• Keine Ergebnisse gefunden

EuGH Report 3/08

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "EuGH Report 3/08"

Copied!
22
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

3/08

A Direkte Steuern1

I EuGH, Urteil v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 (Lidl Belgium)2 Berücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste

Art. 43 EG-Vertrag steht dem nicht entgegen, dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft von ihrer Steuerbemessungs- grundlage nicht die Verluste einer Betriebs- stätte abziehen kann, die ihr gehört und in einem anderen Mitgliedstaat belegen ist, so- fern nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Einkünfte dieser Betriebsstätte im letztgenannten Mitglied- staat besteuert werden, in dem diese Verluste bei der Besteuerung der Einkünfte dieser Betriebsstätte für künftige Steuerzeiträume berücksichtigt werden können.

Rechtsanwalt, LL. M., MWST-Experte FH, Walder Wyss & Partner, Zürich

Stefan Oesterhelt Rechtsanwalt, LL. M., dipl. Steuerexperte, Homburger AG, Zürich

Maurus Winzap Rechtsanwalt, LL. M., dipl. Steuerexperte Walder Wyss & Partner, Zürich

1 Ausgangssachverhalt

Lidl Belgium GmbH & Co. KG (nachfolgend Lidl Belgium) gehört zur Lidl-und-Schwarz-Gruppe.

Es handelt sich dabei um eine Kommanditge- sellschaft mit Sitz in Deutschland, welche zu- nächst auf dem belgischen Markt tätig war und seit 1999 in Luxemburg über eine Betriebsstätte verfügt. Komplementär von Lidl Belgium ist Lidl Belgium Beteiligungs-GmbH. Die Lidl Stiftung

& Co. KG ist Kommanditärin von Lidl Belgium.

1 Im Weiteren sei noch auf das folgende in den Be- richtszeitraum vom 1. April 2008 bis zum 30. Juni 2008 fallende Urteil des EuGH zu den di- rekten Steuern verwiesen: EuGH, Urteil v. 20.5.2008 – Rs. C-194/06 (Orange European Smallcap Fund NV), noch nicht in Slg. veröffentlicht, zur unilateralen Ermässigung, die einem niederländischen Anlage- fonds wegen der von einem anderen EU-Mitgliedstaat einbehaltenen Quellensteuer auf die von diesem Anlagefonds erhaltenen Dividenden gewährt wird (Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit bejaht).

2 ABl. EU, C 171 v. 5.7.2008, 6; noch nicht in Slg.

veröffentlicht.

Lidl Belgium GmbH & Co KG

D Lux 1999: Verlust

(2)

Im Steuerjahr 1999 erwirtschaftete die luxem- burgische Betriebsstätte von Lidl Belgium einen Verlust. Das Finanzamt Heilbronn liess diesen Verlust in Deutschland nicht zum Abzug zu.

Das beim Finanzgericht Baden-Württemberg hiergegen erhobene Rechtsmittel war erfolglos.

Der daraufhin angerufene Bundesfinanzhof legte die Sache dem EuGH zur Vorabentschei- dung nach Art. 234 EG vor3.

2 Vorlagefrage

Die dem EuGH zur Vorabentscheidung vorge- legte Frage geht im Wesentlichen dahin, ob die Art. 43 EG-Vertrag (Niederlassungsfreiheit) und Art. 56 EG-Vertrag (Kapitalverkehrsfreiheit) ei- ner nationalen Steuerregelung entgegenstehen, die für eine gebietsansässige Gesellschaft die Möglichkeit ausschliesst, bei der Gewinnermitt- lung Verluste einer ihr gehörenden Betriebsstät- te in einem anderen EU-Mitgliedstaat geltend zu machen, eine solche Abzugsmöglichkeit für Verluste einer gebietsansässigen Betriebsstätte jedoch vorsieht.

3 Aus den Entscheidungsgründen Verhältnis von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit

Der EuGH weist darauf hin, dass es in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 43 EG- Vertrag (Niederlassungsfreiheit) falle, wenn eine in einem EU-Mitgliedstaat ansässige Per- son in einem anderen EU-Mitgliedstaat eine Betriebsstätte einrichtet und diese vollständig beherrscht. Da eine allfällige Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EG-Vertrag) bloss eine zwangsläufige Folge einer eventuellen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit wäre, rechtfertige sich keine eigenständige Prüfung unter dem Aspekt von Art. 56 EG-Vertrag.

Beschränkung der Niederlassungsfreiheit Unter Berufung auf seine bisherige Rechtspre- chung hält der EuGH fest, dass die Niederlas- sungsfreiheit es verbiete, dass der Herkunftsmit- gliedstaat die Niederlassungsfreiheit eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem an- deren EU-Mitgliedstaat behindere4. Weiter hält der EuGH fest, dass eine Regelung, welche die Berücksichtigung von Verlusten einer Betriebs- stätte für die Gewinnermittlung erlaube, einen Steuervorteil begründe. Daher sei die steuerliche Situation einer Gesellschaft mit einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat belegenen Betriebs- stätte weniger günstig als die, in der sie sich befände, wenn die Betriebsstätte in Deutschland belegen wäre. Somit liegt nach Auffassung des EuGH eine Beschränkung der Niederlassungs- freiheit vor.

Rechtfertigungsgrund der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse

Unter Berufung auf die in den Rechtssachen Marks & Spencer5 sowie Oy AA6 ergangene Rechtsprechung weist der EuGH darauf hin, dass es zur Wahrung der Aufteilung der Besteue- rungsbefugnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten erforderlich sein könne, auf die wirtschaftliche Tätigkeit der in einem dieser Staaten nieder- gelassenen Gesellschaften sowohl in Bezug auf Gewinne als auch auf Verluste nur dessen Steuerrecht anzuwenden. Würde nämlich den Gesellschaften die Möglichkeit eingeräumt, für die Berücksichtigung ihrer Verluste im Ansäs- sigkeitsstaat oder für deren Berücksichtigung in einem anderen EU-Mitgliedstaat zu optieren, so würde dadurch die Ausgewogenheit der Auftei- lung der Besteuerungsbefugnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigt, da die Steuerbemessungsgrundlage im ersten

(3)

Staat um die übertragenen Verluste erweitert und im zweiten Staat entsprechend verringert würde. Würde es im vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt zugelassen, dass die Verluste einer nicht gebietsansässigen Betriebsstätte von den Einkünften des Stammhauses abgezogen wer- den können, so hätte dies zur Folge, dass dieser Gesellschaft erlaubt würde, den EU-Mitglied- staat, in dem sie solche Verluste geltend macht, frei zu wählen.

Rechtfertigungsgrund der Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung Im Hinblick auf den vom EuGH in den Rechts- sachen Marks & Spencer sowie Rewe Zentral- finanz7 anerkannten Rechtfertigungsgrund der Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung weist der EuGH darauf hin, dass es vorgängig nicht auszuschliessen sei, dass eine Gesellschaft im Ansässigkeitsstaat die Verluste einer auslän- dischen Betriebsstätte geltend macht und dass trotz dieser Zurechnung dieselben Verluste zu einem späteren Zeitpunkt im Betriebsstätten- staat berücksichtigt werden.

Verhältnis der Rechtfertigungsgründe zueinander

Der EuGH stellt sodann fest, dass nicht verlangt werden könne, dass jeweils alle drei der in Marks

& Spencer genannten Rechtfertigungsgründe vorliegen müssten, damit eine die Niederlas- sungsfreiheit beschränkende nationale Steu- erregelung grundsätzlich gerechtfertigt sein könne. Bereits in der Rechtssache Oy AA habe der EuGH anerkannt, dass eine Regelung durch zwei der drei in Marks & Spencer festgestellten Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt sein kön- ne. Dies müsse auch für den vorliegenden Fall gelten.

Verhältnismässigkeit

Da es feststehe, dass die fragliche Regelung geeignet sei, die Erreichung der durch die bei- den Rechtfertigungsgründe verfolgten Ziele zu Inhaltsübersicht

A Direkte Steuern I EuGH, Urteil v. 15.5.2008 –

Rs. C-414/06 (Lidl Belgium)

Berücksichtigung ausländischer Betriebs- stättenverluste

II EuGH, Urteil v. 26.6.2008 – Rs. C-284/06 (Burda)

Nachbesteuerung von Gewinnen im Zeitpunkt der Ausschüttung B Mehrwertsteuer

I EuGH, Urteil v. 13.3.2008 – Rs. C-437/06 (Securenta)

Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vor- steuerabzugs bei Aufwendungen im Zu- sammenhang mit der Ausgabe von Aktien und atypischen stillen Beteiligungen II EuGH, Urteil v. 3.4.2008 –

Rs. C-124/07 (J.C.M. Beheer BV) Steuerbefreiung bei Untervermittlung von Versicherungsumsätzen

III EuGH, Urteil v. 8.5.2008 –

Rs. C-95/07 und C-96/07 (Ecotrade SpA) Keine Versagung des Vorsteuerabzugsrechts bei nachträglich erkannter Steuerschuld aufgrund des Reverse-Charge-Verfahrens aus formalen Gründen

3 ABI. EU, C 326 v. 30.12.2006, 26.

4 Vgl. EuGH, Urteil v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 (ICI), Slg. 1998, I-4695, Rz. 21; EuGH, Urteil v. 6.12.2007 – Rs. C-298/05 (Columbus Container Services), noch nicht in Slg., Rz. 33.

5 Vgl. EuGH, Urteil v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), Slg. 2005, I-10837, Rz. 35.

6 Vgl. EuGH, Urteil v. 18.7.2007 – Rs. C-231/05 (Oy AA), Slg. 2007, I-6373, Rz. 54.

7 EuGH, Urteil v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04 (Rewe Zentralfinanz).

(4)

gewährleisten, bleibe noch zu prüfen, ob diese nicht über das hinausgehe, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich sei. In Marks &

Spencer habe der EuGH ausgeführt, dass eine die Niederlassungsfreiheit beschränkende Massnah- me über das zur Erreichung der verfolgten Ziele Erforderliche hinausgehe, wenn eine gebiets- fremde Tochtergesellschaft die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten im EU- Mitgliedstaat ihres Sitzes für den betreffenden Steuerzeitraum ausgeschöpft habe und wenn keine Möglichkeit bestehe, dass die Verluste dieser Tochtergesellschaft in diesem Staat für künftige Steuerzeiträume berücksichtigt werden könne.

Da im vorliegenden Fall das luxemburgische Steuerrecht einen Verlustvortrag erlaube (und im Jahr 2003 auch tatsächlich eine Verlustver- rechnung stattfand), seien vorliegend die vom EuGH in Marks & Spencer ausgestellten Voraus- setzungen im Hinblick auf die Erforderlichkeit einer Massnahme zur Beschränkung der Nie- derlassungsfreiheit erfüllt, weshalb die fragliche Steuerregelung als den mit ihr verfolgten Zielen angemessen anzusehen sei.

4 Anmerkung

Nachdem sich der EuGH im wegweisenden Urteil Marks & Spencer sowie in den darauf folgenden Urteilen Rewe Zentralfinanz sowie Oy AA mit der grenzüberschreitenden Verlustberücksichti- gung im Konzern zu befassen hatte, hat der EuGH mit dem Besprechungsurteil ein Grundsatzurteil zur Frage der Berücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste gefällt. Im Ergebnis be- handelt der EuGH Betriebsstätten gleich wie Tochtergesellschaften und dehnt dabei die in der Rechtssache Marks & Spencer begründete Recht- sprechung auf die Frage der Berücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste aus.

In Marks & Spencer hielt der EuGH fest, dass die Verweigerung der Berücksichtigung von

Verlusten einer Tochtergesellschaft durch die folgenden drei Rechtfertigungsgründe (gemein- sam) gerechtfertigt sein könne: (i) die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwi- schen den EU-Mitgliedstaaten, (ii) die Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung und (iii) die Steuerfluchtgefahr. Dabei genügt es nach Auffassung des EuGH, wenn zwei der drei Rechtfertigungsgründe erfüllt sind. Insofern be- stätigt der EuGH seine in der Rechtssache Oy AA ergangene Rechtsprechung.

Der Knackpunkt des Besprechungsurteils ist die Prüfung der Verhältnismässigkeit. Der EuGH knüpft dabei an die in Marks & Spencer ge- machte Aussage an, wonach eine die Nieder- lassungsfreiheit beschränkende Massnahme über das zur Erreichung der verfolgten Ziele Erforderliche hinausgehe, wenn eine gebiets- fremde Tochtergesellschaft (hier: Betriebsstät- te) die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten im EU-Mitgliedstaat ihres Sitzes (hier: Betriebsstättenstaat) für den betreffenden Steuerzeitraum ausgeschöpft habe und wenn keine Möglichkeit bestehe, dass die Verluste dieser Tochtergesellschaft (hier: Betriebsstätte) in diesem Staat für künftige Steuerzeiträume berücksichtigt werden könne. Da das luxembur- gische Steuerrecht (wie beispielsweise auch das schweizerische Steuerrecht) die Möglichkeit des Vortrags von Betriebsstättenverlusten kennt, er- achtete der EuGH die Beschränkung der Nieder- lassungsfreiheit durch die zur Frage stehende deutsche Regelung als verhältnismässig.

Dieses Ergebnis überrascht, da Generalanwältin Eleanor Sharpston in ihren Schlussanträgen vom 14. Februar 2008 zum gegenteiligen Ergeb- nis gelangt ist und die Verhältnismässigkeit der deutschen Regelung verneinte. Sie erachtete ei- ne Regelung, die einen sofortigen Verlustabzug zulässt, nach der aber die Verluste in zukünf- tigen Gewinnzeiträumen nachbesteuert werden können, als weniger restriktive Massnahme zur

(5)

Vermeidung einer doppelten Verlustberücksich- tigung als eine Regelung, die eine Abziehbarkeit dieser Verluste vollkommen ausschliesst. (Das schweizerische Recht hat sich in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 und 3 DBG für eine solche Abzugsrege- lung mit Nachbesteuerung entschieden).

Welche Bedeutung der Tatsache zukommt, dass im vorgelegten Fall im Jahre 2003 tatsäch- lich eine Verrechnung des Verlusts mit einem Betriebsstätten gewinn erfolgt ist, ist letztlich nicht vollständig klar. Ebenfalls nicht vollstän- dig geklärt ist die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn Betriebsstättenverluste nur zeitlich beschränkt genutzt werden können (wie z. B.

nach Art. 67 DBG).

Nicht direkt einschlägig ist das Besprechungs- urteil für schweizerische Betriebsstätten europäi- scher Gesellschaften, da der EuGH eine Prüfung nur unter dem Aspekt der Niederlassungsfreiheit und nicht auch der (auch auf Drittstaatensach- verhalte anwendbaren) Kapitalverkehrsfreiheit vorgenommen hat. Die Frage, inwiefern Ver- luste aus einer in einem Drittstaat gelegenen Betriebsstätte im Sitzstaat zu berücksichtigen sind, wurde dem EuGH in der Rechtssache Stahlwerk Ergste Westig GmbH (SEW) zur Beurteilung vorgelegt8. Mit Beschluss vom 6.

November 2007 hielt der EuGH diesbezüglich aber fest, dass die Kapitalverkehrsfreiheit durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt werde.

Entsprechend trat der EuGH nicht näher auf die Rechtssache ein. Insofern kann festgestellt werden, dass nach dem derzeitigen Stand des europäischen Steuerrechts keine Pflicht zur Übernahme von Verlusten aus in Drittstaaten belegenen Betriebsstätten besteht, unabhängig davon, ob die Verluste im jeweiligen Drittstaat geltend gemacht werden können oder nicht.

II EuGH, Urteil v. 26.6.2008 – Rs. C-284/06 (Burda)

Nachbesteuerung von Gewinnen im Zeitpunkt der Ausschüttung

1. Eine Bestimmung des nationalen Rechts, nach der bei der Ausschüttung von Gewin- nen durch eine Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft Einkünfte und Vermö- gensmehrungen der Tochtergesellschaft be- steuert werden, die nicht besteuert worden wären, wenn diese sie thesauriert hätte, anstatt sie an die Muttergesellschaft aus- zuschütten, bewirkt keinen Steuerabzug an der Quelle im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuer- system der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten.

2. Art. 43 EG-Vertrag ist dahin auszulegen, dass er der Anwendung einer nationalen Bestimmung wie § 28 Abs. 4 des Körper- schaftsteuergesetzes 1996 in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung nicht entgegensteht, nach der die Besteue- rung der Gewinne, die von einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttet wer- den, unabhängig davon, ob die Muttergesell- schaft in demselben oder in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, ein und demselben Berichtigungsmechanismus unterliegt, auch wenn einer gebietsfremden Muttergesell- schaft im Gegensatz zu einer gebietsansäs- sigen Muttergesellschaft vom Mitgliedstaat der Ansässigkeit ihrer Tochtergesellschaft keine Steuergutschrift gewährt wird.

1 Ausgangssachverhalt

Burda GmbH (nachfolgend Burda) ist eine in Deutschland ansässige Gesellschaft. Burda wurde

8 EuGH, Beschluss v. 6.11.2007 – Rs. C-415/06 (Stahlwerk Ergste Westig GmbH).

(6)

zu je 50% von der in den Niederlanden ansässigen Kapitalgesellschaft RCS sowie der in Deutschland ansässigen Kapitalgesellschaft Burda Internatio- nal Holding GmbH gehalten.

1998 schüttete Burda die Gewinne der Jahre 1996 und 1997 als Dividende aus. Diese Ausschüttung wurde zum Satz von 30% besteuert.

Der in der Folge angerufene Bundesfinanzhof legte die Sache dem EuGH nach Art. 234 EG- Vertrag zur Vorabentscheidung vor9.

2 Vorlagefragen

Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorliegende Gericht wissen, ob die deutsche Regelung, nach der bei der Ausschüttung von Gewinnen durch eine Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft die Einkünfte und Ver- mögensmehrungen der Tochtergesellschaft be- steuert werden, die nicht besteuert worden wä- ren, wenn diese sie thesauriert hätte, anstatt sie an die Muttergesellschaft auszuschütten, einen Steuerabzug an der Quelle im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Mutter-Tochter-Richtlinie10 bewirkt.

Falls dies verneint würde, möchte das vorliegende Gericht mit seiner zweiten Vorlagefragen wissen, ob die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfrei- heit der deutschen Regelung entgegenstehen, wonach die Besteuerung der Gewinne, die von einer in einem EU-Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttet werden, unabhängig davon, ob die Muttergesellschaft in demselben oder in

einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, ein und demselben Berichtigungsmechanismus unterliegt, auch wenn einer gebietsfremden Muttergesellschaft im Gegensatz zu einer ge- bietsansässigen Muttergesellschaft Ansässig- keitsstaat der Tochtergesellschaft keine Steuer- gutschrift gewährt wird.

3 Aus den Entscheidungsgründen Anwendungsbereich der

Mutter-Tochter-Richtlinie

Art. 5 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie sieht vor, dass Gewinnausschüttungen von qualifizie- renden Beteiligungen keinem Steuerabzug an der Quelle unterliegen dürfen. Mit Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung hält der EuGH fest, dass ein Steuerabzug an der Quelle im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, wenn eine Abgabe auf Erträgen von Wertschriften erhoben

9 ABl. EU, C 326 v. 30.12.2006, 33.

10 Richtlinie des Rates vom 23.7.1990 über das ge- meinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (90/435/EWG).

11 EuGH, Urteil v. 8.6.2000 – Rs. C-375/98 (Epson), Slg. 2000, I-4243, Rz. 23; EuGH, Urteil v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 (Athinaïki Zythopoiïa), Slg. 2002, I-6797, Rz. 28 f.; EuGH, Urteil v. 25.09.2003 – Rs. C-58/01 (Océ van der Grinten), Slg. 2003, I-9809, Rz. 47; EuGH, Urteil v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 (Test Claimants in the FII Group Litigation), Slg. 2006, I-11753, Rz. 108.

12 EuGH, Urteil v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Slg. 2006, I-7995, Rz. 31; EuGH, Urteil v. 12.12.2006 – Rs. C-374/04 (Test Claimants in Class IV oft he ACT Group Litigation), Slg. 2006, I-11673, Rz. 39; EuGH, Urteil v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 (Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation), Slg. 2007, I-2107; EuGH, Urteil v. 6.12.2007 – Rs. C-298/05 (Columbus Container Services), Rz. 29.

NL D Besteuerung

zu 30%

Dividende

Burda GmbH RCS

50%

(7)

wird und der Steuerpflichtige der Inhaber die- ser Wertschriften ist11. Da dies auf die fragliche deutsche Regelung nicht zutreffe, ist nach Auf- fassung des EuGH vorliegend die Mutter-Toch- ter-Richtlinie nicht anwendbar.

Anwendungsbereich der Kapital- verkehrsfreiheit

Unter Berufung auf seine ständige Rechtspre- chung hält der EuGH fest, dass die Niederlas- sungsfreiheit immer dann anwendbar sei, wenn eine Person eine Beteiligung an einer anderen Gesellschaft hält, die ihr einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der anderen Gesell- schaft verschafft und es ihr ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen12.

Der EuGH hält sodann fest, dass eine Beteiligung von 50% am Grundkapital von Burda RCS das Recht verleihe, einen sicheren und entschei- denden Einfluss auf die Tätigkeit ihrer Tochter- gesellschaft auszuüben und somit in den Anwen- dungsbereich der Niederlassungsfreiheit falle.

Da die Anwendung der deutschen Rechtsvor- schriften nicht vom Umfang des Beteiligungs- verhältnisses abhänge, fielen diese sowohl in den Anwendungsbereich der Kapitalverkehrs- freiheit als auch der Niederlassungsfreiheit. Da das Ausgangsverfahren jedoch ausschliesslich die Auswirkungen der dort streitigen nationalen Rechtsvorschriften auf die Situation einer ge- bietsansässigen Gesellschaft betreffe, die Divi- denden an Anteilseigner ausgeschüttete habe, deren Beteiligungen ihnen einen sicheren Ein- fluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaft verschaffe, sei die zweite Vorlagefrage vorliegend bloss im Hinblick auf die Niederlassungsfrei- heit zu beantworten. Eine allfällige Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit sei bloss eine un- vermeidliche Konsequenz einer eventuellen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und rechtfertige keine eigenständige Prüfung.

Beschränkung der Niederlassungsfreiheit Der EuGH führt aus, dass der im Ausgangsver- fahren fragliche Berichtigungsmechanismus ge- währleisten soll, dass die von der ausschüttenden Gesellschaft entrichtete Steuer nach Berichtigung der dem Anteilseigner zu Unrecht gewährten Steuergutschrift entspreche. Mithin werde mit dem fraglichen Berichtigungsmechanismus ver- hindert, dass eine Steuergutschrift für eine nicht gezahlte Steuer gewährt werde. Somit beziehe sich die Berichtigung nicht auf den Betrag der Steuergutschrift, sondern auf denjenigen der von der ausschüttenden Gesellschaft entrichteten Steuer. Da die deutschen Vorschriften jedoch auch auf Tochtergesellschaften von inländischen Mut- tergesellschaften anwendbar sind liegt nach Auf- fassung des EuGH keine Diskriminierung vor.

Unter Berufung auf Art. 4 der Mutter-Tochter- Richtlinie hält der EuGH sodann fest, dass es nicht die Sache des Quellenstaats, sondern des Ansässigkeitsstaats der Muttergesellschaft sei, die wirtschaftliche Doppelbelastung zu beseiti- gen. Entsprechend kam der EuGH zum Schluss, dass keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit vorliege.

4 Anmerkungen

Das dem Besprechungsurteil zugrunde liegende deutsche Steuerregime sah im Wesentlichen vor, dass bisher unbesteuerte Eigenkapitalanteile im Zeitpunkt der Ausschüttung nachbesteuert wer- den und so eine Steuerbelastung von 30% erreicht wurde. Um eine wirtschaftliche Doppelbelastung zu vermeiden, wurde einer in Deutschland an- sässigen Aktionärin eine korrespondierende Steu- ergutschrift gewährt. Ausländischen Aktionären wurde keine Steuergutschrift gewährt.

Bemerkenswert ist, dass der EuGH die Anwend- barkeit der Mutter-Tochter-Richtlinie vorliegend verneint hat. Er wendet sich damit von der in der

(8)

Rechtssache Athinaïki Zythopoiïa vertretenen wirtschaftlichen Auslegung des Begriffs des

«Steuerabzugs an der Quelle» ab. Aus schwei- zerischer Sicht interessiert diesbezüglich natür- lich, inwiefern dies auch auf die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 ZBstA zu übertragen ist. Im Gegen- satz zu Art. 5 Abs. 1 Mutter-Tochter-Richtlinie ver- wendet Art. 15 Abs. 1 ZBstA aber die Formulierung

«Steuerabzug an der Quelle» nicht. Vielmehr verbietet Art. 15 Abs. 1 ZBstA die Besteuerung von Dividendenzahlungen von Tochtergesellschaften an Muttergesellschaften im Quellenstaat. Ob die Steuer an der Quelle abgezogen wird oder auf dem Veranlagungswege erhoben wird, ist für die Zwecke von Art. 15 Abs. 1 ZBstA unerheblich13. Somit können die im Besprechungsurteil vom EuGH gemachten Ausführungen zum Begriff des «Steuerabzugs an der Quelle» nicht tel quel auf Art. 15 Abs. 1 ZBstA übertragen werden. Die Formulierung von Art. 15 Abs. 1 ZBstA knüpft vielmehr an Art. 1 Abs. 1 der Zins-/Lizenzricht- linie14 an. Die in der Literatur geäusserten Zwei- fel, inwiefern das Besprechungsurteil für den Anwendungsbereich der Zins-Lizenzrichtlinien einschlägig sei15, müssen somit auch mit Bezug auf Art. 15 Abs. 1 ZBstA gelten.

Die Ausführungen des EuGH zum Verhältnis von Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfrei- heit sind wenig klar. Seit dem in der Rechtssache Holböck ergangenen Urteil des EuGH16 schien klar zu sein, dass es mit Bezug auf die Abgren- zung der beiden Grundfreiheiten nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse ankomme, sondern auf den Gegenstand der betroffenen nationalen Regelung17. Insofern ist nicht ersichtlich, wieso der EuGH vorliegend eine Verdrängung der Kapi- talverkehrsfreiheit durch die Niederlassungsfrei- heit bejaht hat, obwohl die fragliche deutsche Regelung auch auf Portfolio-Beteiligungen an- wendbar ist. Aus der vom EuGH in diesem Zu- sammenhang zitierten Randziffer 38 des in der Rechtssache Test Claimants in the FII Group

Litigation ergangenen Urteils lässt sich dies so jedenfalls nicht entnehmen. Das diesbezüglich ebenfalls angeführte Urteil des EuGH in der Rechtssache Oy AA betraf demgegenüber eine Regelung, welche bloss auf qualifizierte Beteili- gungen anwendbar war, sodass die Verdrängung der Kapitalverkehrsfreiheit durch die Nieder- lassungsfreiheit im Lichte der Rechtsprechung des EuGH konsequent war18. Die Zukunft wird zeigen, ob die fragliche Stelle des Besprechungs- urteils tatsächlich eine Beschränkung des An- wendungsbereichs der Kapitalverkehrsfreiheit einläuten soll. Dies wäre aus Sicht der Schweiz natürlich bedauerlich, da die Kapitalverkehrs- freiheit im Gegensatz zur Niederlassungsfreiheit auch auf Drittstaaten anwendbar ist.

B Mehrwertsteuer19

I EuGH, Urteil v. 13.3.2008 – Rs. C-437/06 (Securenta)20

Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs bei Aufwendungen im Zusammenhang mit der Ausgabe von Aktien und atypischen stillen Beteiligungen

1 Ausgangssachverhalt

Die in Deutschland ansässige Securenta Göt- tinger Immobilienanlagen und Vermögens- management AG («Securenta») betrieb im Streitjahr 1994 den Erwerb, die Verwaltung und die Verwertung von Immobilien, Wertpapieren, Beteiligungen und Vermögensanlagen jeglicher Art. Das hierfür erforderliche Kapital erwarb sie sich durch Ausgabe von Gesellschaftsanteilen (Aktien und atypische stille Beteiligungen).

Im Jahr 1994 erzielte Securenta steuerpflichti- ge Umsätze in Höhe von DEM 2 959 800. Der Gesamtumsatz von Securenta belief sich auf DEM 6 480 006. Hierin enthalten waren Dividen-

(9)

den in Höhe von DEM 226 642 und Erträge aus der Veräusserung von Wertpapieren in Höhe von DEM 1 389 930, insgesamt also DEM 1 616 572.

Von den Vorsteuerbeträgen in Höhe von insge- samt DEM 6 838 535 war der überwiegende Teil, nämlich DEM 6 161 679, nicht bestimmten Aus- gangsumsätzen zuzuordnen.

Im Verwaltungsverfahren zur Festsetzung der steuerlichen Verpflichtungen von Securenta führte diese aus, dass sämtliche Vorsteuerbeträ- ge, die auf Aufwendungen für den Erwerb neuen Kapitals entfielen, abzugsfähig seien, weil mit der Ausgabe von Aktien eine Stärkung ihres Ka- pitals verbunden sei und dieser Umsatz ihrer ge- samten wirtschaftlichen Tätigkeit gedient habe.

Das Finanzamt liess die Vorsteuer, die auf Auf- wendungen für die Ausgabe atypischer stiller Be- teiligungen entfiel, in Höhe von DEM 4 171 424 und die den Vermietungsumsätzen von Secu- renta zuzurechnenden Vorsteuerbeträge in Hö- he von DEM 676 856 nicht zum Abzug zu. Es setzte sodann für die nicht direkt bestimmten Ausgangsumsätzen zuzurechnenden Vorsteuer- beträge einen Wert von DEM 1 990 254 an. Hier- von ausgehend bestimmte das Finanzamt mit Hilfe eines Verteilungsschlüssels von rund 45%, der sich aus der Anwendung eines Kriteriums ergab, bei dem auf den Umfang der Vermögens- anlagen abgestellt wird, einen Anteil, sodass sich die abzugsfähigen Vorsteuerbeträge auf DEM 1 567 616 und der Erstattungsbetrag für das Jahr 1994 auf DEM 1 123 647 beliefen.

Securenta focht diese Entscheidung zunächst erfolglos vor dem Finanzgericht Niedersachen an, welches nach Aufhebung des ersten Urteils durch den Bundesgerichtshof abermals mit dem Rechtsstreit befasst, das Verfahren aussetzte und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentschei- dung nach Art. 234 EG vorlegte21:

2 Vorlagefragen

(1) Bestimmt sich die Vorsteuerabzugsberech- tigung für den Fall, dass ein Steuerpflichtiger gleichzeitig einer unternehmerischen und einer

13 Vgl. Oesterhelt/Winzap, Quellensteuerbefreiung von Dividenden, Zinsen und Lizenzen durch Art. 15 Zinsbesteuerungsabkommen, ASA 74 (2005/2006), 449 ff., 485.

14 Richtlinie des Rates vom 3.6.2003 über eine gemein- same Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (2003/49/EG).

15 Vgl. Rehm/Nagler, Anmerkungen zum EuGH-Urteil

«Burda», IStR 2008, 511 f.

16 EuGH, Urteil v. 24.5.2007 – Rs. C-157/05 (Holböck), Slg. 2007, I-4051, Rz. 22.

17 Vgl. dazu eingehend Stefan Oesterhelt, Bedeutung der Kapitalverkehrsfreiheit für die Schweiz, ST 2008, 256 ff., 259 f.

18 Vgl. EuGH, Urteil v. 18.7.2007 – Rs. C-231/05 (Oy AA), Slg. 2007, I-6373.

19 Im Weiteren sei noch auf folgende in den Berichtszeit- raum vom 1. April 2008 bis zum 30. Juni 2008 fallen- de Urteile des EuGH zur Mehrwertsteuer verwiesen:

EuGH, Urteil v. 3.4.2008 – Rs. C-442/05 (Zweckver- band zur Trinkwasserversorgung und Abwässer- be seitigung Torgau-Westelbien) zum ermässigten Steuersatz für das Legen einer Hausanschlussleitung zur Wasserversorgung; Urteil v. 10.4.2008 – Rs. C-309/06 (Marks & Spencer) zur Bereicherungs- einrede bei der Bemessung von Rückforderungs- ansprüchen des Steuerpflichtigen bei zuviel entrichteter Mehrwertsteuer; Urteil v. 22.5.2008 – Rs. C-162/07 (Ampliscientifica und Amplifin) zur Umsetzung der Regelung über einen einzigen Steuerpflichtigen, Organschaft/Gruppenbesteuerung, durch einen EU-Mitgliedstaat; sowie Urteil v. 12.6.2008 – Rs. C-462/05 (Kommission/Portugal) zur Anwendung des ermässigten Steuersatzes auf Maut für die Strassenbrücken über den Tejo in Lissabon.

20 EuGH, Urteil v. 13.3.2008 – Rs. C-437/06 (Securenta), ABl. EU, C 116 v. 9.5.2008, 7, noch nicht in

Slg. veröffentlicht.

21 Niedersächisches Finanzgericht (Deutschland), Vorabentscheidungersuchen v. 24.10.2004, ABl. EU, C 326 v. 30.12.2006, 34.

(10)

nichtunternehmerischen Tätigkeit nachgeht, nach dem Verhältnis der steuerbaren und steu- erpflichtigen Umsätze einerseits zu den steuer- baren und steuerfreien Umsätzen andererseits, oder ist der Vorsteuerabzug nur insoweit zuläs- sig, als die mit der Ausgabe von Aktien und stil- len Beteiligungen verbundenen Aufwendungen der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Art. 2 Nr. 1 der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: Art. 2 Abs. 1 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] zuzurechnen sind?

(2) Für den Fall, dass ein Vorsteuerabzug nur insoweit zulässig ist, als die mit der Ausgabe von Aktien und stillen Beteiligungen verbundenen Aufwendungen der wirtschaftlichen Tätigkeit zuzurechnen sind: Ist die Aufteilung der Vor- steuerbeträge in einen unternehmerischen und einen nichtunternehmerischen Bereich nach einem sogenannten «Investitionsschlüssel»

vorzunehmen, oder ist in entsprechender An- wendung des Art. 17 Abs. 5 der 6. MWST-Richt- linie 77/388/EWG [neu: Art. 173 Abs. 1 und 2 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] auch ein «Umsatzschlüssel» sachgerecht?

3 Aus den Entscheidungsgründen Vorrangige Aufteilung auf den

unternehmerischen und den nichtunter- nehmerischen Bereich

Eingangs seiner Antwort auf die erste Frage stellt der EuGH zunächst fest, dass Securenta drei Arten von Tätigkeiten ausübe, und zwar erstens nicht- wirtschaftliche und als solche nicht in den An- wendungsbereich der 6. MWST-Richtlinie 77/388/

EWG [neu: MWST-System-Richtlinie 2006/112/

EG] fallende Tätigkeiten, zweitens wirtschaftliche und demzufolge in deren Anwendungsbereich fallende, aber von der Mehrwertsteuer befreite Tä- tigkeiten und drittens wirtschaftliche Tätigkeiten, die steuerpflichtig sind. Daher stelle sich in die-

sem Zusammenhang die Frage, ob und gegebe- nenfalls in welchem Umfang ein Steuerpflichti- ger zum Abzug der Vorsteuern auf Aufwendungen berechtigt sei, die keinen bestimmten Ausgangs- tätigkeiten zugeordnet werden könnten.

Was die Aufwendungen im Zusammenhang mit der Ausgabe von Aktien oder atypischen stillen Beteiligungen angehe, berechtige die hierauf entrichtete Mehrwertsteuer nur dann zum Vorsteuerabzug, wenn die betreffenden Aufwendungen zu den Kostenelementen der versteuerten, zum Abzug berechtigenden Aus- gangsumsätzen gehörten22. Demnach könne die Vorsteuer auf Aufwendungen im Zusam- menhang mit der Ausgabe von Aktien und atypischen stillen Beteiligungen nur dann zum Abzug berechtigen, wenn das so erworbene Ka- pital für die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Be- troffenen eingesetzt worden sei. Wie der EuGH nämlich bereits entschieden habe, betreffe die mit der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG]

geschaf fene Regelung über den Vorsteuerabzug alle wirtschaftlichen Tätigkeiten eines Steuer- pflichtigen unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen23.

Vorliegend seien die Aufwendungen für Leis- tungen im Rahmen der Ausgabe von Aktien und Kapitalbeteiligungen nicht ausschliesslich wirtschaftlichen Ausgangstätigkeiten von Secu- renta zuzurechnen, sodass sie nicht allein zu den Kostenelementen der auf diese Tätigkeiten entfallenden Umsätze gehörten. Wäre dies aller- dings der Fall gewesen, hätten die betreffenden Leistungen im direkten und unmittelbaren Zu- sammenhang mit den wirtschaftlichen Tätig- keiten des Steuerpflichtigen gestanden24. Den vorliegenden Akten sei jedoch zu entnehmen, dass die Aufwendungen von Securenta für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fi- nanzgeschäfte zumindest teilweise der Aus-

(11)

übung nichtwirtschaftlicher Tätigkeiten gedient hätten. Die Vorsteuer auf Aufwendungen eines Steuerpflichtigen könne jedoch nicht zum Abzug berechtigen, soweit sie sich auf Tätigkeiten be- ziehe, die aufgrund ihres nichtwirtschaftlichen Charakters nicht in den Anwendungsbereich der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: MWST- System-Richtlinie 2006/112/EG] fielen.

Ermessen der EU-Mitgliedstaaten bei der Wahl des Aufteilungsschlüssels unter Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes Hinsichtlich der konkreten Vorsteueraufteilung stellt der EuGH sodann fest, dass die 6. MWST- Richtlinie 77/388/EWG [neu: MWST-System- Richtlinie 2006/112/EG] nicht regele, welche Methoden oder Kriterien die EU-Mitgliedstaaten anwenden müssten, wenn sie Bestimmungen er- lassen, die eine Aufteilung der Vorsteuerbeträge danach zulassen, ob sich die entsprechenden Aufwendungen auf wirtschaftliche oder auf nichtwirtschaftliche Tätigkeiten beziehen. Denn die Regelungen in Art. 17 Abs. 5 und Art. 19 der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: Art. 173

und Art. 174-175 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] beträfen ausschliesslich die Vor- steuer auf Aufwendungen im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Tätigkeiten, wobei sie diese in steuerpflichtige, zum Vorsteuerabzug berechtigende und steuerfreie Tätigkeiten ohne Recht zum Vorsteuerabzug unterteilen. Damit die Steuerpflichtigen die notwendigen Berech- nungen anstellen könnten, obliege es den EU-Mitgliedstaaten, unter Beachtung der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Prinzipien die hierfür geeigneten Me- thoden und Kriterien festzulegen.

Hierzu habe der EuGH bereits entschieden, dass die EU-Mitgliedstaaten für den Fall, dass die 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: MWST- System-Richtlinie 2006/112/EG] nicht die für solche bezifferten Festlegungen erforderlichen Angaben enthalte, gehalten seien, die entspre- chende Befugnis unter Berücksichtigung von Zweck und Systematik dieser Richtlinie wahr- zunehmen25. Insbesondere müssten die Mass- nahmen, die die EU-Mitgliedstaaten insoweit zu treffen haben, den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten, auf dem das Gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht. Folglich hätten die EU-Mitgliedstaaten ihr Ermessen so aus- zuüben, dass der Abzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer erfolgt, der auf die zum Abzug berechtigenden Umsätze entfällt. Sie müssten also darauf achten, dass die Berechnung des Ver- hältnisses zwischen wirtschaftlichen und nicht- wirtschaftlichen Tätigkeiten objektiv widerspie- gelt, welcher Teil der Eingangsaufwendungen jeder dieser beiden Tätigkeiten tatsächlich zu- zurechnen ist. Dem fügt der EuGH abschliessend hinzu, dass die EU-Mitgliedstaaten bei der Aus- übung ihres Ermessens gegebenenfalls einen In- vestitionsschlüssel, einen Umsatzschlüssel oder jeden anderen geeigneten Schlüssel verwenden dürften und nicht verpflichtet seien, sich auf eine einzige dieser Methoden zu beschränken.

22 Vgl. EuGH, Urteil v. 22.2.2001 – Rs. C-408/98 (Abbey National), Slg. 2001, I-1361, Rz. 28, Urteil v. 27.9.2001 – Rs. C-16/00 (Cibo Participations), Slg. 2001, I 6663, Rz. 31, und Urteil v. 8.2.2007 – Rs. C-435/05 (Investrand), Slg. 2007, I-1315, Rz. 23.

23 Vgl. EuGH, Urteil v. 21.3.2000 – Rs. C-110/98 bis C-147/98 (Gabalfrisa u. a.), Slg. 2000, I-1577, Rz. 44, Urteil v. 8.6.2000 – Rs. C-98/98 (Midland Bank), Slg. 2000, I 4177, Rz. 19, und Urteil v. 22.2.2001 – Rs. C-408/98 (Abbey National), Slg. 2001, I-1361, Rz. 24.

24 Vgl. EuGH, Urteil v. 22.2.2001 – Rs. C-408/98 (Abbey National), Slg. 2001, I-1361, Rz. 35 und 36 sowie Urteil v. 27.9.2001 – Rs. C-16/00 (Cibo Partici- pations), Slg. 2001, I 6663, Rz. 33.

25 Vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil v. 14.9.2006 – Rs. C-72/05 (Wollny), Slg. 2006, I-8297, Rz. 28.

(12)

4 Anmerkung

Der EuGH interpretiert in der vorliegenden Ent- scheidung seine Urteile in der Rechtssache Cibo Participations26 und Kretztechnik27 – nicht ganz überraschend – dahingehend, dass der Vorsteuerabzug anlässlich der Ausgabe eigener Anteile nur dann vollumfänglich gewährt wer- den kann, wenn sie auch tatsächlich der ge- samten wirtschaftlichen Tätigkeit dienen. Vor- steuerbeträge, die wie in Securenta aufgrund der Ausgangsfeststellungen des vorlegenden Gerichts vom EuGH nicht hinterfragt, sowohl mit dem unternehmerischen als auch mit dem nichtunternehmerischen Bereich im Zu- sammenhang stehen, sind demnach in einem ersten Schritt auf beide Bereiche aufzuteilen.

Erst in einem zweiten Schritt hat hinsichtlich der dem unternehmerischen Bereich zurechen- baren Vorsteuerbeträge eine Aufteilung auf die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden steu- erfreien und die zum Vorsteuerabzug berechti- genden steuerpflichtigen Umsätze zu erfolgen (eigentliche Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs im Sinne von Art. 173–175 der MWST-System-Richtlinie) während der Ab- zug der dem nichtunternehmerischen Bereich zuordnenbare Vorsteuerbeträge bereits nach dem ersten Schritt endgültig ausscheidet. Hinsicht- lich der Zuordnung der Vorsteuerbeträge zum unternehmerischen und nichtunternehme- rischen Bereich weist der EuGH allerdings ledig- lich darauf hin, dass die Regelungen der MWST- System-Richtlinie keinerlei Aufteilungsmethode vorsehen und deswegen den EU-Mitgliedstaaten insoweit ein Ermessen zusteht, wobei der Grund- satz der Neutralität der Mehrwertsteuer insoweit Grenzen setzt. Es ist damit zu rechnen, dass zukünftige gerichtliche Auseinandersetzungen sich massgeblich um die Ermittlung des rich- tigen Aufteilungsmassstabs drehen werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass

be züglich des Vorsteuerabzugs im Zusammen- hang mit Kapitalbeschaffungsmassnahmen – bei ausschliesslicher Verwendung des erwor-

benen Kapitals zur Finanzierung nichtunter- nehmerischer Tätigkeiten der Vorsteuerabzug vollständig zu versagen ist;

– bei ausschliesslicher Verwendung des erwor- benen Kapitals zur Finanzierung unterneh- merischer Tätigkeiten die Aufwendungen in vollem Umfang zu den allgemeinen Kosten des Unternehmens gehören, sodass im ersten Schritt keine Vorsteuerkürzung vorzunehmen ist;

– bei Verwendung des erworbenen Kapitals zur Finanzierung sowohl unternehmerischer als auch nichtunternehmerischer Tätigkeiten bereits im ersten Schritt eine Vorsteuerauftei- lung vorzunehmen ist.

In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH in Polysar28 und Floridienne/

Berginvest29 geht die Eidg. Steuerverwaltung in ihrer Verwaltungspraxis30 davon aus, dass Hol- dinggesellschaften, die ausschliesslich Beteili- gungen halten und keine steuerbaren Umsätze tätigen, nicht steuerpflichtig sind und folglich auch keine Berechtigung zum Vorsteuerabzug haben. Anders ist es, wenn die Holdinggesell- schaften gegenüber ihren Tochtergesellschaften oder Dritten (nachhaltig) steuerbare Leistungen erbringen. Erzielt eine Holdinggesellschaft also steuerbare Einnahmen, wird sie grundsätzlich steuerpflichtig. Aus dem Wortlaut des Art. 38 MWSTG und insbesondere dessen Abs. 4 schliesst die Eidg. Steuerverwaltung jedoch, dass nicht nur von der Steuer ausgenommene (= unecht steuerbefreite) Umsätze, sondern auch nicht als Umsätze geltende Einnahme (sog. Nicht- Umsätze) vorsteuerschädlichen Charakter ha- ben und wie ausgenommene Umsätze zu be- handeln sind. Zu diesen vorsteuerschädlichen Nicht-Umsätzen zählt die Eidg. Steuerverwal- tung auch Dividendenerträge, während seit Ci-

(13)

bo Participation31 und Welthgrove32 gemein- schaftsrechtlich feststeht, dass der Bezug von Dividenden nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fällt und (bei im Übrigen gegebener Steuerpflicht) keinen Einfluss auf die Bildung des Pro-rata Satzes des Vorsteuerabzugs hat33. Gemindert werden die Konsequenzen der nicht gemeinschaftsrechtskonformen Praxis der Eidg. Steuerverwaltung durch die Möglichkeit der pauschalen Ermittlung der erforderlichen Vorsteuerabzugskürzung für die gemischt ver- wendeten Gegenstände und Dienstleistungen.

Danach ist es zulässig, dass eine pauschale Vorsteuerkürzung mit 0,02% der vorsteuer- schädlichen Dividendenerträge vorgenommen wird34. Nach einer seit dem 1.1.2005 geltenden

Praxisänderung der Eidg. Steuerverwaltung sind ferner auch Vorsteuerbelastungen auf Kosten bei Kapitalerhöhungen/Fremdkapitalbeschaffung zugelassen, wenn sie im Rahmen der steuer- baren Geschäftstätigkeit anfallen und zudem in der Buchhaltung verbucht werden35.

II EuGH, Urteil v. 3.4.2008 – Rs. C-124/07 (J.C.M. Beheer BV)36 Steuerbefreiung bei Untervermittlung von Versicherungsumsätzen

Art. 13 Teil B Bst. a der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: Art. 135 Abs. 1 Bst. a der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass ein Versicherungsmakler oder -vertreter zu den Parteien des Versicherungs- oder Rück- versicherungsvertrags, zu dessen Abschluss er beiträgt, keine unmittelbare Verbindung, sondern nur eine mittelbare Verbindung über einen anderen Steuerpflichtigen unter- hält, der selbst in unmittelbarer Verbindung zu einer dieser Parteien steht und mit dem der Versicherungsmakler oder -vertreter ver- traglich verbunden ist, es nicht ausschliesst, dass die von dem Letztgenannten erbrachte Leistung nach dieser Bestimmung von der Mehrwertsteuer befreit wird.

1 Ausgangssachverhalt

J.C.M. Beheer BV («Beheer»), eine Gesellschaft des niederländischen Rechts, ist als Unterver- treterin der VDL Polisassuradeuren BV («VDL») tätig, die ihrerseits als Versicherungsmaklerin und -vertreterin tätig ist. VDL wird zum einen als Vermittlerin beim Abschluss von Versicherungs- verträgen tätig und handelt zum anderen als Bevollmächtigte für bestimmte Versicherungs- gesellschaften. In dieser Eigenschaft schliesst VDL selbständig Versicherungsverträge im Na-

26 EuGH, Urteil v. 27.9.2001 – Rs. C-16/00 (Cibo Participations), Slg. 2001, I 6663.

27 EuGH, Urteil v. 26.5.2005 – Rs. C-465/03 (Kretztechnik), Slg. 2005, I-4357.

28 EuGH, Urteil v. 20.6.1991 – Rs.C-60/90 (Polysar), Slg. 1991 I-3111, Rz. 17.

29 EuGH, Urteil v. 1411.2000 – Rs. C-142/99 (Floridienne/Berginvest), Slg. 2000 I-9567, Rz. 17.

30 ESTV, SB Nr. 06 – Kürzung des Vorsteuerabzugs bei gemischter Verwendung (Neufassung gültig seit dem 1.1.2008), Ziff. 7.4.1.

31 EuGH, Urteil v. 27.9.2001 – Rs. C-16/00 (Cibo Participations), Slg. 2001, I-6663.

32 EuGH, Urteil v. 12.7.2001 – Rs. C-102/00 (Welthgrove), Slg. 2001, I-5679.

33 Es wird sich weisen, ob der Bezug von Dividenden nach Securenta bei der Aufteilung der Vorsteuer- beträge auf den – soweit vorhanden – unternehme- rischen und nichtunternehmerischen Bereich (1. Schritt der Ermittlung) zukünftig auch in der EU eine Rolle spielen wird.

34 Vgl. ESTV, Praxismitteilung betr. Praxisänderungen ab dem 1.7.2005, Ziff. 2.8 sowie SB Nr. 06, Ziff. 7.4.1.

35 Vgl. ESTV, Praxismitteilung betr. Praxisänderungen ab dem 1.1.2005, Ziff. 2.4 sowie SB Nr. 06, Ziff. 1.2.2.2.

36 EuGH, Urteil v. 3.4.2008 – Rs. C-124/07 (J.C.M.

Beheer BV), ABl. EU, C 128 v. 24.5.2008, 14, noch nicht in Slg. veröffentlicht.

(14)

men dieser Versicherungsgesellschaften ab. Die Leistungen, die Beheer im Namen und für Rech- nung von VDL ausführt, betreffen den Abschluss von Versicherungsverträgen, die Behandlung von Policenänderungen, die Ausstellung von Versicherungspolicen, die Verrechnung von Provisionen sowie die Erteilung von Auskünf- ten gegenüber der Versicherungsgesellschaft und den Inhabern von Policen. Ferner initiiert sie selbständig Anträge auf neue Versicherungen und deren Annahme. Beheer erhält von VDL für die von ihr erbrachten Leistungen eine Vergü- tung in Höhe von 80% der Provisionen, die VDL für den Abschluss eines Versicherungsvertrags erhält.

Der niederländische Belastingdienst war der Auf- fassung, dass die Leistungen nicht steuerbefreit seien, da Beheer weder zu den Versicherungs- nehmern noch zu den Versicherungsgesell- schaften in unmittelbaren Rechtsbeziehungen stand, und erhob für die Steuerjahre 1997 bis 1998 Mehrwertsteuern in Höhe von NLG 55 561 nach. Nach erfolglosem Einspruch und Zurück- weisung ihres beim Gerechtshof’s-Hertogen- bosch eingelegten Rechtsmittels legte Beheer beim Hoge Raad der Nederlanden Kassations- beschwerde ein. Dieser war der Ansicht, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits einer Aus- legung des Gemeinschaftsrechts bedürfe, und beschloss daher, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Frage zur Vorabentschei- dung nach Art. 234 EG vorzulegen37:

2 Vorlagefragen

Erstreckt sich Art. 13 Teil B Bst. a der 6. MWST- Richtlinie 77/388/EWG [neu: der Art. 135 Abs. 1 Bst. a der MWST-System-Richtlinie 2006/112/

EG] auf die Tätigkeiten einer (juristischen) Person, die kennzeichnende und wesentliche Tätigkeiten eines Versicherungsmaklers und -vertreters verrichtet, wobei beim Zustande-

kommen von Versicherungsverträgen im Na- men eines anderen Versicherungsmaklers oder Versicherungsvertreters vermittelt wird?

3 Aus den Entscheidungsgründen Zu Versicherungs- und Rückversicherungs- umsätzen gehörende Dienstleistungen Nach Ansicht des EuGH sei zunächst zu be- stimmen, ob die Dienstleistungen, die Beheer erbringt, unbeschadet dessen, dass sie zu einer der Parteien eines Versicherungsvertrags, zu des- sen Abschluss sie beiträgt, nur mittelbare Bezie- hungen über einen anderen Steuerpflichtigen unterhält, der selbst in unmittelbarer Beziehung zu dieser Partei steht und mit dem die Klägerin vertraglich verbunden ist, dennoch zu Versiche- rungs- und Rückversicherungsumsätzen gehö- rende Dienstleistungen sind, die von Versiche- rungsmaklern und -vertretern erbracht werden im Sinne von Art. 13 Teil B Bst. a der 6. MWST- Richtlinie 77/388/EWG [neu: der Art. 135 Abs. 1 Bst. a der MWST-System-Richtlinie 2006/112/

EG]. Insoweit sei daran zu erinnern, dass die Anerkennung der Eigenschaft eines Versiche- rungsmaklers oder -vertreters vom Inhalt der in Rede stehenden Tätigkeiten abhängt38. Hierzu genüge die Feststellung, dass die Art der von Be- heer ausgeführten Tätigkeiten unbestreitbar die Merkmale der Tätigkeiten eines Versicherungs- maklers oder -vertreters aufweise.

Verhältnis des Versicherungsmaklers/- vertreters zu den Parteien

des Versicherungsvertrages

Was das Verhältnis des Versicherungsmaklers oder -vertreters zu den Parteien eines Versiche- rungsvertrags angehe, zu dessen Abschluss er beigetragen hat, enthalten weder die 6. MWST- Richtlinie 77/388/EWG [neu: MWST-System-

(15)

Richtlinie 2006/112/EG] noch die Richtlinie 77/92/EWG des Rates über Massnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleis- tungsverkehrs für die Tätigkeiten des Versiche- rungsagenten und des Versicherungsmaklers insoweit einen Anhaltspunkt. Der EuGH habe je- doch bereits in Taksatorringen festgestellt, dass der Ausdruck «dazugehörige Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden» in Art. 13 Teil B Bst. a der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: der Art. 135 Abs. 1 Bst. a der MWST-System-Richt- linie 2006/112/EG] allein die Dienstleistungen der Berufsausübenden erfasse, die zugleich mit dem Versicherer und dem Versicherten in Ver- bindung stehen39.

Mittelbare Beziehung des Untervertreters Insoweit tritt der EuGH der namentlich von der niederländischen Regierung vertretenen Auffassung entgegen, dass Beheer für die Inan- spruchnahme der Steuerbefreiung unmittelbare Beziehungen zu den Parteien des Versicherungs- vertrags hätte unterhalten müssen. Aus der Vor- lageentscheidung gehe nämlich hervor, dass Be- heer zwar nicht förmlich mit den Versicherern verbunden sei, für deren Rechnung VDL tätig wird, doch zu ihnen mittelbar Beziehungen

unterhalte. So sei Beheer über den Vertrag, durch den sie mit VDL verbunden ist, die selbst in einem Vertragsverhältnis zu den Versicherern steht, mit diesen dadurch mittelbar verbunden, dass sie im Namen und für Rechnung von VDL handle. Ferner habe der EuGH in seiner Recht- sprechung, auf die die niederländische Regie- rung ihre Auslegung stützt, nicht angegeben, welcher Art die Verbindung zwischen dem Ver- sicherungsmakler oder -vertreter und den Par- teien des Versicherungsvertrags sein müsse, und er habe daher die Art dieser Verbindung nicht auf eine bestimmte Form beschränkt. Zwar habe der EuGH die Ansicht vertreten, dass die Tätigkeit der Steuerpflichtigen, um die es in den mit den Urteilen Taksatorringen und Arthur Andersen abgeschlossenen Rechtssachen ging, ihrem Wesen nach keine zu Versicherungsum- sätzen gehörende Tätigkeit gewesen sei, die von einem Versicherungsmakler oder -vertreter er- bracht wird, doch habe er die Verbindung, die diese Steuerpflichtigen zu den Versicherern und den Versicherten unterhielten, nicht geprüft40. Deshalb könne Beheer die in Art. 13 Teil B Bst. a der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu:

der Art. 135 Abs. 1 Bst. a der MWST-System- Richtlinie 2006/112/EG] vorgesehene Steuer- befreiung nicht allein deshalb versagt werden, weil sie keine unmittelbare Verbindung zu den Versicherern unterhält, für deren Rechnung sie mittelbar, als Untervertreterin von VDL, bei den Versicherungsnehmern tätig wird.

Aufteilung der Tätigkeit eines Versicherungsmaklers/-vertreters

Ferner schliesse Art. 13 Teil B Bst. a der 6. MWST- Richtlinie 77/388/EWG [neu: der Art. 135 Abs. 1 Bst. a der MWST-System-Richtlinie 2006/112/

EG] seinem Wortlaut nach nicht grundsätzlich aus, dass die Tätigkeit eines Versicherungs- maklers und -vertreters sich in verschiedene

37 Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande), Vorabentscheidungsersuchen v. 18.11.2005 ABl. EU, C 22 v. 28.1.2006, 8.

38 Vgl. EuGH, Urteil v.3.3.2005 – Rs. C-473/03 (Arthur Andersen), Slg. 2005, I-1719, Rz. 32.

39 Vgl. EuGH, Urteil v. 20.11.2003 (Taksatorringen), Slg. 2003, I-13711, Rz. 44.

40 Vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil v. 20.11.2003 (Taksatorringen), Slg. 2003, I-13711, Rz. 44-46 und Urteil v. 3.3.2005 – Rs. C-473/03 (Arthur Andersen), Slg. 2005, I-1719, Rz. 36.

(16)

Dienstleistungen aufteilen lasse, die als solche unter den Begriff «[zu den Versicherungs- und Rückversicherungsumsätzen gehörende]

Dienstleistungen, die von Versicherungs- maklern und -vertretern erbracht werden»

fallen41. Unter diesen Umständen folge aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Wirtschaftsteilnehmer in der Lage sein müssten, das Organisationsmodell zu wählen, das ihnen, rein wirtschaftlich betrachtet, am besten zusagt, ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Umsätze von der in Art. 13 Teil B Bst. a der 6. MWST-Richtli- nie 77/388/EWG [neu: der Art. 135 Abs. 1 Bst. a der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG]

vorgesehenen Steuerbefreiung ausgeschlossen werden42.

4 Anmerkung

Mit dem vorliegenden Urteil führt der EuGH konsequent seine Rechtsprechung zur Steuer- freiheit von Makler- und Vermittlungsumsätzen im Bereich der Finanzumsätze fort und beugt zugleich einer drohenden Fehlinterpretation seiner Rechtsprechung zum steuerfreien Versi- cherungsvertrieb vor. Nach Takstorrigen muss- te der Versicherungsvertreter für die Erlangung der Steuerfreiheit seiner Leistungen mit dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer «in Verbindung stehen»43. Er begründet nunmehr ausführlich, dass und warum dies einer steu- erfreien Tätigkeit durch einen Untervermittler, der seine Leistungen nicht gegenüber einer Versicherung oder einem Versicherungsnehmer, sondern gegenüber einem Versicherungsvertre- ter erbringt, nicht entgegensteht. Bereits bei den Kreditumsätzen hatte der EuGH in Ludwig die Umsätze von Untervermittlern in die Steuerfrei- heit einbezogen44. Dies gilt nunmehr auch für den Bereich der zu den Versicherungs- und Rückversicherungsumsätzen gehörenden Dienst- leistungen, die von Versicherungsmaklern und

-vertretern erbracht werden, sodass eine weit- gehende Vereinheitlichung in den Bereichen des Versicherungs- und Finanzvertriebs er- reicht worden ist. Nicht abschliessend geklärt ist allerdings die Frage, welche Konsequenzen für den mehr als zweistufigen Vertrieb aus der EuGH-Rechtsprechung zu ziehen sind, wobei es massgeblich darauf ankommen sollte, ob die einzelne Vertriebsleistung als eigenständiges Ganzes die spezifischen Funktionen einer Ver- mittlungsleistung erfüllt. Aufgrund der bereits vorliegenden Urteile ist allerdings klar, dass im mehrstufigen Vertrieb diese Voraussetzungen gegeben sind, wenn der Hauptvermittler den Kontakt zum Kreditgeber hält, während der Un- tervermittler mit dem Kreditnehmer verhandelt (Konstellation in Ludwig) oder aber wenn der Hauptvermittler Vertragsofferten für die Versi- cherung annimmt, während der Untervermittler Anträge auf Abschluss eines Versicherungsver- trages bei Versicherungsnehmern einholt (Kon- stellation in Beheer).

III EuGH, Urteil v. 8.5.2008 – Rs. C-95/07 und C-96/07 (Ecotrade SpA)45

Keine Versagung des Vorsteuerab- zugsrechts bei nachträglich erkannter Steuerschuld aufgrund des Reverse- Charge-Verfahrens aus formalen Gründen

1. Die Art. 17, 18 Abs. 2 und 3 und Art. 21 Nr. 1 Bst. b der 6. MWST-Richtlinie 77/388/

EWG [neu: Art. 167, 168, 178, 179 und 194 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG]

stehen einer nationalen Regelung, die eine Ausschlussfrist für die Ausübung des Vorsteu- erabzugsrechts wie die in den Ausgangsver- fahren in Rede stehende vorsieht, nicht ent- gegen, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden. Der

(17)

Effektivitätsgrundsatz wird nicht schon da- durch missachtet, dass die Steuerverwaltung für die Erhebung der nicht entrichteten Mehr- wertsteuer über eine längere Frist verfügt als der Steuerpflichtige für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts.

2. Allerdings stehen die Art. 18 Abs. 1 Bst. d und 22 der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: Art. 178 Bst. f, 242, 243 Abs. 1 und 2, 250–252 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] einer Praxis der Berichtigung von Steuererklärungen und der Erhebung der Mehrwertsteuer entgegen, nach der eine Nichterfüllung – wie in den Ausgangsverfah- ren – zum einen der Verpflichtungen, die sich aus den von der nationalen Regelung in Anwendung von Art. 18 Abs. 1 Bst. d der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu:

Art. 178 Bst. f der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] vorgeschriebenen Förmlich- keiten ergeben, und zum anderen der Auf- zeichnungs- und Erklärungspflichten nach Art. 22 Abs. 2 und 4 der 6. MWST-Richtlinie

77/388/EWG [neu: Art. 242, 243 Abs. 1 und 2, 250–252 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] im Fall der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens mit der Verweh- rung des Abzugsrechts geahndet wird.

1 Ausgangssachverhalt

Ecotrade SpA ist eine Aktiengesellschaft italie- nischen Rechts, die u. a. auf den Handel mit Hüttensand und anderen Zusätzen für die Her- stellung von Zement spezialisiert ist. In den Steuerjahren 2000 und 2001 liess Ecotrade die Beförderung dieser Materialien von Italien in andere EU-Mitgliedstaaten durch nicht in Italien ansässige Unternehmer durchführen.

Auf den Rechnungen, die diese Unternehmer Ecotrade über die erbrachten Dienstleistungen ausstellten, wurden die betreffenden Dienst- leistungen entweder als «Schiffscharter» oder

«Verfrachtung» bezeichnet. Sie wiesen jedoch keine Mehrwertsteuer aus, wobei einige Rech- nungen den Vermerk enthielten, dass die Vor- gänge davon befreit seien. Ecotrade ging davon aus, dass die fraglichen Vorgänge nicht der Mehrwertsteuer unterlägen, und verbuchte die Rechnungen ausschliesslich als mehrwertsteu- erfreie Eingangsrechnungen. Die auf diese Um- sätze entfallende Mehrwertsteuer war deshalb in den Steuererklärungen von Ecotrade für die Steuerjahre 2000 und 2001 nicht enthalten.

Bei einer Prüfung im Jahr 2004 war die italie- nische Agenzia delle Entrate der Auffassung, dass die fraglichen Eingangsleistungen der Mehrwertsteuer unterliegende Dienstleistungen im Zusammenhang mit innergemeinschaft- liche Güterbeförderungen seien und das Reverse-Charge-Verfahren auf sie anwendbar sei. Sie stellte ferner fest, dass Ecotrade die Aufzeichnungspflichten im Zusammenhang mit dem Reverse-Charge-Verfahren nicht be- achtet habe, weil die fraglichen Rechnungen

41 Vgl. in diesem Sinne zu Art. 13 Teil B Bst. d Nr. 3 der 6. MWST-Richtlinie EuGH, Urteil v. 5.6.1997 – Rs. C-2/95 (SDC), Slg. 1997, I-3017, Rz. 64, zu Art. 13 Teil B Bst. d Nr. 6 der 6. MWST-Richtlinie Urteil v. 4.5.2006 – Rs. C-169/04 (Abbey National), Slg. 2006, I-4027, Rz. 67 und zu Art. 13 Teil B Bst. d Nr. 1 der 6. MWST-Richtlinie Urteil v. 21.6.2007 – Rs. C-453/05 (Ludwig), Slg. 2007, I-5083, Rz. 34.

42 Vgl. in diesem Sinne zu Art. 13 Teil B Bst. d Nr. 6 der 6. MWST-Richtlinie Urteil v. 4.5.2006 – Rs. C-169/04 (Abbey National), a.a.O., Rz. 68 und zu Art. 13 Teil B Bst. d Nr. 1 der 6. MWST-Richtlinie Urteil v. 21.6.2007 – Rs. C-453/05 (Ludwig), a. a. O., Rz. 35.

43 Vgl. EuGH, Urteil v. 20.11.2003 (Taksatorringen), Slg. 2003, I-13711, Rz. 44.

44 Vgl. EuGH, Urteil v. 21.6.2007 – Rs. C-453/05 (Ludwig), Slg. 2007, I-5083, Rz. 34.

45 EuGH, Urteil v. 8.5.2008 – Rs. C-95/07 und C-96/07 (Ecotrade), ABl. EU, C 158 v. 21.6.2008, 6, noch nicht in Slg. veröffentlicht.

(18)

nur in das Register der Eingangsrechnungen und nicht aber auch in das der Ausgangsrech- nungen eingetragen worden seien. Demzufolge erliess sie für die Steuerjahre 2000 und 2001 Steuerbescheide mit Steuernachzahlungen in Höhe von insgesamt etwa EUR 321 000 sowie Bussen in Höhe von etwa EUR 361 000 zulasten der Ecotrade. In diesem Zusammenhang vertrat die Agenzia delle Entrate die Ansicht, dass das Vorsteuerabzugsrecht von Ecotrade verfallen sei, weil diese es nicht binnen der gesetzlichen Ausschlussfrist von zwei Jahren nach Entstehen des Steueranspruchs ausgeübt habe, während für die Steuerverwaltung die 4-jährige Frist für die Erhebung der auf die fraglichen Dienstleis- tungen anfallenden Mehrwertsteuer noch nicht abgelaufen sei.

Ecotrade focht die Steuerbescheide mit bei der Commissione tributaria provinciale di Genova eingereichten Beschwerden an. Das angerufene Gericht hatte Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Gemeinschafts- recht und beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabent- scheidung nach Art. 234 EG vorzulegen46: 2 Vorlagefragen

(1) Sind Art. 17, 18 Abs. 2 und 3 und Art. 21 Nr. 1 Bst. b der 6. MWST-Richtlinie 77/388/

EWG [neu: Art. 167, 168, 178, 179 und 194 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Ausübung des Vorsteu- erabzugsrechts im Fall der Anwendung des Re- verse-Charge-Verfahren an die Einhaltung einer (zweijährigen) Ausschlussfrist knüpft?

(2) Sind Art. 18 Abs. 1 Bst. d und 22 der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: Art. 178 Bst. f, 242, 243 Abs. 1 und 2, 250–252 der MWST- System-Richtlinie 2006/112/EG] dahin auszu- legen, dass sie einer Praxis der Berichtigung

von Steuererklärungen und der Erhebung der Mehrwertsteuer entgegenstehen, nach der ein Aufzeichnungs- und Erklärungsfehler im Fall der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens mit der Verwehrung des Abzugsrechts geahndet wird?

3 Aus den Entscheidungsgründen Zur Ausschlussfrist

Zur Frage der Ausschlussfrist weist der EuGH vorab darauf hin, dass ein die Mehrwertsteuer schuldender Steuerpflichtiger als Empfänger von Dienstleistungen das Recht auf Vorsteuer- abzug nach Art. 17 Abs. 2 Bst. a der 6. MWST- Richtlinie 77/388/EWG [neu: Art. 168 Bst. a der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] geltend machen könne. Nach ständiger Rechtsprechung sei das Abzugsrecht integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und könne grundsätzlich nicht eingeschränkt werden48. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung wer- de das Abzugsrecht für die gesamte Steuerbelas- tung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt49.

Nach dem Wortlaut von Art. 18 Abs. 2 der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: Art. 179 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG]

werde nämlich das Abzugsrecht grundsätzlich

«während des gleichen Zeitraums» ausgeübt, in dem es entstanden ist. Gleichwohl könne einem Steuerpflichtigen das Abzugsrecht nach Art. 18 Abs. 3 der 6. MWST-Richtlinie 77/388/

EWG [neu: Art. 180 der MWST-System-Richtli- nie 2006/112/EG] auch gewährt werden, wenn er es nicht während des Zeitraums, in dem es entstanden ist, ausgeübt habe. Dann würden für sein Abzugsrecht jedoch die von den EU- Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen und Einzelheiten gelten. Daraus folge, dass die EU- Mitgliedstaaten verlangen könnten, dass das Ab-

(19)

zugsrecht entweder während des Zeitraums, in dem es entstanden ist, ausgeübt werde oder aber innerhalb eines längeren Zeitraums unter der Voraussetzung, dass bestimmte in ihren natio- nalen Regelungen festgelegte Bedingungen und Einzelheiten befolgt werden. Ausserdem liefe die Möglichkeit, das Abzugsrecht ohne jede zeitliche Beschränkung auszuüben, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbe- tracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt offen bleiben kann. Folglich könne der Auffassung, dass für das Abzugsrecht keine Ausschlussfrist festgelegt werden dürfe, nicht gefolgt werden.

Hinzu komme nach Ansicht des EuGH, dass eine Ausschlussfrist, deren Ablauf als Sanktion für den nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflich- tigen, der den Vorsteuerabzug nicht geltend gemacht hat, den Verlust des Abzugsrechts zur Folge habe, nicht als mit der von der 6. MWST- Richtlinie 77/388/EWG [neu: MWST-System-

Richtlinie 2006/112/EG] errichteten Regelung unvereinbar angesehen werden könne, sofern diese Frist zum einen gleichermassen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Gemeinschaftsrecht beruhenden Rech- te gelte (Äquivalenzgrundsatz) und sie zum anderen die Ausübung des Abzugsrechts nicht praktisch unmöglich mache oder übermässig erschwere (Effektivitätsgrundsatz)50.

Die nationale Regelung sei insoweit sowohl mit dem Äquivalenzgrundsatz als auch mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar, denn eine Ausschlussfrist von zwei Jahren könne an sich die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren, da die EU-Mitgliedstaaten nach Art. 18 Abs. 2 der 6. MWST-Richtlinie 77/388/

EWG [neu: Art. 179 der MWST-System-Richtli- nie 2006/112/EG] verlangen könnten, dass der Steuerpflichtige sein Abzugsrecht während des gleichen Zeitraums ausübt, in dem es entstan- den ist.

Zur Berichtigungs- und Erhebungspraxis Zu prüfen sei ferner, ob die 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu: MWST-System-Richtlinie 2006/112/EG] einer Berichtigungs- und Er- hebungspraxis entgegenstehe, mit der ein Aufzeichnungsfehler, der in der fehlerhaften und mehrwertsteuerfreien Eintragung der fraglichen Vorgänge allein in das Register der Eingänge bestand und sich auch auf die Steuer- erklärungen von Ecotrade auswirkte, im Fall der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens mit der Verwehrung des Abzugsrechts geahndet wer- de. Dazu stellt der EuGH klar, dass nach dem Reverse-Charge-Verfahren des Art. 21 Nr. 1 Bst. b der 6. MWST-Richtlinie 77/388/EWG [neu:

Art. 194 der MWST-System-Richtlinie 2006/112/

EG] Ecotrade als Empfängerin von Dienstleis-

46 Commissione Tributaria Provinciale (Italien), Vorabentscheidungsersuchen v. 20.2.2007, ABl. EU, C 117 v. 26.5.2007, 4.

47 Vgl. EuGH, Urteil v. 1.4.2004 – Rs. C-90/02 (Bockemühl), Slg. 2004, I-3303, Rz. 37 sowie dazu eingehend Luuk, Dienstleistungsbezüge aus dem Ausland – Vorsteuerabzug ohne Rechnung?, FStR 2004, 287 ff.

48 Vgl. EuGH, Urteil v. 21.3.2000 – Rs. C-110/98 bis C-147/98 (Gabalfrisa), Slg. 2000, I-1577, Rz. 43 und Urteil v. 1.4.2004 – Rs. C-90/02 (Bockemühl), a. a. O., Rz. 38.

49 Vgl. ebenda sowie EuGH, Urteil v. 21.9.1998 – Rs. 50/87 (Kommission/Frankreich), Slg. 1988, 4797, Rz. 15 bis 17 und Urteil v. 15.1.1998 – Rs. C-37/95 (Ghent Coal Terminal), Slg. 1988, I-1, Rz. 15.

50 Vgl. Urteil v. 27.2.2003 – Rs. C-327/00 (Santex), Slg 2003, I-1877, Rz. 55 sowie Urteil v. 11.10.2207 – Rs. C-241/06 (Lämmerzahl), noch nicht in Slg.

veröffentlicht, Rz. 52.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

MWST-Richtlinie 77/388/EWG 13 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, nach der die Steuerbehörde einem Steuerpflichtigen das Recht, den für die

MWST-Richtlinie 77/388/EWG 22 setze das Recht auf Vorsteuerab- zug in Bezug auf im Rahmen eines innergemein- schaftlichen Erwerbs erworbenen Gegenstände voraus, dass diese

Im be- sprochenen Urteil bestätigt der EuGH dabei seine Rechtsprechung, wonach eine steuerliche Benachteiligung, die eine (ehemals unselb- ständig erwerbstätige)

heiten der Erstattung des Vorsteuerüberschusses an den Steuerpflichtigen festgelegt werden, vor- sehen, dass die Finanzverwaltung für die ent- sprechende Erstattung ab der Abgabe

b der MWST- System-Richtlinie 2006/112/EG] ist dahin auszulegen, dass er der von einem EU-Mit- gliedstaat vorgenommenen Mehrwertsteuer- befreiung einer Ausfuhrlieferung nach einem

Mit Bezug auf die Erforderlichkeit der Massnah- me hält der EuGH fest, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung die Bekämpfung von Steuerhin- terziehung nur dann

Der EuGH hält unter Berufung auf sein in der Rechtssache Manninen ergangenes Urteil fest, dass dort bei der Berechnung einer Steuer- gutschrift für einen in Finnland unbeschränkt

MWST-Richtlinie in ihrer durch die Richtlinien 2000/65/EG und 2001/115/EG (Rechnungsrichtlinie) geän- derten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einem EU-Mitgliedstaat