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Archiv "Medizinische Ethik — weltweit in Gefahr" (17.12.1981)

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Wer hat den hippokratischen Eid im Kopf oder zur Hand?

Oder das Genfer Arztgelöbnis, das auf dem hippokratischen Eid beruht? Beide beschrei- ben die ethischen und rechtli- chen Grundpflichten des Arzt- tums — Werte, die in neuester Zeit weltweit gefährdet er- scheinen.

Eine neuere Edition („Das Genfer Arztgelöbnis und der Hippokratische Eid" von Dr.

Renate Kastenbein-Tölle, Du- ris Verlag Bochum, Leinen 28 DM, Leder 60 DM) macht den englischen Urtext des Genfer Arztgelöbnisses, den offiziellen deutschen und französischen Wortlaut und die geschichtlichen Vorstufen zugänglich. Ein empfehlens- wertes Büchlein für alle, de- nen die ethischen Probleme nicht gleichgültig sind, die der Autor des nebenstehend be- ginnenden Aufsatzes an- spricht.

Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 51 vom 17. Dezember 1981

Medizinische Ethik — weltweit in Gefahr

Wolfgang Furch

In diesem Jahr trat eine „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben"

(DGHS) mit der Forderung nach ge- setzlicher Zulassung eines Gnaden- todes an die Öffentlichkeit. Erläu- ternde Ausführungen der Gesell- schaft, etwa in dem Sinne, daß der Arzt nur das tun dürfe, was der Pa- tient auch wolle — was im Umkehr- schluß bedeutet, daß der Arzt tun müsse, was der Patient von ihm for- dert —, waren geeignet, eine neue Bedrohung ärztlicher Ethik zu ver- deutlichen, die das endgültige Ende hippokratischer Medizin bedeuten könnte.

Weite Kreise der Ärzteschaft begrif- fen diese Bedrohung; der 84. Deut- sche Ärztetag, wie schon zuvor die 59. Hauptversammlung des Marbur- ger Bundes, faßte in Trier einstim- mig (ohne jede Enthaltung) eine Re- solution, die folgenden Wortlaut hatte:

1> „Mit aller Entschiedenheit wendet sich der 84. Deutsche Ärztetag ge- gen die von der Deutschen Gesell- schaft für Humanes Sterben gefor- derte gesetzliche Zulassung eines sogenannten Gnadentodes. Nach Auffassung des Deutschen Ärzteta- ges kann kein Arzt dazu verpflichtet werden, einem Menschen den Wunsch auf Gnadentod zu erfüllen.

Eine solche Forderung würde das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstören. Die Beteili- gung am Gnadentod bedeutet für den betroffenen Arzt die aktive Teil- nahme bei der Hilfe zum Sterben,

also die aktive Tötung eines Men- schen. Dies kann und darf nicht zu einer ärztlichen Aufgabe erklärt werden.

Unberührt davon bleibt die Aufgabe des Arztes, Hilfe beim Sterben zu leisten. Nach Meinung des Deut- schen Ärztetages gehört es zu den selbstverständlichen ärztlichen Auf- gaben, dafür zu sorgen, daß Men- schen in Würde sterben können. Zu- stände, wie Abschieben von Ster- benden in Abstellräume oder Bade- zimmer, sind mit dieser Forderung unvereinbar und werden vom Deut- schen Ärztetag entschieden verur- teilt. Er wendet sich ebenfalls gegen unsinnig lebensverlängernde Maß- nahmen um jeden Preis. Der Deut- sche Ärztetag warnt davor, jede in- tensivtherapeutische Maßnahme — insbesondere Reanimationsversu- che — pauschal als unwürdige Hand- lungen an Sterbenden zu definieren und so die Öffentlichkeit zu verunsi- chern."

Sind die Menschen hier bereits wieder eingelullt?

Diese Resolution fand zwar ein sehr breites Presseecho, jedoch blieb ei- ne öffentliche Reaktion potentieller Patienten völlig aus, wie das weitge- hende Fehlen von Leserbriefen auf diese Pressemitteilungen zeigt. We- nige Menschen in unserer Gesell- schaft scheinen begriffen zu haben, was hier auf sie zukommen könnte.

Der Arzt als „der gefährlichste Mann 2447

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Medizinische Ethik

im Staat", der auf dem Spritzenta- blett, mit dem er ins Krankenzimmer tritt, teils Leben teils Tod austeilt?

Eine Horrorvision als tagtägliche Routine in einem Krankenhaus?

Was muß in diesem Lande gesche- hen sein, daß eine solche Forde- rung, ohne einen Aufschrei der Em- pörung auszulösen, erhoben wer- den kann. Sind die Menschen hier bereits wieder eingelullt von den schönen Wieselworten wie „keiner hat das Recht, einen anderen Men- schen zu quälen" (d. h. den Gna- dentod zu verweigern), „Gnaden- tod", „Selbstbestimmung bis zur letzten Minute" (wie weit ist es da wohl zur Fremdbestimmung, die schließlich Patienten z. B. über 80 Jahren, etwa aus Kostengründen, die Unterbringung auf einer Inten- sivstation verweigern könnte?)?

Schon droht man den Ärzten, wel- che Patiententestamente nicht „voll- strecken" wollen, Strafverfolgung an und hat auch schon ein Schimpf- wort für sie bereit: „selbsternannte Besserwisser".

Daß die DGHS nach der Erklärung des Ärztetages monatelang auf jede öffentliche Erwiderung verzichtete — offensichtlich war es zu schwierig, entsprechende Gegenargumente in die Verharmlosungssprache umzu- setzen —, bedeutete nicht, daß diese Organisation sich nicht wieder un- gerührt zu Wort melden würde, was jetzt erst im Herbst wieder geschah.

I> Nicht von ungefähr war es, daß der Deutsche Ärztetag einen weite- ren Beschluß zur ärztlichen Ethik faßte, der den Mißbrauch medizi- nisch-ärztlicher Kenntnisse für nichtmedizinische Zwecke zum An- laß hatte, und zwar den Mißbrauch medizinischer Kenntnisse bei Folte- rungen, bei der Mitwirkung an Hin- richtungen sowie den Mißbrauch der Psychiatrie für die Disziplinie- rung politisch Andersdenkender.

Sehr schnell stellt sich hier für mich der Bezug her zu dem zwangswei- sen Sterben vieler Menschen in den Jahren 1933 bis 1945, auch wenn die DGHS das Wort „Euthanasie" tun- lichst vermeidet. Dieser Bezug stellt

sich für mich allerdings ganz anders dar, als für Gruppen von politisch weit links stehenden Ärzten, Studen- ten und Mitgliedern anderer „Ge- sundheitsberufe", die die Frage der

„Medizin ohne Menschlichkeit" auf sogenannten Gesundheitstagen dis- kutieren oder durch Anträge in Dele- giertenversammlungen von Landes- ärztekammern einbringen, worüber weiter unten noch zu sprechen sein wird. Bei den Formulierungen der Deutschen Gesellschaft für Huma- nes Sterben ist der Bezug zu der damaligen Zeit zunächst nur ein se- mantischer, aber darum nicht weni- ger aufschlußreich. Damals hießen die das Grauen der Euthanasie um- schreibenden Wieselworte „letzte ärztliche Hilfe" und „sanfter Tod", und die Transportorganisation, die für den Vollzug der Euthanasie sorg- te, nannte sich „Gemeinnützige Krankentransport GmbH".

Heute soll die Tötung durch Ärzte (noch!) freiwillig erfolgen. An der Tatsache, daß der Arzt in beiden Fäl- len ein Tötungsfunktionär wird, än- dert diese Formulierung nichts!

Die eben geschilderten Vorgänge lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Bedrohung ärztlicher Ethik ganz allgemein. Ethische Fragen im Zu- sammenhang mit der ärztlichen Berufsausübung beschäftigen näm- lich zunehmend nationale und inter- nationale ärztliche Gremien, Kon- gresse, ja sogar Fachkongresse. Die Aussagen einiger dieser Veranstal- tungen sollen zusammen mit den wesentlichen Veröffentlichungen zum Thema, die mir zugänglich wa- ren, Grundlage dieser Abhandlung sein.

Neben der eingangs erwähnten 59.

Hauptversammlung des Marburger Bundes und dem 84. Deutschen Ärz- tetag 1981 in Trier, waren das fol- gende Veranstaltungen (an denen ich auch teilgenommen habe):

0 eine ausführliche Diskussion über ethische Probleme in der Dele- giertenversammlung der Landesärz- tekammer Hessen am 4. April 1981, ausgelöst durch einen Antrag der Li- ste „Demokratischer Ärzte" zur Be-

fassung mit der „Medizin ohne Menschlichkeit 1933 bis 1945";

• der internationale Kongreß

„Ethics and Medicine" der „world federation of doctors who respect human life" vom 26. bis zum 28.

September 1980 in Dublin (Irland);

O die Gießener Fortbildungstage für Frauenärzte im Januar 1981, die sich umfassend mit ethischen Pro- blemen im Zusammenhang mit der genetischen Frühdiagnostik in der Schwangerschaft befaßten.

Inanspruchnahme ärztlicher Fähigkeiten für

nichtmedizinische Zwecke

Wir können heute weltweit eine Ge- fährdung bisher unbestrittener ethi- scher Grundpositionen von Ärzten und damit die Inanspruchnahme ärztlicher Fähigkeiten für nichtmedi- zinische Zwecke bei folgenden Pro- blemkreisen beobachten:

0 Der Aufforderung an Ärzte zu akti- ver Euthanasie im In- und Ausland (z. B. DGHS, verschiedene Gerichts- prozesse im Ausland)

O Die Tötung mißgebildeter neu- geborener Kinder („infanticide") durch Verhungernlassen („low calo-

rie diet") in England und den USA Abtreibung auf Wunsch (abortion an demand) in vielen Ländern und neuerdings auch zur Auswahl des gewünschten Geschlechtes des Kin- des (USA, mitgeteilt auf dem Gieße- ner Frauenarztkongreß)

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Beteiligung von Ärzten an Folte- rungen und an der Todesstrafe durch Injektionen („drug injection") O Das Problem der Zwangsernäh-

rung

O Der Mißbrauch der Psychiatrie für nichttherapeutische Zwecke, z. B. in der UdSSR

0 Die vielfältigen Durchbrechungen der ärztlichen Schweigepflicht Spezielle neue Techniken (z. B.

„Retortenbabies") stellen wegen 2448 Heft 51 vom 17. Dezember 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Medizinische Ethik

des rechtlosen Zustandes solcher menschlicher Embryonen, die heute bereits in Kühlboxen „zwischenge- lagert" werden, oder aber wegen der Kombination von menschlichen und tierischen Keimmaterial in der Gen- Forschung (dort wird gemacht, was machbar ist, nur der Gedanke an das cloning von Menschen schreckt noch ein wenig) weitere Herausfor- derungen, an die ethische Grund- substanz unseres Berufstandes.

Von dieser breiten heutigen Bedro- hung ärztlicher Ethik her gesehen, ist es sicher hilfreich, die bisher stärkste Infragestellung ärztlicher Ethik, nämlich die „Medizin ohne Menschlichkeit" in der Zeit von 1933 bis 1945, in die Diskusion mit einzu- beziehen. Ich bin mir über die Schwierigkeiten, als „Nachgebore- ner" versuchen zu wollen, die Ursa- chen der damaligen Verbrechen ge- gen die Menschlichkeit ergründen zu wollen, völlig im klaren. Nur ist es ebenso sicher, daß diese Diskus- sion, die ja heute von bestimmten Gruppierungen bereits geführt wird, nicht diesen allein überlassen wer- den kann.

Eine isolierte Betrachtung dieser Zeit — wie sie etwa die Liste „demo- kratischer" Ärzte in der Hessischen Delegiertenversammlung vom 4.

April 1981 anregen wollte oder wie sie der „Alternative Gesundheitstag 1980", eine Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag in Ber- lin, versucht hat —, ohne die heutige Gefährdung ärztlicher Ethik einzu- beziehen, ist nicht sinnvoll. Die von damals her bis zum heutigen Medi- zinbetrieb gezogenen Parallelen münden für mich ebenso wie für vie- le andere Beobachter allzu schnell in einer Versuchung, die Opfer des Nationalsozialismus für eine zu be- weisende „neue Theorie" zu miß- brauchen. So etwa, wenn z. B. eine durchgehende Linie „Leistungsme- dizin" oder gar eine ungebrochene Linie gleicher Geisteshaltung von ärztlichen Funktionsträgern damals wie heute unterstellt wird. Damit wird eine Linie der Betrachtungs- weise der damaligen Zeit weiterge- zogen, die schon bei Mitsdherlich erkennbar wird, der in der NS-Zeit

wie danach den Arzt in der Gefahr sieht, zu einem reinen „Spezialtech- niker" zu werden und damit seiner hippokratischen Arztfunktion verlu- stig zu gehen.

Ein Lehrstück über die Gefährdung ärztlicher Ethik

Was kann man nun aber aus dieser damaligen furchtbaren Zeit für die heutige Gefährdung ärztlicher Ethik lernen? Hat eine Aufarbeitung die- ser Ereignisse durch die deutsche Ärzteschaft, soweit sie betroffen war, stattgefunden, oder sind die Vorwürfe, die immer wieder erhoben werden (zuletzt von Wuttke-Grone- berg in seinem Buch „Medizin im Nationalsozialismus"), richtig, eine selbstkritische Überprüfung der Rol- le der Ärzte im Dritten Reich habe niemals stattgefunden?

Möglicherweise hat tatsächlich die rückhaltlose Erklärung der Arbeits- gemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern vom März 1949 in Bad Nauheim zum Nürnberger Ärz- teprozeß dazu beigetragen, eine weitere breite Diskussion dieser Zeit in den ärztlichen Gremien überflüs- sig erscheinen zu lassen. Diese Er- klärung, die ganz unter dem Ein- druck des Prozesses stand und Ab- scheu und Verurteilung der Ärzte vor den Verbrechen von Medizinern unmißverständlich zum Ausdruck bringt, stand damit gleichzeitig in der Gefahr, als endgültige und ab- schließende Reflektion der deut- schen Ärzteschaft über diese Zeit betrachtet zu werden.

Ein umfassenderes Nachdenken z. B. darüber, wie es zu dem rigoro- sen Ausschluß jüdischer Ärzte aus der Behandlungstätigkeit kommen konnte, ohne daß es dagegen einen nennenswerten — über mutige Ein- zelproteste hinausgehenden — Wi- derstand der Ärzteschaft gegeben hätte, ist so unterblieben. Auch die wichtige Arbeit des amerikanischen Psychiaters Lifton, der Ärzte inter- viewt hatte, die in der NS-Zeit wichti- ge Funktionen ausgeübt hatten, wä- re einer breiteren Diskussion würdig gewesen. Das Thema Liftons war es nämlich, der Frage nachzugehen,

wie die Erben der stolzesten europä- ischen medizinischen Tradition zu solchen Handlungen fähig werden konnten.

Er stellte fest, daß alle Berufe vor Hitler kapituliert hätten, daß bei den Ärzten nur erschwerend hinzukam, daß durch die Beteiligung an Scheußlichkeiten wie der Euthana- sie diese dadurch eine Art wissen- schaftlichen Anstrich erhielten. Ja durch die Beteiligung der Ärzte wur- de dem damals vorherrschenden fal- schen Biologismus die Möglichkeit gegeben, die Euthanasie als eine Art Therapie am erkrankten Volkskörper darzustellen, eine Interpretation, die oft auch zur Selbstrechtfertigung je- ner Ärzte, die in diese Verbrechen verstrickt waren, dienen mußte. Vie- le Ärzte hätten so dem Nationalso- zialismus die Legitimation für seine Vorhaben geliefert, indem sie auf verschiedenen Wegen, z. B. mit dem Sterilisationsprogramm und dem Euthanasieprogramm, kooperiert hätten, z. B. auch durch die Ausstel- lung entsprechender ärztlicher Be- scheinigungen. Lifton: „Das Töten wurde damals ganz allgemein als ei- ne medizinische Handlung geplant."

Nachdenkenswert ist aber ebenso die Tatsache, daß Ärzte damals ein Gesetz zur Regelung der Euthanasie forderten („Gesetz über die Gewäh- rung der letzten ärztlichen Hilfe bei unheilbar Kranken"), weil sie glaub- ten, nur so Mißbräuche ausschlie- ßen zu können, da die Euthanasie unheilbar Kranker und Geisteskran- ker ja nur auf einem Geheimbefehl Hitlers beruhte. Die Tatsache, daß unzweifelbar Geisteskranke einer solchen „letzten Therapie" zuge- führt werden sollten, war allgemein schon längst akzeptiert. Zitat: „Der Erlaß (Hitlers Euthanasieerlaß) näm- lich erschien uns allen trotzdem rechtsverbindlich". Ein übermächti- ges Legalitätsdenken wird hier sichtbar, so stark, daß es sich über den hippokratischen Eid und das Naturrecht Nr. 1 „Recht auf Leben"

hinwegzusetzen vermochte. Dies z. B. ist eine Erkenntnis, die geeig- net wäre, bei den heutigen Gefähr- dungen ärztlicher Ethik eine wichti- ge Rolle zu spielen!

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 51 vom 17. Dezember 1981 2449

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Medizinische Ethik

Rechtspositivismus ist letzten Grenzen unterworfen

Sehr wesentlich, weil auf die heutige Gefährdung ärztlicher Ethik durch entsprechende gesetzliche Vor- schriften ihrer Länder voll anwend- bar, sind die Ausführungen, die die IV. Strafkammer des Landgerichts in Frankfurt am Main im sogenannten Hadamarprozeß im März 1947 zur Frage der Gesetzeskraft des Eutha- nasieerlasses Hitlers gemacht hat.

Nachdem das Gericht vorher festge- stellt hat, daß diesem Erlaß als von dem damaligen Staatsoberhaupt stammend, der tatsächlich Träger ei- ner allumfassenden Staatsgewalt gewesen ist, eine rein formelle Ge- setzeskraft möglicherweise zuzubil- ligen war, sprach es dennoch Geset- zen dieser Art jede Rechtsgültigkeit und damit Rechtsverbindlichkeit aus nachstehenden Gründen ab, die ich verkürzt zitieren darf (Seite 216, Mitscherlich, „Wissenschaft ohne Menschlichkeit"), Zitat:

I> „Jedes Gesetz hat neben der for- malen auch eine materielle — die in- haltliche — Seite. Dabei ist zuzuge- ben, daß im allgemeinen die formel- le Gesetzeskraft genügt, um dem Gesetz Gültigkeit zu verleihen und für alle Staatsbürger verpflichtende Kraft auszulösen. Die Möglichkeiten, den Inhalt des Gesetzes auf seine Gültigkeit hin nachzuprüfen, sind daher in der Regel dem Rechts- und Pflichtenkreis der Staatsbürger ent- zogen. Dies ausdrücklich anzuer- kennen, ist zur Gewährleistung von Rechtseinheit und Rechtssicherheit dringend geboten. In soweit ist nun einmal die Anerkennung des Rechtspositivismus unerläßlich, weil sonst Rechtsunsicherheit zu einem Dauerzustand würde und jedes auf Rechtsgrundlage und Ordnung auf- gebaute Gemeinschaftsleben un- möglich wäre."

Weiter im Zitat:

„Aber ebenso ist es unerläßlich, zu verlangen, daß dieser Rechtspositi- vismus letzten Grenzen unterworfen ist, die nicht überschritten werden

können. Hier endet der Rechtspositi- vismus, weil der Staat niemals die alleinige Quelle allen Rechts ist und nie willkürlich bestimmen kann, was Recht oder Unrecht ist. Es gibt ein über den Gesetzen stehendes Recht das allen formalen Gesetzen als letz- ter Maßstab dienen muß. Es ist das Naturrecht, das den menschlichen Rechtssetzungen unabdingbare und letzte Grenzen zieht. Es gibt letzte Rechtssätze, die so tief in der Natur verankert sind, daß sich alles, was als Recht und Gesetz, Moral und Sit- te gelten soll, im letzten nach die- sem Naturrecht, diesem über den Gesetzen stehenden Recht, auszu- richten hat.

Diese letzten Rechtssätze im Natur- recht sind zwingend, weil sie unab- hängig vom Wandel der Zeit und vom Wechsel menschlicher An- schauungen durch die Jahrtausende gegangen sind und über alle Zeiten hinweg den gleichen Bestand und die gleiche Gültigkeit besitzen. Sie müssen deshalb einen unerläßlichen und fortwährenden Bestandteil des- sen bilden, was menschliche Ord- nung und menschlicher Sinn schließlich als Recht und Gesetz zeichnen. Im Grunde gilt schon der Satz, daß Gesetz gleich Recht sein muß, aber er gilt nur mit dieser einzi- gen und ausschließlichen Ein- schränkung.

Verstößt ein Gesetz hiergegen und verletzt es die ewigen Normen des Naturrechtes, so ist dieses Gesetz seines Inhalts wegen nicht mehr dem Recht gleich zu setzen. Es ent- behrt nicht nur der verpflichtenden Kraft für den Staatsbürger, sondern es ist rechtsungültig und darf von ihm nicht befolgt werden. Sein Un- rechtsgehalt ist dann so erheblich, daß es niemals zur Würde des Rechts gelangen kann, obwohl der Gesetzgeber diesen Inhalt in die äu- ßerlich gültige Form eines Gesetzes gekleidet hat.

Einer dieser, in der Natur tief und untrennbar verwurzelten letzten Rechtssätze ist der Satz von der Hei- ligkeit des menschlichen Lebens und dem Recht des Menschen auf dieses Leben, das der Staat als Kul-

turnation nur fordern darf aufgrund eines Richterspruches oder im Krie- ge." (Ende des Zitats)

Diese Grundsätze gelten auch für

demokratische Staatswesen Es kann keinen Zweifel geben, daß diese grundsätzlichen Ausführun- gen für Gesetze jedwedes Gesetzge- bers, also auch diejenigen demokra- tischer Staatswesen, gelten und da- her für unser Thema von überragen- der Bedeutung sind. Der Arzt darf also Gesetze, die ihn in Konflikt mit der Menschlichkeit (also den menschlichen Naturrechten) brin- gen, nicht befolgen! Die Berufung auf die formale Gültigkeit eines Ge- setzes oder auf den nach parlamen- tarischen Willensbildung zustande gekommenen Gesetzgebungspro- zeß schützt zu anderen Zeiten und etwa geänderten Staatsphiloso- phien nicht vor Bestrafung.

Ehe nun im nächsten Abschnitt ver- sucht werden soll, weitere für uns heute relevante Erkenntnisse aus der damaligen Zeit zu gewinnen, möchte ich für mich ganz unmißver- ständlich klarmachen, daß die da- maligen Verbrechen so unsagbar abscheulich waren, daß sich jeder vorschnelle Vergleich mit ethischen Problemen unserer Zeit verbietet.

Gerade diese Tatsache aber ver- pflichtet uns andererseits auch da- zu, aus diesen Ereignissen so viele

Erkenntnisse wie nur irgend mög- lich zu gewinnen, um so zu versu- chen, mit dazu beitragen zu können, daß sich ähnliches nicht wiederholt.

• Wird fortgesetzt

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Wolfgang Furch Frauenarzt

Mitglied des Präsidiums der Landesärztekammer Hessen Am Eichwald 11

6353 Bad Nauheim 2450 Heft 51 vom 17. Dezember 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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