was bedeutet es eigentlich, wenn bei Erwägungen über die Be- handlung eines Kranken finan- zielle Faktoren berücksichtigt werden müssen? Werden da- durch nicht zentrale Fragen der ärztlichen Ethik berührt?

Daß der Arzt „ohne Ansehen der Person" seine Kranken behandelt, ohne also einen

Unterschied zu machen etwa zwischen hoch und niedrig oder arm und reich oder alt und jung, das gehörte seit je zu den Grundlagen der ärzt-

lichen Ethik und damit zu den Grundlagen des Vertrauens, das dem Arzt von der Allge- meinheit entgegengebracht wird. Sollen aber diese ethi- schen Grundsätze heute nicht mehr gelten? Müssen jetzt doch Unterschiede gemacht werden? Nicht nur die Kosten- frage führt zu solchen Beden- ken. Die Fortschritte innerhalb der Medizin selbst haben Pro- bleme hervorgebracht, für die in der Medizin allein eine Lö- sung nicht mehr gefunden und gar nicht mehr erwartet werden kann.

Die ungeheuere Vermehrung dessen, was an diagnosti- schen oder therapeutischen Maßnahmen möglich gewor- den ist, macht deren selektive Anwendung unvermeidlich.

Aber hat nicht jeder Patient das Recht auf alle in seinem Fall möglichen Maßnahmen, sowohl für die Diagnostik wie für die Therapie? Auch dann, wenn er dieses Recht selbst gar nicht geltend macht oder es nicht geltend machen kann? Und hat also nicht der Arzt die Pflicht, überall gleich und unbegrenzt maximale Maßnahmen anzuwenden?

Sollte denn in einem Fall un- terlassen werden, was im an- deren getan wurde?

Solche Fragen sind immer auch Fragen der ärztlichen Ethik. Sie sind es sicherlich nicht nur, aber sie sind es je- denfalls auch. Daß diese ethi-

schen Fragen oft nicht primär eindeutig auftreten, sondern vielfach im Gewirr anderer Probleme sich verbergen, macht ihre Behandlung nicht leichter. Aber wer soll sie ei- gentlich beantworten? Und wie sollen sie beantwortet werden?

„Medizinische Ethik? Das ma- che ich seit 30 Jahren, und bisher hat sich noch keiner beschwert!" Diese Äußerung stammt angeblich aus dem Munde eines Chefarztes. Sie dokumentiert nicht nur das Unverständnis für das, was sich just seit ungefähr 30 Jah- ren auf diesem Gebiet geän- dert hat, sie macht zudem die Einstellung deutlich, die jede Lösung der heutigen und der künftigen Probleme verhin- dert, und zwar gerade dann, wenn man unterstellt, daß die- se Äußerung nicht borniert und abschätzig gemeint ist, sondern eine ehrliche Über- zeugung wiedergibt. Sicher- lich gilt das, was vor 30 Jah- ren galt, auch heute noch.

Aber es reicht nicht mehr. Die Probleme, mit denen wir heu- te konfrontiert sind, lassen sich einfach nicht aus den überlieferten Grundsätzen klä- ren. Vor allem: Die Prinzipien der Tradition sind heute nicht mehr eindeutig.

Was heißt, beispielsweise, „nil nocere" angesichts eines Be- griffs wie dem der „sozialen Indikation" oder angesichts von therapeutischen Maßnah- men, die aggressiver sind als viele Krankheiten zusammen?

Wie wenig die überlieferte Eh- tik uns instand setzt, mit den aktuellen Problemen fertigzu- werden, zeigt sich in den Fäl- len, die, weil sie sensationell genug scheinen, in den Me- dien und in der Öffentlichkeit

3668 (68) Heft 49 vom 5. Dezember 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

EDITORIAL

verhandelt werden. Die Äuße- rungen von ärztlicher Seite sind da in der Regel zutiefst widersprüchlich. Ärzte finden sich als Sprecher aller Positio- nen und Richtungen. In Ameri- ka haben in den letzten Jah- ren die Baby-Doe-Fälle zu lei- denschaftlichen Diskussionen in der Öffentlichkeit, aber auch unter Ärzten geführt:

schwerst- und mehrfach ge- schädigte Neugeborene, die nur durch wiederholte operati- ve Eingriffe für eine gewisse Zeit an einem leidvollen und schmerzhaften Leben erhalten werden konnten. Sollten diese Operationen durchgeführt werden? Oder durften sie un- terbleiben?

Die eine wie die andere Seite hat sich in diesen Fragen auf Argumente der ärztlichen Ethik berufen — mit Recht, denn die traditionellen ethi- schen Grundsätze bieten hier keine eindeutigen Lösungen.

Nicht anders steht es mit den Fragen, die bei uns in jüngster Zeit unter großem Aufsehen verhandelt wurden: Soll der Arzt aktive Sterbehilfe leisten?

Charakteristisch für diese Dis- kussion ist es ja, daß alle Sei- ten mit dem Anspruch auftre- ten, wesentliche Grundsätze der traditionellen ärztlichen Ethik geltend zu machen.

Ganz offensichtlich haben ge- rade die Fortschritte in der Medizin dazu geführt, daß die ethische Überlieferung für die komplexe und widerspruchs- volle ärztliche Entscheidungs- situation keine eindeutigen Handlungsanweisungen mehr zu geben vermag. Dabei sind die großen Themen der öffent- lichen Diskussion nur die Spit- ze des Eisbergs. Tatsächlich stellt jeder einzelne Fall in ei- ner normalen ärztlichen Praxis heute in vieler Hinsicht ethi-

sche Fragen, deren Antwort nicht mehr wie selbstverständ- lich von der Tradition gege- ben werden kann.

Wir brauchen also eine neue medizinische Ethik. Sie muß nicht ersetzen, was bisher gül- tig war. Aber sie muß es fort- schreiben. Rudolf Gross hat in seinem Vortrag anläßlich der Fortbildungstage in Davos dar- auf aufmerksam gemacht, daß zu diesen neuen Aspekten der medizinischen Ethik ganz we- sentlich eine neue Besinnung auf die ärztlichen Pflichten hinzugehört, daß also die per- sönliche Verpflichtung des einzelnen Arztes dabei ein größeres und noch wachsen- des Gewicht gewinnen wird.

Praktische Fortschritte auf dem Gebiet der Ethik also be- dürfen gemeinsamer Anstren- gungen. Denn solche Fort- schritte werden sich nicht da- durch ergeben, daß etwa Ver- suche unternommen würden, Eindeutigkeit in ethischen Fra- gen durch Bestimmungen oder Verordnungen herbeizu- führen. Im Gegenteil: Am An- fang muß die Einsicht stehen, daß es tatsächlich offene Fra- gen gibt, und daß in vielen Fällen widersprüchliche Mei- nungen sich in der Tat auf gleich gute und ethische Gründe berufen können. Des- halb aber wird es zu Fort- schritten in diesen Fragen nur dann kommen, wenn sie sich aus der eingehenden und sachgemäßen Diskussion, aus der Betrachtung von allen Sei- ten und aus dem Abwägen der Argumente als gemeinsame Überzeugung ergeben kön- nen. Denn der Fortschritt muß darin liegen, daß erreicht wird, was uns fehlt: der Konsens in ethischen Fragen. Fortschritt in diesem Sinn aber beginnt nicht im großen und ganzen.

Er ist nicht von einem öffent- lich inszenierten Meinungs- streit zu erwarten. Wirklicher

Fortschritt beginnt auf diesem Gebiet mit dem Konsens über den Einzelfall. Er beginnt am Krankenbett. Er setzt deshalb zuerst die Bereitschaft voraus, die ethischen Fragen über- haupt und mit Aufmerksam- keit zur Kenntnis zu nehmen und das eigene ethische Urteil zu prüfen. Das ist heute ein unverzichtbarer Teil der ärzt- lichen Aufgabe geworden.

Oder sollten diese Fragen an- deren überlassen werden?

Soll über die medizinische Ethik und über die Grundsät- ze, die künftig Gewicht und Bedeutung dieser Ethik aus- machen, außerhalb der Medi- zin entschieden werden? In der Politik? In den Medien?

Durch die Gerichte? Es wäre tatsächlich ein Kunstfehler, wenn die Ärzte in den ethi- schen Fragen nicht ihre eigen- sten Aufgaben erkennen wür- den. Denn diese Fragen sind ja nicht nur beliebige oder zu- sätzliche Ornamente bei der Behandlung von Kranken. In der Ethik stehen die Gründe für die Vertrauenswürdigkeit des ärztlichen Handelns über- haupt zur Debatte. Von dieser Verantwortung ist kein Arzt dispensiert. In dem Maße, in dem sich diese Einsicht durchsetzt, werden die ethi- schen Probleme aufhören, nur die Themen für extravagante Diskussionsrunden mit oder ohne ärztliche Beteiligung zu sein und statt dessen ihren sachgemäßen Ort gewinnen:

als notwendige und selbstver- ständliche Aspekte aller Auf- gaben des ärztlichen Alltags.

Professor Dr. theol. Dr. med.

Dietrich Rössler Engelfriedshalde 39 7400 Tübingen

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 49 vom 5. Dezember 1984 (69) 3669

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