„Beängstigendes Anwachsen"
• Liselotte Funcke, Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, Bonn:
„Es gab in unserem Volk noch nie so viele Schwerbeschädigte wie nach der letzten gutgemeinten Novelle des Schwerbeschädigtengesetzes. Es ist geradezu abenteuerlich, wer da plötz- lich alles als Schwerbeschädigter auf- taucht, nach Normen, die ein Nicht- mediziner gar nicht mehr nachvollzie- hen kann. Hier muß man sich fragen, ob Wohltat nicht Plage wird."
• Hans-Dietrich Genscher, Bun- desminister des Auswärtigen, Bonn:
„Man muß auch fragen, ob es den wirklich Schwerbeschädigten hilft, wenn der Personenkreis, der unter diesen Begriff fällt, nahezu beliebig ausgedehnt werden kann."
• Dr. Dietrich Maiwald, Präsident der Landesärztekammer Baden-Würt- temberg, Stuttgart: „. . . der festge- stellte Behindertengrad oft dazu die- nen soll, die ab Mitte des fünften Lebensjahrzehnts auftretenden Er-
krankungen in Kombination mit dem erreichten Behindertengrad zum Ge- genstand und zur Begründung des Antrags auf vorgeschobene Altersren- te zu machen. Man kann annehmen, daß ein täglich beängstigend anwach- sender Personenkreis ungeachtet des
‚frommen' Wahlspruchs, wonach Rehabilitation vor Rente geht, vom Zeitpunkt der Anerkennung als Schwerbeschädigter für alle Maßnah- men medizinischer und beruflicher Rehabilitation ausscheidet. . . . eine Gesetzgebung, die ohne Abschätzung der möglichen Folgen soziale Güter anbietet und damit das jahrzehntelang mühsam aufgebaute Gebäude der Rehabilitation in Frage stellt und gleichzeitig zu Lasten des übrigen Be- völkerungsteiles Begehrlichkeit weckt und Leistungen gewährt, die man hätte produktiver einsetzen können."
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Dr. Heinz Rosenbauer, Staatsse- kretär im Bayerischen Staatsministe- rium für Arbeit und Sozialordnung, München: „. . . ob wir auf dem be- sten Wege sind, am Ende ein Volk von Behinderten zu werden." ❑ Die Information:Bericht und Meinung Schwerbehindertengesetz
ßere Körperschäden vom Gesetz- geber in der Verwaltungsvor- schrift Nr. 4 zu § 30 BVG festge- setzten Mindest-Hundertsätze gilt es, in dieser Hinsicht zu überprü- fen und fortzuentwickeln.
Das gleiche gilt für die vom Bun- desministerium für Arbeit und So- zialordnung herausgegebenen, unter Mitwirkung zahlreicher Sachverständiger aus den Berei- chen der Wissenschaft, Klinik und Begutachtung erarbeiteten „An- haltspunkte für die ärztliche Be- gutachtung Behinderter", die ei- ner jeden ärztlich-gutachterlichen Beurteilung zur Feststellung einer Schwerbehinderung zugrunde zu legen sind.
Weiterhin muß der Integrierung mehrerer Einzel-MdE-Werte zur Ermittlung einer Gesamt-MdE durch alle Behinderungen in die- sem Zusammenhang besondere Beachtung geschenkt werden. § 3 Absatz 3 Schwerbehindertenge- setz führt dazu aus: „Liegen meh- rere Behinderungen vor, so ist der Grad der Minderung der Erwerbs- fähigkeit durch die Beurteilung der Auswirkungen der Behinde- rungen in ihrer Gesamtheit festzu- stellen." Wenn somit zwar grund- sätzlich bei Vorliegen mehrerer Gesundheitsstörungen als Behin- derungen der Grad der MdE durch deren Auswirkungen in ihrer Ge- samtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehun- gen zueinander festzustellen ist, ergeben sich jedoch in der Aner- kennungspraxis nichtsdestoweni- ger — auch schon zur öffentlichen Kritik führende — Probleme da- durch, daß bei mehreren, oft nicht wesentlichen und nur geringfügi- gen Behinderungen zum Teil doch eine zu sehr additiv ausgeprägte Betrachtungsweise zum Tragen kommt.
Ebenso hier ist der Gesetzgeber aufgefordert, die entsprechenden Bestimmungen exakter zu fassen in dem Sinne, daß die Behinde- rung mit dem höchsten Einzel- MdE-Grad in den Vordergrund zu stellen und zur Feststellung einer
Gesamtbeeinträchtigung im Hin- blick auf alle weiteren Behinde- rungen genauestens zu prüfen ist, ob überhaupt und ggf. inwieweit hierdurch sich eine zusätzliche MdE ergibt. Eine — wenn auch nur im Ansatz — rechnerisch geartete Ermittlung einer Gesamt-MdE aus Einzel-MdE-Graden darf hier kei- nesfalls in Betracht kommen.
Unter Berücksichtigung der inzwi- schen sowohl mit den Bestimmun- gen des Schwerbehindertengeset- zes als auch mit den Begutach- tungsrichtlinien der „Anhalts- punkte" gewonnenen Erfahrun- gen bedürfen diese einer weiteren Fortentwicklung und Konkretisie- rung, vor allem hinsichtlich ergän- zender Hinweise zur Beurteilung der Vergünstigungsvoraussetzun- gen und zur zusammenfassenden
Bewertung mehrerer Gesund- heitsstörungen sowie hinsichtlich ausführlicher Klarstellungen der medizinischen Sachverhalte, die nicht die Annahme einer Behinde- rung oder nur einen niedrigen Be- hinderungsgrad rechtfertigen.
Hohe Behindertenzahlen nicht medizinisch begründet In ihrerStellungnahme zu Mißbräu- chen von Sozialgesetzen wies auch die Arbeitsgemeinschaft der Wis- senschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) mit Nachdruck darauf hin, daß die medizinische Wissenschaft keine medizinisch haltbaren Gründe nennen kann, warum Behinder- tenzahlen in der Bundesrepublik Deutschland um ein Vielfaches
12 Heft 34 vom 27. August 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe B