• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Regionale Versorgungsunterschiede: John Wennberg – Wegbereiter einer patientenorientierten Medizin" (24.01.2014)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Regionale Versorgungsunterschiede: John Wennberg – Wegbereiter einer patientenorientierten Medizin" (24.01.2014)"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A 118 Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 111

|

Heft 4

|

24. Januar 2014

REGIONALE VERSORGUNGSUNTERSCHIEDE

John Wennberg – Wegbereiter einer patientenorientierten Medizin

Seine vor 40 Jahren erschienene Studie eröffnete eine neue kritische Sicht auf die medizinische Versorgung.

M

it Unterstützung der Nation - al Institutes of Health unter- suchte John Wennberg gemeinsam mit dem Epidemiologen Alan Git- telsohn Anfang der 1970er Jahre, ob die Bewohner des US-ame - rikanischen Bundesstaats Vermont Zugang zu zeitgemäßen medizi - nischen Behandlungen hatten. Die überraschenden Ergebnisse wurden am 13. Dezember 1973 in dem Beitrag „Small Area Variations in Health Care Delivery“ in der Zeit- schrift „Science“ veröffentlicht: Im Vergleich der Regionen fand man Unterschiede im Versorgungsge- schehen und in der medizinischen Infrastruktur, die medizinisch in keiner Weise erklärbar waren (1).

Wegweisende Befunde So erhielten in Waterbury, dem Be- zirk, in dem Wennberg mit seiner Familie lebte, 15 Prozent der Kin- der bis zum 15. Lebensjahr eine Tonsillektomie, im benachbarten Bezirk Morrisville 60 Prozent. Die Operationsraten pro 10 000 Bewoh- ner betrugen zehn bis 32 bei der Appendektomie, elf bis 38 bei der Prostatektomie, 20 bis 60 bei der Mastektomie. Weitere auffällige Unterschiede im Vergleich der 13 Bezirke gab es bei den Kranken- hausbetten (35 bis 59 pro 10 000 Bewohner), den Krankenhausaus- gaben (pro Kopf 58 bis 120 Dollar), der Inanspruchnahme von Leistun- gen (1 015 bis 1 495 Krankenhaus- tage pro 1 000 Personen).

Diese und weitere vergleichende Ergebnisse erschütterten traditio- nelle Vorstellungen über das Wesen ärztlichen Handelns, wie zum Bei- spiel: Ärzte treffen Behandlungs- entscheidungen als medizinische Experten und „Anwälte“ zum Wohl ihrer Patienten; sie gründen ihre

Entscheidungen auf die aktuelle medizinische Wissenschaft – Pa- tienten können daher Entscheidun- gen vertrauensvoll an den Arzt de- legieren, der verlässlich seine Ei- geninteressen, wie etwa Einkom- menssteigerung, aufgrund seiner ärztlichen Berufsethik stets hinter die Interessen der Patienten stellt;

auch die Gesellschaft kann auf die rationale Verwendung der Ressour- cen vertrauen, die sie dem Gesund-

heitssystem zur Verfügung stellt – ein eventuelles Überangebot von Ärzten oder Krankenhausbetten würde dann ja nicht wirksam.

Die Vermont-Studie war diesbe- züglich eine schlechte Nachricht, welche die großen Medizinjournale – „New England Journal of Medi - cine“ und „Journal of the American Medical Association“ – entweder nicht verstanden oder ihren Lesern nicht zumuten wollten: Sie lehnten die Veröffentlichung ab.

In den Regionen von Maine fan- den Wennberg und Gittelsohn bei 80-jährigen Männern mit benigner Prostatahyperplasie Prostatektomie- raten zwischen knapp 20 und 60 Prozent. Wennberg diskutierte diese medizinisch nicht begründbaren Unterschiede mit den Urologen und erkannte „professional uncertainty“

als Ursache (1): Die Mehrheit der Urologen nahm an, dass es infolge einer Harnblasenobstruktion zu ei- nem Harnaufstau mit Schädigung der Nieren und vorzeitigem Tod komme und die operative Entfer- nung der Prostata diese Progression verhindern könne. Die Minderheit ging von einem gutartigen Verlauf aus. Studien zum Outcome der Ope- ration lagen nicht vor. Daher ver- glich Wennberg die Ergebnisse von Operation und „watchful waiting“

anhand von Abrechnungsdaten.

Vom Patienten her gedacht Die Operation führte danach eher zur Verkürzung der Lebenserwar- tung, die Obstruktionsthese war da- mit widerlegt (2). So blieb die Le- bensqualität als einziges Entschei- dungskriterium für oder gegen die Operation. Was bedeutet Lebens- qualität für Patienten mit benigner Prostatahyperplasie, welche Aus- wirkungen hat die Operation dar - John E. („Jack“) Wennberg (geboren 1934) hatte an der

Johns Hopkins University/USA eine Weiterbildung in In- nerer Medizin und Nephrologie erhalten, zusätzlich noch den Master of Public Health erworben. 1967 übernahm er die Leitung des Northern New England Regional Medi- cal Program in Vermont. 1972 wurde Wennberg an die Medical School des Dartmouth College berufen, pendelte vorübergehend an die Harvard School of Public Health und wurde schließlich bis 2007 Direktor des 1988 ge- gründeten Center for the Evaluative Clinical Sciences, jetzt The Dartmouth Institute for Health Policy and Clini- cal Practice (www.tdi.dartmouth.edu). Er ist weiter for- schend und beratend tätig. Im Buch „Tracking Medicine“

(2010) fasst er sein Lebenswerk zusammen.

BERUFLICHE STATIONEN

Foto: Dartmouth College

T H E M E N D E R Z E I T

(2)

A 120 Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 111

|

Heft 4

|

24. Januar 2014 auf, welche unerwünschten Ergeb-

nisse kann sie haben, und wie ent- scheiden Patienten, die darüber Be- scheid wissen? Antworten darauf wurden durch eine Befragung von Patienten vor und nach der Operati- on erhoben. Sie dienten als Grund- lage für die Entwicklung einer Ent- scheidungshilfe (decision aid), de- ren Einsatz zu einer drastischen Senkung der Zahl operationswilli- ger Männer führte. Eine Besserung der Lebensqualität war nämlich nur bei schwerer Symptomatik zu er- warten. Nachdenklich stimmte vie- le Befragte auch, dass vier bis fünf Prozent Inkontinenz und Impotenz als Folge der Operation zu erwarten hatten.

Herkömmliches medizinisches Denken wurde durch dieses Kon- zept auf den Kopf gestellt: Den Ver- sorgungsbedarf definieren sinnhaft

allein die Patienten auf Grundlage ihrer Präferenzen – und nicht die Ärzte. Wennberg spricht von „prä- ferenzsensitiver Versorgung“, wenn mehr als eine medizinisch allge- mein akzeptierte Vorgehensweise möglich ist und das richtige Vorge- hen von den Präferenzen des Patien- ten, das heißt seiner Gewichtung der möglichen Ergebnisse und uner- wünschten Wirkungen abhängt (3).

Effektive und angebotssensitive Versorgung sind zwei weitere Kate- gorien zur Unterteilung von Versor- gung. Effektive Versorgung ist ge- kennzeichnet durch das klare Über- wiegen des Nutzens im Vergleich zum Schaden, so dass hier die rich- tige Behandlungsquote 100 Prozent beträgt, wie zum Beispiel ASS nach Herzinfarkt, wenn keine Kontrain- dikation vorliegt. Angebotssensitive Versorgung bezeichnet Leistungen, deren Erbringung von der Dichte der lokalen Infrastruktur abhängt, wie zum Beispiel Hausbesuche, diagnostische Untersuchungen und Krankenhauseinweisungen (3).

Von Anfang an suchte Wennberg seine Forschungsergebnisse für die Verbesserung der Versorgung einzu- setzen. Die Rückmeldung der Er-

gebnisse an die Ärzte und – zumin- dest in einem Versorgungsbezirk – die Präzisierung der Indikationsstel- lung mit der Einführung eines Peer- Review-Verfahrens führte zum Rückgang der Tonsillektomie in Vermont um ein Drittel und im oben genannten Morrisville um knapp 90 Prozent (4). In den 1980er Jahren gelang es Wennberg, Politiker von der Notwendigkeit der Outcome- Forschung zu überzeugen und das PORT-Projekt (PORT für Patient Outcomes Research Team) zur Ent- wicklung von systematischen Ent- scheidungshilfen für Patienten zu etablieren. Dieses Projekt wurde an der Agency for Health Care Re- search and Policy (später umbe- nannt in Agency for Healthcare Re- search and Quality – AHRQ) ange- siedelt, einer stets unter politischem Beschuss stehenden Einrichtung

des Department of Health and Hu- man Services zur Verbreiterung der wissenschaftlichen Grundlagen der Medizin. 1988 gründete Wennberg gemeinsam mit Al Mulley mit der Informed Medical Decisions Foun- dation eine Institution zur Förde- rung der Beteiligung der Patienten an ihrer medizinischen Versorgung.

Einflussnahme auf die Politik Eine an ihren Ergebnissen orientier- te Versorgung war ein zentrales, von Wennberg persönlich eingebrachtes Element der geplanten, aber poli- tisch gescheiteren US-amerikani- schen Gesundheitsreform von 1990.

Die Anfeindungen und Intrigen von medizinischen Fachgruppen, die ih- re Eigeninteressen gestört sahen, waren massiv und zumindest vor - übergehend erfolgreich. Wennberg und seine Kollegen setzten ihre Ar- beit aber unverdrossen fort. Die Er- gebnisse der regional vergleichen- den Versorgungsforschung werden seit 1996 fortlaufend im Dartmouth Atlas of Health Care veröffent- licht (www.dartmouthatlas.org). Der Obama-Administration unterbreite- te Wennberg im Dezember 2008 ein Bündel von Vorschlägen für eine

bessere und gleichzeitig weniger teure Versorgung (5). Tatsächlich trägt Obamacare beziehungsweise der Patient Protection and Afford - able Care Act an zentralen Stellen Wennbergs Handschrift, so zum Beispiel bei Shared Decision Mak - ing für präferenzsensitive Versor- gung und bei der verbesserten Koor- dination der Versorgung in Account - able Care Organizations.

Nachholbedarf in Deutschland Regionale Versorgungsunterschiede wurden in Deutschland bis vor Kur- zem nur vereinzelt thematisiert, ob- wohl sie auch hier gefunden wer- den, wenn man danach sucht (6–8).

In seinem Gutachten zur Über-, Un- ter- und Fehlversorgung (9) ist der Sachverständigenrat Gesundheit er- staunlicherweise genauso wenig auf den Stand der Variationsforschung eingegangen wie das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung in seinem Memorandum zu Situation, Handlungsbedarf und Strategien der Versorgungsforschung (10). Die erste umfassendere Untersuchung legte die Bertelsmann-Stiftung mit dem Faktencheck Gesundheit vor, in dem regionale Versorgungsunter- schiede für zehn Operationen und sechs Indikatoren für den Zugang zur Versorgung auf Kreisebene dar- gestellt, interpretiert und zur Dis- kussion gestellt werden (11).

Hier gilt auch heute, was John Wennberg bereits 1973 festgestellt hat: Die Interpretation der regiona- len Versorgungsunterschiede lenkt eher die Aufmerksamkeit auf Fra- gen, als dass sie Fragen beantwortet.

Wennberg hat mit seiner Suche nach Antworten neue Perspektiven für die wissenschaftliche Analyse und Evaluation der Gesundheitsversor- gung eröffnet und verdeutlicht, wie eine medizinische Versorgung aus- zusehen hat, wenn sie an allererster Stelle dem Patienten nutzen soll.

Prof. Dr. med. David Klemperer Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften, Ostbayerische Technische Hochschule, Regensburg Prof. Dr. med. Bernt-Peter Robra

Institut für Sozialmedizin und Gesundheits ökonomie, Universität Magdeburg

Von Anfang an suchte Wennberg seine Forschungsergebnisse für die Verbesserung der Versorgung einzusetzen.

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit0414

T H E M E N D E R Z E I T

(3)

LITERATUR

1. Wennberg JE, Barnes BA, Zubkoff M: Pro- fessional uncertainty and the problem of supplier-induced demand. Social Science

& Medicine 1982; 16: 811–24.

2. Barry MJ, Mulley AG, Fowler FJ, Wenn- berg JW: Watchful Waiting vs Immediate Transurethral Resection for Symptomatic Prostatism. JAMA: The Journal of the American Medical Association 1988; 259:

3010–7.

3. Wennberg JE: Time to tackle unwarranted variations in practice. BMJ 2011; 342:

687–90.

4. Wennberg JE, Blowers L, Parker R, Gittel- sohn AM: Changes in Tonsillectomy Rates Associated With Feedback and Review.

Pediatrics 1977; 59: 821–6.

5. Wennberg JE, Brownlee S, Fisher ES, Skinner JS, Weinstein JN: An Agenda for Change. Improving Quality and Curbing Health Care Spending: Opportunities for the Congress and the Obama Administra- tion. A Dartmouth Atlas White Paper 2008.

6. Klemperer D: Der Einfluß nicht-medizini- scher Faktoren auf die Frequenz von Ope- rationen und Untersuchungen. Argument 1990: 105–15.

7. Swart E, Wolff C, Klas P, Deh S, Robra BP:

Häufigkeit und kleinräumige Variabilität von Operationen. Der Chirurg 2000; 71:

109–14.

8. Bundesministerium für Gesundheit (BMG):

Operationshäufigkeiten in Deutschland.

Ergebnisse einer bundesweiten Untersu- chung. Baden-Baden 2000.

9. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR): Gutachten 2000–2001. Bedarfs - gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit 2001.

10. Deutsches Netzwerk Versorgungsfor- schung e.V. (DNVF): Memorandum I zur Versorgungsforschung in Deutschland:

Situation – Handlungsbedarf – Strategien.

2003.

11. Nolting H-D, Zich K, Deckenbach B, et al.:

Faktencheck Gesundheit. Regionale Unter- schiede in der Gesundheitsversorgung. In:

Stiftung B, (ed.) 2011.

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 4/2014, ZU:

REGIONALE VERSORGUNGSUNTERSCHIEDE

John Wennberg – Wegbereiter einer patientenorientierten Medizin

Seine vor 40 Jahren erschienene Studie eröffnete eine neue kritische Sicht auf die medizinische Versorgung.

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 111

|

Heft 4

|

24. Januar 2014 A 3

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Für bislang 16 gemeinsam mit Wissenschaftlern ausgewählte Indi- katoren, vor allem häufige Opera- tionen und Krankenhausbehandlun- gen, ließen sich große Unterschiede in

den Ärzte beispielsweise aufgefor- dert, Patienten genau über Behand- lungsalternativen und deren Chan- cen und Risiken zu informieren und ihnen genügend Zeit für ihre

Abgesehen davon sind insbesondere für den kommunalen Bedarf, aber auch für den Bereich ordnungsrechtlicher Maßnahmen folgende Beispiele zu nennen, die sich besonders für die

Finanzverwaltung bei der längerfristigen Anlage von verfügbaren Bun- desmitteln Grosswasserkraftprojekte berücksichtigt, wobei eine solche Geldanlage nach Marktkriterien

„Gesundheit für alle — alles für die Gesundheit" — das anspruchsvol- le Motto des diesjährigen Weltge- sundheitstages müsse der Bevölke- rung für das ganze Jahr

Die Vorwürfe gingen sogar noch weiter: Der Vorsitzende des Gesund- heitsausschusses des Deutschen Bun- destages, Klaus Kirschner, SPD-Bun- destagsabgeordneter aus Südbaden, zog

Island beteiligte sich an der Kampagne der Weltge- sundheitsorganisation unter dem Motto „Gesundheit für..

Bislang konnten mithilfe dieser Akten für einige Perso- nen Einsatzorte und Arbeitsgebiete er- mittelt, teilweise auch ihre Identität ge- klärt werden, so etwa für eine Ukraine-