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Archiv "Aus philosophischer Sicht – Medizin in Zeiten knapper Ressourcen oder: Besonnenheit statt Pleonexie" (30.01.1998)

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eder im Eid des Hippokra- tes, weder in alten indi- schen, hebräischen, persi- schen oder japanischen Gelöbnissen noch im Genfer Ärzte-Gelöbnis von 1948 taucht die „Ressourcenknapp- heit“ auf. Der größeren Sozial- und Ideengeschichte ist das Thema aber seit der Antike vertraut. Nach der wirtschaftlichen und politischen Theorie des Liberalismus gehört die Ressourcenknappheit sogar zu den Anwendungsbedingungen der Ge- rechtigkeit.

Warum werden Ressourcen knapp? Generell spielen drei sogar anthropologische Faktoren eine Rol- le: Erstens ist die letzte Naturvorgabe unseres Lebens, die Erde samt den Tieren, Pflanzen und Materialien, be- grenzt. Zweitens müssen wir die Vor- gaben „im Schweiße unseres Ange- sichts“ verarbeiten, was jeder lieber meidet. Drittens wohnt dem Men- schen eine tendenzielle Unersättlich- keit inne, jene Pleonexia, ein Mehr- und-immer-mehr-Wollen, das schon nach Platon alles Menschliche – ob In- dividuum, ob Gruppe oder Institution – mit einer ausufernden Begehrlich- keit ausstattet.

Für die Medizin treten drei kul- tur- und epochenspezifische Faktoren hinzu. Der erste Faktor, seinerseits komplex, beginnt bei einer Verände- rung des Wissensideals: Nach Aristo- teles erfüllt sich die natürliche Wiß- begier (griechisch: Philo-sophia) in ei- nem nutzenfreien Wissen, letztlich in jenem Wissen höchster Stufe, der Me- taphysik, die sich mit den schlechthin ersten Gründen allen Seins und allen Sollens befaßt. Die Neuzeit, nach- drücklich Bacon und Descartes, läßt sich dagegen vom christlichen Gebot der Nächstenliebe inspirieren. Sie stellt das Wissen in den Dienst menschlichen Wohlergehens und be-

stimmt dieses in Begriffen von Ar- beitserleichterung und vor allem Er- haltung der Gesundheit. Zugespitzt formuliert: an die Stelle der Metaphy- sik tritt die Medizin.

Das neue, nicht mehr nutzenfreie Wissen befriedigt nicht bloß beste- hende Bedürfnisse, sondern spricht auch die Pleonexie an; es weckt und gestaltet neue Begehrlichkeiten. Und weil die Erfolge sich rasch einstellen, steigert man sich gern in Hybris, in Allmachtsphantasien, und erwartet mit Descartes (1637/1971, 58), die Medizin werde „unendlich viele Krankheiten . . ., vielleicht sogar die Altersschwäche loswerden können“.

Spätestens die Erfahrung, daß es trotz medizinischer Forschung, manchmal sogar ihretwegen, mehr und längere Pflegefälle gibt, belehrt uns eines Bes- seren. Oder: Seit AIDS weiß auch die Öffentlichkeit, was Fachleuten schon vorher bewußt war: daß die Infekti- onskrankheiten nicht aussterben, sich vielmehr um neue Arten erweitern.

Die Kluft zwischen der Erwartung an die Medizin, vielleicht sogar ihrer Verheißung, und der tatsächlichen Erfüllung schließt sich nicht.

Die Medizin – Opfer ihres Erfolgs

Andererseits sind die Möglich- keiten derart gewachsen, daß die Me- dizin zum Opfer ihres Erfolgs wird.

Darin vollendet sich der erste epo- chenspezifische Faktor: daß wir statt einer Kostenexplosion eine Lei- stungsexplosion erleben, deretwegen allerdings auch die Gesamtkosten des Gesundheitswesens überschäumen.

Nach Berechnungen des britischen

„Office of Health Economics“ erfor- derte das Gesundheitswesen, stünde die Medizin auf dem Stand von vor

hundert Jahren, nur ein Prozent der gegenwärtigen Medizin-Kosten. In Deutschland fielen – was sich ohne Zweifel bequem finanzieren ließe – statt „satter“ 400 Milliarden lediglich vier Milliarden Mark an. Weder die Politiker noch die Medien bringen aber den Mut auf, der Öffentlichkeit klarzumachen, daß eine Medizin, die sich dank ständiger Fortschritte auf immer mehr versteht, entweder einen ständig wachsenden Anteil am Brut- tosozialprodukt verlangt – und dann mit den Ansprüchen des Bildungswe- sens, der Rechtssicherheit, der Alters- vorsorge . . . in Konflikt gerät – oder aber unmöglich jedem Patienten eine Versorgung nach dem letzten Stand der Forschung bieten kann.

Die traditionelle Antwort auf die Pleonexie und zugleich eine Antwort auf die Ressourcenknappheit heißt Sophrosyne, Besonnenheit oder Maß.

Besonnenheit ist eine moralische Grundhaltung – früher sagte man Tu- gend –, die weit tiefer ansetzt als alle Rationalisierungs- oder Rationierungs- vorhaben. Sie bekämpft die Ressour- cenknappheit am wahren Ursprung, bei den ausufernden Antriebskräften.

Was Aristoteles (1991, 59) sowohl bei der Menge als auch bei den Mächtigen kritisiert, trifft auf den Besonnenen nicht zu: Er ist kein Sklave seiner Be- dürfnisse, sondern im Gegenteil ihr Herr. Wer besonnen ist, teilt die Erfah- rung des ersten Moralphilosophen, Sokrates: Auf ein Leben ausgerichtet, auf das es dem Menschen eigentlich ankommt, auf eine gute und gelunge- ne, eine sinnerfüllte Existenz, hat er im Gegensatz zur Menge so wenige und bescheidene Bedürfnisse, daß es ihm an Ressourcen nicht fehlt. Daß selbst angesehene Menschen viele Ärzte in Anspruch nehmen, hält Platon (1958, 136) deshalb für ein sicheres Kennzei- chen schlechter Sitten.

A-202 (30) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 5, 30. Januar 1998

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Aus philosophischer Sicht

Medizin in Zeiten knapper Ressourcen

Otfried Höffe oder: Besonnenheit statt Pleonexie

W

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Eine Gesundheitspolitik im Geist von Sokrates und Platon verbin- det eine ebenso umfassende wie gründliche Prophylaxe, die angemes- sene Lebensführung, mit einer stren- gen Leistungsbegrenzung: Auf der ei- nen Seite lasse man sein Leben von Aufgaben geprägt sein, deretwegen man zum Kranksein keine Zeit hat.

Außerdem unterwerfe man sich einer mäßigen Lebensweise, angeleitet von einer Diätetik, von der Foucault zu Recht sagt, daß sie aus mehr als einer bloßen Sammlung von medizinischen Vorsichtsmaßnahmen und Heilungs- anweisungen besteht. Auf der ande- ren Seite sagt Platon (1958, 137), was bei umsichtiger Anwendung etwa für die Intensivmedizin nicht bloß aus Kostengründen gelten könnte: daß es dem Menschen nicht auf ein langes, dabei aber elendes Leben ankomme.

Besonnenheit aus Selbstinteresse

Moralphilosophen sind keine rückwärtsgewandten Moralisten, die über schlechter gewordene Weltläufe klagen. Sie kennen durchaus den zweiten Grund für die spezifische neuzeitliche Ressourcenknappheit, eine weitere Mentalitätsveränderung, erneut eine radikale Umwertung der Werte, jetzt aber nicht beim Wissen- schaftsideal, sondern beim Lebens- ideal: Während man vorher die aus- ufernden Antriebskräfte als Leiden- schaften ansah, oft sogar als Laster, sie mithin als illegitim zumindest ver- dächtigte, gelten sie nun als Interessen, folglich als norma- tiv neutral. Im Wirtschaftsbe- reich etwa wandelt sich das Laster des Neides zur wirt- schaftlichen Kompetenz, und die Habsucht wird zum lo- benswerten Geschäftssinn.

Offensichtlich erschwert diese Umwertung die Besonnenheit von Grund auf, und darin liegt der zweite epochenspezifische Faktor für Ressourcenknapp- heit: Früher in normative Fes- seln, nämlich in den Vorwurf von Leidenschaft, sogar von Laster eingebunden, wird die Begehrlichkeit jetzt geradezu entfesselt.

Wer sich trotzdem noch ein- schränkt, hat entweder das Prinzip der Moderne nicht verstanden, oder es fehlt ihm an Durchsetzungskraft.

Im einen Fall steht er als schwach, im anderen als der Dumme da. Um bei- des zu verhindern, pflegen Interessen als Verbandslobbys aufzutreten, was zum bekannten Ergebnis führt: einer nicht bloß entfesselten, sondern in ih- rer Entfesselung auch noch schlag- kräftig organisierten Begehrlichkeit.

Solange die Umwertung wirksam bleibt und die ehemaligen Leiden- schaften und Laster als normativ harmlose Interessen gelten, kommt die Besonnenheit nur „systemkon- form“ zustande: durch Interessen, die den Begehrlichkeitsinteressen entge- genwirken. Eine Chance hat die Be- sonnenheit nur als Inbegriff von Gegeninteressen, nämlich als ein An- reiz gegen Begehrlichkeit, der sich aus Selbstinteresse speist.

Eine Besonnenheit unter den beiden Bedingungen der Moderne, der Leistungsexplosion und der ent- fesselten Begehrlichkeit, kommt da- her nicht umhin, Gegenkräfte zu sti- mulieren. Nur empirische Überlegun- gen zeigen, welche Anreize es beim Gesundheitswesen überhaupt gibt, nur die Erfahrung, welche von ihnen kräftig, welche wirksam genug sind.

Eine genuin philosophische Kompe- tenz liegt hier nicht vor; allerdings kann sich der Philosoph kundig ma- chen.

Auf seiten des Patienten steuern der Begehrlichkeit beispielsweise ent- gegen: eine Selbstbeteiligung und ei-

ne Beitragsrückerstattung bei Nicht- inanspruchnahme von Leistungen.

Begehrlichkeitsdämmend wirkt sich glücklicherweise auch gute Aufklä- rung aus. Kostenwirksam wird die Be- gehrlichkeit des Patienten freilich erst dann, wenn sie auf eine entgegen- kommende Begehrlichkeit der soge- nannten Leistungsanbieter stößt. So geben Ärzte gelegentlich den Wün- schen, sogar Forderungen ihrer Pati- enten nach, um diese nicht zu verlie- ren. Vielleicht nehmen sie auch man- ches im Hinblick auf das Honorie- rungs-System vor. Eine weitere Frage:

Ist es sinnvoll, daß man an jeder Kom- plikation, sogar an jenen Nachopera- tionen verdient, die durch einen ärzt- lichen Fehler erforderlich werden?

Die Alternative – Fallpauschalen – bergen freilich die Gefahr einer Risikoselektion in sich: Komplizierte Fälle sucht man lieber abzuschieben.

Wie geht die Gesellschaft mit Knappheit um?

Kostensteigernd wirken sich auch Strukturschwächen aus, bei- spielsweise die mangelnde Verzah- nung von ambulanter und stationärer Medizin. Vielleicht gibt es auch unnötige Überweisungen. In den Nie- derlanden beispielsweise kommen im Jahr 1992 pro tausend Einwohner nur halb so viele Überweisungen zustan- de wie in Deutschland (nach Schnei- der 1995, 56).

Der Besonnenheit bedarf es auch bei der Forschung, weil deren Kosten das Gesundheitswesen nicht unberührt lassen. Ohnehin hat der Nutzenzuwachs deutlich abgenommen. Bei der Lebens- erwartung, auf die sich die me- dizinische Forschung selbst gern beruft, fallen in unseren entwickelten Gesellschaften die Zuwachsraten aus neuen medizinischen Erkenntnissen immer geringer aus. Überdies steigen die Möglichkeiten der Diagnose weit stärker als die der Therapie.

Solange die Besonnen- heit nicht von allein zustande kommt, freiwillig und auf allen Seiten, bleiben die Ressour- cen notwendig knapp. Das A-203 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 5, 30. Januar 1998 (31)

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Medizin in Zeiten knapper Mittel

Aus philosophischer Sicht

T H E M E N D E R Z E I T

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provoziert die Frage: Wie geht die Gesellschaft mit der Knappheit mora- lisch angemessen um? Generell gibt es drei Ansätze: den Utilitarismus, den Standpunkt der Gerechtigkeit und jenes Überbieten von Gerechtig- keit, das in Mitleid, Großzügigkeit und Wohltätigkeit besteht.

Der Utilitarismus betrachtet die Gesellschaft als ein Kollektiv, das die vorhandenen Mittel zugunsten eines maximalen Gesamtwohls einsetzt.

Im Konfliktfall ist unter sonst glei- chen Bedingungen das Leben eines Kindes wichtiger als das älterer Men- schen; denn es werden mehr Lebens- jahre gerettet. Analog ist die Mutter von vier Kindern wichtiger als der Junggeselle. Gewiß, die Position ist verfeinert worden; aber auch dann widerspricht sie unseren moralischen Intuitionen deutlich genug. Während wir jedem Menschen unveräußerli- che Rechte zusprechen, erlaubt der Utilitarismus, das Wohlergehen der einen gegen das der anderen zu ver- rechnen.

Der Standpunkt der Gerechtig- keit schließt diese Möglichkeit aus.

Mit gutem Grund herrscht er deshalb vor: sowohl in der Geschichte der Phi- losophie als auch in den zeitgenössi- schen Debatten. Obwohl eine Welt, in der Gerechtigkeit herrscht, ein Leit- ziel der Menschheit seit ihren Anfän- gen bildet, ist aber die Frage, worin die Gerechtigkeit besteht, heftig um- stritten.

In dieser Situation beginnt die Philosophie mit einer Begriffser- klärung; sie weist auf eine prinzipielle Grenze hin: Im Rahmen der Sozial- moral geht es der Gerechtigkeit bloß um jenen kleinen Anteil, dessen An- erkennung die Menschen einander schulden. Auf einen Mangel des an- deren Anteils, der verdienstlichen Mehrleistung, auf zu wenig Mitleid, Großzügigkeit oder Wohltätigkeit, reagiert man mit Enttäuschung, auf fehlende Gerechtigkeit hingegen mit Empörung. Wegen dieses Unterschie- des soll man persönlich durchaus großzügig oder wohltätig sein; eine zwangsbefugte Gesellschaftsordnung dagegen, ein Rechts- und Staatswe- sen, ist im wesentlichen nur für Ge- rechtigkeit zuständig.

Daraus folgt eine Verschie- bungsgefahr, die oft schon bewußt

eingesetzt wird und dann auf Mißbrauch hinausläuft: Man erklärt für eine Gerechtigkeitspflicht, was in Wahrheit zum verdienstlichen Mehr gehört. Und gelegentlich sagt man

„soziale Gerechtigkeit“ und meint nichts anderes als „sozialen Neid“.

Hier deutet sich der dritte epo- chenspezifische Faktor für Ressour- cenknappheit an: Die Moderne hat die Tendenz, noch als geschuldete Grundleistung anzusehen, was in Wahrheit schon in den Bereich des verdienstlichen Mehr fällt. Müßte je- der, der nach medizinischer Leistung verlangt, diese, wie bei Dienstleistun- gen üblich, selber vergüten, sei es un- mittelbar, sei es über eine Privatversi- cherung, so pendelten sich Angebot und Nachfrage aufeinander ein. In Form einer Säkularisierung der

christlichen Nächstenliebe wird aber aus manch freiwilliger Mehrleistung eine geschuldete Solidaritätspflicht.

Erst sie setzt die Balance aus Ange- bot und Nachfrage außer Kraft und gibt neue Begehrlichkeiten frei. Eine Wohltat kann sich allerdings bei näherer Betrachtung als gerechtig- keitsgeboten erweisen: Wer jeman- dem aus einer Not hilft, die er mitver- schuldet hat, handelt nicht aus Mit- leid, sondern aus Gerechtigkeit. Weil die Menschen hilfsbedürftig und oh- ne ihre Zustimmung auf die Welt kommen, ist die Verantwortung für ihr Wohl – freilich nicht auf unbe- grenzte Zeit – gerechtigkeitsgeboten.

Der Grundgedanke der Gerech- tigkeit besteht in der Gleichheit, ihre Minimalforderung im Willkürverbot beziehungsweise dem Gebot der Un- parteilichkeit. Nun denkt man übli- cherweise bei der Gerechtigkeit an Verteilungsgerechtigkeit. Die zu ver-

teilenden Mittel müssen aber erst er- arbeitet und dann, im Fall einer Ar- beitsteilung, wechselseitig getauscht werden. Wegen dieser Binsenweisheit empfiehlt sich für die Gerechtigkeits- theorie ein Paradigmenwechsel: Man beginne nicht bei der Verteilung, son- dern beim Tausch. Denken darf man allerdings nicht nur an Wirtschaftsgü- ter und Dienstleistungen; getauscht werden auch Gewaltverzichte, was zu den Freiheitsrechten führt, nament- lich dem Recht auf die Integrität von Leib und Leben.

Zugunsten eines Paradigmen- wechsels spricht schon der Umstand, daß eine Verteilung von oben her er- folgt, also Hierarchien voraussetzt, ein Tausch dagegen als Beziehung unter Gleichen das Grundmuster der Demokratie bildet. Eine Demokra- tie, die sonst jeden Paternalismus und Maternalismus von sich weist, man- cherorts aber den Tausch als Grund- muster der Verteilung verwirft, lebt in einem tiefen Widerspruch. Man- cher Einwand liegt auf der Hand, et- wa daß Kinder und Behinderte nicht (genug) tauschen können oder daß die früher verantwortlichen Institu- tionen, Familien, Zünfte, Kommunen . . ., in den letzten Jahrhunderten ent- machtet worden sind, daher einen Teil ihrer Aufgaben nicht mehr zu er- füllen vermögen. In beiden Fällen tritt aber die zur Tauschgerechtigkeit schon immer notwendige Ergänzung – die korrektive Gerechtigkeit – auf den Plan. Insofern der Staat die ge- nannten Institutionen politisch und finanziell entmachtet hat, ist der ent- sprechende Ausgleich gerechtigkeits- geboten.

Ohne Zweifel ist die Gesundheit ein spezielles, weder nur privates noch lediglich soziales, öffentliches Grundgut. Mindestens drei Faktoren sind nämlich für sie zuständig: außer den gesellschaftlichen Umständen ei- ne natürliche Vorgabe und der eigene Lebensstil. Nun gehört zur Selbstver- antwortlichkeit des demokratischen Bürgers das Recht, aber auch die Pflicht, seine Lebensführung selbst in die Hand zu nehmen. Wer trotzdem selbst Erwachsene auf eine bestimmte Vorsorge fürs Leben, auf eine Versi- cherung gegen Krankheit, verpflich- tet, kann sich beispielsweise auf ge- sellschaftliche und wirtschaftliche A-204 (32) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 5, 30. Januar 1998

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

„Obwohl eine Welt, in der Gerechtigkeit herrscht, ein Leitziel der Menschheit seit

ihren Anfängen bildet, ist aber die Frage, worin die Gerechtigkeit besteht, heftig

umstritten.“

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Veränderungen berufen – etwa auf die Entmachtung der Solidargemein- schaften, der Familien und Zünfte – und auf die Abhängigkeit der Arbeit- nehmer und ihrer Familien von der Arbeitsfähigkeit. Derartige Argu- mente begründen aber erst eine Versi- cherungspflicht, noch keine Pflicht- versicherung.

Die gewöhnlichen Versicherun- gen funktionieren auf der Basis der Risikoäquivalenz. Bei jüngerem Bei- tritt hat man eine geringere Beitrags- rate, bei riskanten Berufen oder Hob- bys eine höhere. Infolgedessen pfle- gen sie wenig Probleme zu haben. Wo man das Prinzip der Risikoäquivalenz aufhebt und diejenigen, die mehr ein- zahlen, als es die Risikoäquivalenz verlangt, die Mehrzahler, stillschwei- gend einer (Umverteilungs-)Steuer unterwirft, dort weckt man zusätzlich die Begehrlichkeit der Politiker. Zu- gunsten ihrer Wahlklientel haben sie den Kern, eine Grundversicherung gegen Krankheit, um eine immer üp- pigere Hülle von Zusatzaufgaben an- gereichert und stehen heute vor dem Problem, wieder zum Kern zurückzu- finden.

Die entsprechende Entwicklung hat allerdings mit der Mentalität einer Gesellschaft zu tun. Deshalb lohnt sich ein Blick in die Statistik. Auf die Frage, was ihnen wichtiger sei, Frei- heit oder Gleichheit, votieren unter den Deutschen im Vergleich zu den Briten doppelt so viele für die Gleich- heit und halb so viele für die Freiheit.

Von dieser Einstellung her ist es kein Zufall, daß ein Land, unser Land, das ohnehin mehr Gleichheit als Großbri- tannien kennt, nicht dem Prinzip Risi- koäquivalenz folgt, außerdem hin- sichtlich des Leistungsversprechens zur Weltspitze gehört. Die Entwick- lung trifft übrigens auf den Sozialstaat generell zu. Er, der als gezielte Hilfe für sozial Schwache begann, ist im Laufe der Jahrzehnte zur umfassen- den Fürsorge für die Mehrheit der Be- völkerung geworden, und dies, ob- wohl deren (inflationsbereinigtes) Pro-Kopf-Einkommen enorm gestie- gen ist.

Versuchen wir zum Schluß einen konstruktiven Vorschlag: Nach dem Prinzip, das oberhalb eines sozialen Minimums ohnehin zuständig ist, nach dem Prinzip Freiheit, erlaube

man, die Entscheidung, was einem die Gesundheit wert ist, selber zu treffen.

Nach diesem Grundsatz wäre für die Krankenversicherung ein neuartiges, jetzt mehrstufiges System empfeh- lenswert:

(1) die Grundstufe, eine mögli- cherweise gesetzliche Krankenversi- cherung, ist für das elementare Mini- mum zuständig. (2) Die Aufbaustufe, die genossenschaftlichen oder priva- ten Krankenkassen, übernimmt die Mehraufwendungen – und erhält da- bei das Recht, über Risikofaktoren wie Übergewicht, Bewegungsmangel, Alkohol- und Nikotinmißbrauch als

Parameter nachzudenken. (Aller- dings könnte es sein, daß diejenigen, die gesund leben, aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung höhere Kosten verursachen.) (3) Ähnlich wie private Lebensversicherungen die persönliche Altersvorsorge abrun- den, ist auch in der Krankenversiche- rung für Zusatzwünsche eine Abrun- dungsstufedenkbar.

Die genaue Abgrenzung zwi- schen den Stufen mag schwierig sein.

Spätestens der internationale Ver- gleich zeigt aber, daß Deutschland sehr großzügig verfährt.

Nicht der geringste Vorteil der skizzierten Stufenordnung besteht in ihrer Transparenz. Es wird wieder sichtbar, daß es bei der medizini- schen Versorgung ein Mehr-oder- Weniger gibt, ferner daß man selber entscheiden dürfen soll, wieviel man davon will; schließlich, daß der Ein- tritt in die höhere Stufe eine Investi- tion in die eigene Zukunft vornimmt, die – wie jede Investition – einen Konsumverzicht in der Gegenwart verlangt.

Wie in der Arzt-Patienten-Be- ziehung die Selbstbestimmung des Patienten eine wachsende Rolle spielt, so darf man sich aber fragen,

ob diese Autonomie nicht erweitert werden sollte. Die Entscheidung über die nähere Krankenversiche- rung selbst zu treffen wäre dem de- mokratischen mündigen Bürger nur angemessen.

Obwohl meine Überlegungen sehr vorläufig sind, dürften sie deut- lich machen, daß das traditionelle Ethos des Arztes, das die Ressour- cenknappheit noch ausblendet, künf- tig um dieses Thema zu erweitern ist.

Auch wer nicht allen vorangehenden Überlegungen zustimmt, dürfte um diese Einsicht nicht herumkommen.

Da von den zwei genannten Ge- sichtspunkten, der Besonnenheit und Gerechtigkeit, der zweite vor- nehmlich in den Aufgabenbereich der Politik gehört, braucht das ärztli- che Ethos die Ergänzung um Sophro- syne, um Besonnenheit und Maß.

Das Ergebnis mag bedauernswert sein und ist trotzdem kaum zu än- dern: Daß jedem Patienten zu jeder Zeit alles medizinische Wissen und Können zur Verfügung gestellt wer- den – zugespitzt: „Macht, was ihr könnt, bezahlt wird alles“ – , dieser Grundsatz kann in Zukunft nicht mehr gelten.

Literatur

Aristoteles 1991: Die Nikomachische Ethik, übersetzt von Olof Gigon, München: Deut- scher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. Zürich–

Stuttgart: Artemis Verlag 1951, 21967; zitierte Stelle: Buch I, Kap. 3, 1095b 19–22.

Descartes, René 1637/1971: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, übersetzt von Kuno Fischer, Stuttgart:

Reclam; zitierte Stelle aus sechstem Kapitel.

Platon 1958: Politeia, in: Sämtliche Werke, Band 3, Hamburg Rowohlt, zitierte Stellen:

Buch III, Kap. 13, 405a, und Kapitel 14, 406 a–b.

Schneider M, u. a. 1995: Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich, Augsburg; BA- SYS.

Als Nachschlagewerk: Lexikon der Ethik, hrsg. v. Otfried Höffe, München: Beck’sche Reihe 51997.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-202–205 [Heft 5]

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. phil. Otfried Höffe Philosophisches Seminar Eberhard-Karls-Universität Bursagasse 1

72070 Tübingen

A-205 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 5, 30. Januar 1998 (33)

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

„Nach dem Prinzip Freiheit erlaube man, die Entscheidung, was einem

die Gesundheit wert ist,

selber zu treffen.“

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