Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 19⏐⏐8. Mai 2009 A931
B R I E F E
gen und aufzuhören mit der Selbstbe- dienungsmentalität, kann sie nicht er- warten, dass sich am Gesundheitssys- tem irgendetwas zum Positiven für alle, insbesondere aber für die Nach- geborenen, ändert.
Dr. med. Alexander Voigt,Frankenstraße 13, 97078 Würzburg
HPV-IMPFUNG
Das DÄ dokumen- tierte die Kritik eini- ger Wissenschaftler sowie die Position der Zulassungs- behörde („Wie wirk- sam ist die HPV- Impfung?“ DÄ 8/2009 von Ansgar Gerhar- dus et al. und DÄ 9/2009 von Johannes Löwer und Susanne Stöcker).
Was hinter den Zahlen steckt
Die beiden Artikel unter gleichem Ti- tel machen in überdeutlicher Weise klar, dass in Deutschland Mediziner nicht miteinander sprechen können, weil sie konzeptionell sich in den je- weils anderen nicht mehr hineinden- ken können – was in angelsächsischer Medizinkultur in dieser Weise über- haupt nicht mehr vorstellbar ist. Im ersten Artikel von Gerhardus et al.
wird mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass es unterschiedliche Betrachtungen von Wirksamkeit, oder, was eigentlich ausgedrückt wer- den soll, von Nutzen gibt. In einer her- vorragenden Tabellenzusammenstel- lung zur HPV-Impfung wird deutlich gemacht, dass der Nutzen der HPV- Impfung irgendwo zwischen knapp zehn Prozent und 20 Prozent liegt, das heißt, bei 100-prozentiger Impfung würde längerfristig das „Problem Zer- vixkarzinom“ um zehn bis 20 Prozent zurückdrängbar sein – einmal komp- lizierende andere Faktoren nicht be- trachtet. Im Entgegnungsartikel gehen Löwer und Stöcker aber von einer fast 100-prozentigen (95 bis 98 Prozent) Wirksamkeit aus. Das Geheimnis die- ser so unterschiedlichen Zahlen wird von den jeweiligen Autoren nicht gelüftet – weil sie ganz offensichtlich gar nicht verstehen, was der andere wirklich meint: Die einen – Gerhar- dus et al. – sprechen auf Basis eines
bevölkerungsbezogenen Ansatzes vom Nutzen in Bezug auf das „Ge- sundheitsproblem Zervixkarzinom“.
Allerdings beantworten sie damit auch die Frage eines einzelnen, zur Impfung aufgerufenen Menschen:
Welchen Nutzen habe ich von der Impfung in Bezug auf dieses Gesund- heitsproblem – statistisch – zu erwar- ten? Die anderen – Löwer/ Stöcker – sprechen in einer fast irritierenden Weise medizinzentriert von der klas- sischen Wirksamkeit, die sie aber kli- nische Wirksamkeit nennen. Wirk- samkeit ist zwar immer Vorausset- zung für einen Nutzen einer Behand- lung oder einer Impfung, nur reicht diese in Bezug auf klinische und be- völkerungsbezogene Relevanz eben nicht aus, wie am Beispiel der Imp- fung deutlich wird. Der Impfstoff ist überzeugend wirksam bei a) Kindern und jungen Frauen, die bisher keinen HPV-Kontakt hatten, und er bezieht sich b) nur auf die beiden HPV-Typen 16 und 18. Wirksamkeit kann man nur in Bezug auf diese Konditionen testen. Was ist also die „richtige“ Ant- wort auf die Frage der Artikelüber- schrift? Interessiert man sich für die Wirksamkeit einer Substanz, eines Impfstoffes, so hat die Darstellung von Löwer/Stöcker die richtige Ant- wort. Man fragt sich nur, wer sich bei einer Impfung hierfür interessiert, handelt es sich doch um eine absolut handlungsferne Frage. Interessiert man sich aber für das „Gesundheits- problem Zervixkarzinom“, also auch für die Frage, was hat ein junges Mädchen davon, wenn es sich impfen lässt, so ist die richtige Antwort aus dem Artikel von Gerhardus zu ent- nehmen: Der Nutzen liegt zwischen zehn und 20 Prozent. Würde man nur sehr junge Kinder impfen, wäre der Anteil auf bis auf 40 Prozent zu he- ben. Auch dies ließe die Notwendig- keit weiterer Früherkennung auf das Karzinom unverändert wichtig sein.
Prof. Dr. Heinz-Harald Abholz,Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Moorenstraße 5, 40225 Düsseldorf
Kosten und Nutzen
Die jährlichen 6 200 Neuerkrankun- gen an Zervixkrebs beziehen sich auf die weibliche Bevölkerung von 42 Millionen, also eine von 6 800 Frau-
en. Von 1 000 Todesfällen bei Frauen sind vier durch Zervixkrebs verur- sacht und davon eventuell drei mit HPV assoziiert. Da bis 70 Prozent der Frauen im geschlechtsreifen Alter mit HPV konfrontiert werden, ist der Übergang in eine persistierende HPV-Infektion mit Krebsrisiko selten und Spontanheilung die Regel. Ist dafür der immense GKV-Kostenauf- wand vertretbar, wenn weiter gynä- kologische Vorsorge nötig bleibt und Primärprävention oft möglich ist?
Eine Kosten-Nutzen-Bewertung nach dem Sozialgesetzbuch (siehe DÄ 7/2009) käme zu einem „Nein“.
Denn der HPV-Impfung, bei jetzigen Daten und Kosten, fehlen die Ange- messenheit und Zumutbarkeit der Kostenübernahme durch die Versi- chertengemeinschaft. Das gilt auch dann, wenn Zusatznutzen berück- sichtigt wird, z. B. unabhängig vom IQWiG ermittelt. Mehr ergänzende, systematische Beobachtung zur Siche- rung des Nutzens von HPV-Impfun- gen ohne GKV-Leistung ist vertretbar.
Wenn der Leiter des Paul-Ehrlich-In- stituts im DÄ das Statement abgibt
„Es ist absolut unethisch, auf ein Kar- zinom zu warten“, dann berücksichtigt er nicht, dass es gynäkologische Vor- sorge als GKV-Leistung gibt.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. J. M. Wenderlein, Eythstraße 14, 89075 Ulm
DOKUMENTATION
Ärzte sind zu „Da- tensklaven“ gewor- den (DÄ 12/2009:
„Dokumentation in der Medizin: Es ist ein Wahnsinn!“ von Serban-Dan Costa).
Verhext
Prof. Dr. med. Serban-Dan Costa hat den aktuellen Dokumentationswahn- sinn in der Medizin in seiner fatalen Konsequenz eindringlich beschrie- ben. Noch nie in der Menschheitsge- schichte war die Medizin in ihren se- gensreichen Möglichkeiten für den kranken Menschen so hoch ent- wickelt – zugleich aber auch in ihrer sachgerechten Anwendung und Wei- terentwicklung durch oben genannte Entwicklung so existenziell bedroht
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wie heute . . . Der gesellschaftliche Interessenkonflikt zwischen dem Ei- gennutz des Gesunden und der Soli- darität mit dem Kranken lässt sich in seriöser Weise auf gar keinen Fall mit undurchsichtiger und fadenschei- niger Zahlenakrobatik lösen! Schon in Goethes Faust (Der Tragödie ers- ter Teil/Hexenküche) wird ärztlicher Hokuspokus mit betrügerischer Zah- lenspielerei als „Hexen-Einmaleins“
gebrandmarkt! Bereits vor sieben Jahren hat mich deshalb die Ein- führung der Verschlüsselungspraktik in unserem Krankenhaus veranlasst, diesen so hoch aktuellen Ausschnitt aus Goethes Faust in meinem Funkti- onsbereich an der Eingangstüre aus- zuhängen, wo er auch heute noch zum Nachdenken mahnt. Wie man sieht: Es ist offenbar alles schon ein- mal da gewesen.
Dr. Thomas Spiethoff,Kreiskrankenhaus Bad Reichenhall, Riedelstraße 5, 83435 Bad Reichenhall
Eigene Versäumnisse
. . . Bemerkenswert ist Costas Artikel nicht nur wegen der scharfsinnigen und inhaltlich in keinem Punkt zu wi- dersprechenden Analyse, sondern auch wegen des Eingeständnisses, nicht zu wissen, wie wir aus dieser Misere herauskommen können. Der Beitrag, dem man allenfalls „vorhal- ten“ könnte, dass die Aufzählung der unseligen Akronyme unvollständig ist (es fehlen Begriffe wie KTQ, DIN EN ISO, GeQik, EQFM, OE/QM, QuMiK etc., wobei es sich vielleicht auch um baden-württembergische Spezialitäten handeln mag), weist aber vielleicht doch einen Ausweg, indem der Autor feststellt, dass es sich um eine hausgemachte Katastrophe handelt: Wir Ärzte haben es ver- säumt, der ausufernden „Zertifizitis“, einer nicht mehr nachvollziehbaren und zu rechtfertigenden, überborden- den Bürokratie, nicht nur nicht recht-
zeitig Einhalt geboten zu haben, son- dern betreiben dies auf verschiedenen Ebenen mit. Vordergründig werden strukturierte Dialoge zur Qualitätssi- cherung beziehungsweise Verbesse- rung der Versorgungsqualität geführt, die nichts anderes sind als der Ver- such, auf dem Boden oft fehlender wissenschaftlicher Belege ein be- stimmtes Verhalten zu fordern, ohne dass die Sinnhaftigkeit belegt oder im Einzelfall kollegial und argumentativ nachvollziehbar dargestellt werden würde (So wurden wir jahrelang we- gen eines angeblich zu kurzen Inter- valls zwischen Diagnosestellung und Operation eines Mammakarzinoms in zum Teil oberlehrerhaftem Ton kriti- siert, ohne dass die Frage, ob dies überhaupt eine Rolle spiele, je beant- wortet wurde – mittlerweile ist dieser
„Qualitätsindikator“ sang- und klang- los aus dem Katalog der „Versor- gungsqualität“ herausgenommen worden). Wer aber, wenn nicht Per- sönlichkeiten wie Costa und andere bedeutsame und einflussreiche Ver- treter unseres Faches, könnte dazu beitragen, dass wieder Normalität in den Arztalltag zurückkehrt, der aus meiner Sicht vor allem eines bedeu- tet: Die Patienten und deren Bedürf- nisse und Interessen in den Mittel- punkt zu stellen – und nicht länger die Erfüllung von Industrienormen und pseudowissenschaftlich fundier- ten Forderungen. Geschieht nichts, wird sich das Problem auf andere Art lösen: Der Exitus der nachwachsen- den Ärztegeneration ist bereits in vollem Gange . . .
Dr. Ulrich Steigerwald,Chefarzt der Frauenklinik, Enzkreis-Kliniken Mühlacker, Hermann-Hesse-Straße 34, 75417 Mühlacker
Maligne
Ist es Wahnsinn? Betrachten wir die entfesselte Medizinbürokratie, die unzähligen Scores und absurden Fra-
gebögen, das Qualitätsmanagement, die Zertifizierungsindustrie, die kab- balistisch anmutenden Zahlencodes und was dergleichen mehr mit den Augen des Mediziners: Nachgeord- netes verselbstständigt sich, dringt in eine funktionierende Struktur ein, übernimmt mehr und mehr die Kon- trolle, zieht immer mehr Energie zur eigenen Versorgung daraus ab, wächst und verdrängt, behindert Sinnvolles oder zerstört Bestehen- des. Die Analogie ist evident. Es handelt sich nicht um Wahnsinn, es ist ein maligner Tumor. Und was weiter? Die Vorsorge hat längst ver- sagt, zur radikalen Therapie fehlt der Mut, und die Prognose ist düster.
Peter Murmann,Lortzingstraße 23, 32545 Bad Oeynhausen
HONORARE
Die KVen können Verluste und Gewin- ne aus der Reform begrenzen (DÄ 10/
2009: „Honorarre- form: Mageres Ver- handlungsergebnis“).
Der Minutenlohn beim Schlüsseldienst
Durch den Kontakt mit einem Schlüsseldienst, der eine zugefallene Tür von außen wieder öffnen sollte, habe ich zwei bemerkenswerte Din- ge gelernt:
– Eine nur zugeschnappte Tür („Si- cherheitstür“) ist innerhalb einer Mi- nute „gewaltfrei“ geöffnet mit einem auch im Internet erhältlichen Hilfs- mittel.
– Der Stundenlohn liegt in Größen- ordnungen eines steuerhinterziehen- den Postmanagers – für ca. 1,5 Mi- nuten werden über 200 Euro ver- langt.
Sollten die Ärzte auf Basis dieser Kostenstrukturen nicht auch einen angemessenen Lohn verlangen dür- fen? 200 Euro für 1,5 Minuten viel- leicht nicht – aber als für einen Nie- dergelassenen, der höhere Kosten hat als ein Schlüsseldienst (Angestellte, die selbst keine abrechenbaren Leis- tungen erbringen) wären 200 Euro pro Stunde doch angemessen.
Björn Mehlhorn,Schinkelstraße 9, 22303 Hamburg
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