Deutsches Ärzteblatt
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3. Juni 2011 A 1227S
eit Anfang Mai kommt es vor allem in Norddeutschland zu einem gehäuften Auftreten des hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS) nach blutigen Diarrhöen im Zusammenhang mit Infektionen durch enterohämorrhagische Esche- richia coli (EHEC). Das Vollbild ist charakterisiert durch akutes Nie - renversagen, hämolytische Anämie und Thrombozytopenie (Kasten Falldefinition). Auch in anderen Bundesländern und in europäischen Nachbarländern traten Fälle auf, in der Regel im Zusammenhang mit Reisen nach Norddeutschland.Dem Robert Koch-Institut (RKI) wurden bis zum 30. Mai mehr als 350 EHEC/HUS-Fälle gemeldet, darunter drei tödliche, zusätzlich gab es drei Todesfälle durch EHEC- Infektionen. Die Gestorbenen wa- ren zwischen 24 und 89 Jahre alt.
Zum Vergleich: 2010 wurden insgesamt 65 HUS-Fälle übermit- telt. Damit handelt es sich um einen der bislang weltweit größten Aus- brüche von EHEC respektive HUS und den bisher größten Ausbruch in
Deutschland. „Sehr ungewöhnlich ist jetzt die Anzahl der schweren Verläufe in einem solch kurzen Zeitraum, auch Altersgruppen und Geschlechterverteilung sind unty- pisch“, sagt Prof. Dr. med. Klaus Stark (Abteilung Infektionsepide- miologie) dem Deutschen Ärzte- blatt. Von mehr als 350 Erkrankten sind 90 Prozent älter als 18 Jahre und 71 Prozent weiblich. „Bei den zwischen 2006 und 2010 übermit- telten HUS-Fällen lag der Anteil
Erwachsener lediglich zwischen 1,5 und zehn Prozent pro Jahr, und die Geschlechter waren etwa gleich häufig betroffen“, bemerkt Stark.
Erregeridentifikation: Inzwi- schen konnte das Nationale Refe- renzzentrum für Salmonellen und andere bakterielle Enteritiserreger am RKI in Wernigerode den EHEC- Serotyp O104:H4 nachweisen, das Institut für Hygiene des Universi- tätsklinikums Münster hat diesen Serotyp auch durch Gensequenzie- rung ermittelt. Die Analysen in Münster ergaben weiterhin, dass es sich um den Typ HUSEC 41 der Se- quenz ST678 handelt. Nach Anga- ben von Prof. Dr. rer. nat. Helge Karch vom Hygieneinstitut in Müns- ter handelt es sich um einen von 42 repräsentativen EHEC-Typen der HUSEC-Sammlung, die das Müns- teraner Institut mit dem RKI in Wer- nigerode aus 588 EHEC-Stämmen von Patienten mit HUS etabliert hat.
Diese weltweit einmalige Samm- lung enthält somit alle 42 EHEC- Typen, die seit 1996 in Deutschland bei Patienten mit HUS aufgetreten sind. „Seit 2007 sind keine neuen HUSEC-Typen in Deutschland mehr dazugekommen“, teilte Karch auf einer Pressekonferenz in Müns- ter mit. Mit dem nun identifizierten ENTEROHÄMORRHAGISCHE ESCHERICHIA COLI
Größter HUS-Ausbruch in Deutschland
Nach Angaben des Robert Koch-Instituts sind die Anzahl schwerer Verläufe sowie Alter und Geschlecht der Patienten mit hämolytisch-urämischen Syndrom untypisch.
Foto: Manfred Rohde/HZI
Der Feind im Darm: Wie entero- hämorrhagische Escherichia-coli- Bakterien sich an der Darmwand festsetzen
Nach dem Infektionsschutzgesetz sind Ärzte und Ärztinnen zur Meldung des ente- ropathischen hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS) verpflichtet. Hierfür stellt das Robert Koch-Institut eine Vorlage bereit, die im Internet abgerufen werden kann unter:
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www.rki.de > Infektionskrankheiten A–Z >EHEC-Infektionen unter Epidemiologie
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www.rki.de > Infektionsschutz > Infektionsschutzgesetz> Meldebögen > gemäß § 6 (Arzt)
Damit das jeweils zuständige Gesundheitsamt schnell und einfach gefunden wer- den kann, steht zudem ein Postleitzahl-Tool zur Verfügung: http://tools.rki.de/PLZTool/.
MELDUNG AN DAS GESUNDHEITSAMT
M E D I Z I N R E P O R T
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3. Juni 2011 EHEC-Typ sei es bisher weder inDeutschland noch weltweit zu do- kumentierten Ausbrüchen gekom- men. Derzeit arbeite man an einem hochspezifischen Test, mit dem sich der Verdacht auf die neue Erreger- variante rasch bestätigen oder aus- schließen lasse. Und man habe be- gonnen, die Gesamtgenomsequenz des Stammes zu ermitteln.
Übertragung und Inkubation:
EHEC-Bakterien werden direkt oder indirekt vom Tier auf den Menschen übertragen. Als Reser- voir gelten Wiederkäuer, vor allem Rinder, Schafe und Ziegen. Die Übertragung auf den Menschen er- folgt fäkal-oral, wobei die Erreger- aufnahme über den Kontakt mit Tierkot, über kontaminierte Lebens- mittel oder Wasser erfolgt, aber auch durch direkten Kontakt von Mensch zu Mensch (Schmierinfektion). Die Ergebnisse der vom RKI in Koope- ration mit den Hamburger Gesund- heitsbehörden und Hamburger Kran- kenhäusern durchgeführten Fallkon- trollstudie deuteten auf einen Zu- sammenhang der Erkrankungen mit dem Verzehr von Salatgurken, ro- hen Tomaten und Blattsalaten. Dar- aufhin warnten das RKI und das Bundesinstitut für Risikobewertung am 25. Mai vor dem Verzehr dieser Produkte in Norddeutschland.
„Inzwischen wurden durch die Lebensmittelbehörden in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und an- deren Bundesländern bei Salatgur- ken Nachweise von Shigatoxin ge- führt. Ob und wie diese Befunde den EHEC/HUS-Ausbruch und ins- besondere dessen regionale Vertei- lung mit Schwerpunkt Nord- deutschland erklären können, ist derzeit unklar“, sagte Stark.
Die Inkubationszeit für EHEC beträgt circa zwei bis zehn Tage (Durchschnitt: drei bis vier Tage), die Latenzzeit zwischen Beginn der Magen-Darm-Symptomatik und enteropathischem HUS circa eine Woche.
Diagnose: Ärzte sollten bei Pa- tienten mit blutigem Durchfall ei- nen EHEC-Nachweis (im Stuhl) an- streben (Kasten Falldefinition).
Diese Patienten sollten im Hinblick auf die Entwicklung eines HUS eng beobachtet und bei ersten Anzei-
chen eines HUS an geeignete Be- handlungszentren überwiesen wer- den. Symptome von EHEC-assozi- ierten HUS-Erkrankungen begin- nen in der Regel innerhalb einer Woche nach Beginn des Durchfalls.
Der Zeitraum zwischen der Infek - tion und den ersten Durchfallsymp- tomen beträgt durchschnittlich drei bis vier Tage.
Diagnostizierende Laboratorien sollten bei Erregernachweis geeig- nete Proben an das Nationale Refe- renzzentrum für Salmonellen und andere Enteritiserreger am RKI (Standort Wernigerode) senden.
Labore und Ärzte sind nach dem Infektionsschutzgesetz ver- pflichtet, sowohl mikrobiologisch nachgewiesene EHEC-Infektionen
als auch das Krankheitsbild des HUS (auch bereits bei Krankheits- verdacht) unverzüglich an das örtli- che Gesundheitsamt zu melden (Kasten Meldung an das Gesund- heitsamt).
Therapie: Die Behandlung der Krankheitssymptome kann nur sym - ptomatisch erfolgen. Eine antibakte- rielle Therapie ist nicht angezeigt, da sie die Bakterienausscheidung ver- längern und zur Toxinbildung füh- ren kann. Viele der Patienten mit blutigen Diarrhöen bedürfen einer stationären Behandlung, HUS-Pa- tienten häufig intensivmedizini- scher Betreuung, einer Dialyse und unter Umständen auch einer Plas-
mapherese. ■
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn Falldefintion für HUS-Fälle im Rahmen des
Ausbruchs im Frühjahr 2011 (RKI)
Exposition: Der relevante Expositionszeitraum einer Person ist definiert als der Zeitraum zwischen dem 21. April (einschließlich) und ihrem Erkran- kungsbeginn. „Während des Expositionszeitraums“
bezeichnet jeden Zeitraum, der den relevanten Ex- positionszeitraum überschneidet. Zum Ausbruch können nur erkrankte Personen gehören, die min- destens eines der folgenden Kriterien erfüllen:
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Wohnsitz oder ständiger Aufenthalt in Deutschland während des Expositionszeitraums;ausgenommen sind Personen, von denen be- kannt ist, dass sie sich zu keinem Zeitpunkt die- ses Zeitraums in Deutschland aufgehalten haben
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vorübergehender Aufenthalt in Deutschland während des Expositionszeitraums●
Verzehr eines Lebensmittels, das während des Expositionszeitraums in Deutschland erwor- ben wurde●
enger Kontakt (zum Beispiel in Wohnge- meinschaft) zu einem HUS-FallKlinisches Bild: Erkrankungsbeginn am oder nach dem 1. Mai und klinisches Bild eines akuten enteropathischen HUS, definiert als mindestens zwei der drei folgenden Kriterien:
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hämolytische Anämie●
Thrombozytopenie < 150 000 Zellen/mm3●
NierenfunktionsstörungLabordiagnostischer Nachweis: Positiver Befund bei mindestens einer der vier folgenden Untersuchungen:
(Toxinnachweis:)
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Erregeranzucht und -isolierung nur aus Stuhl und Nachweis des Shigatoxins Stx2 mittels ELISA in der E.-coli-Kultur●
Erregeranzucht in Mischkultur, Stuhlanrei- cherungskultur oder Isolierung von E.-coli und Nukleinsäure-Nachweis (zum Beispiel PCR) des Shigatoxin-Gens stx2 aus dieser Probe(indirekter [serologischer] Nachweis:)
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Nachweis von Anti-LPS-IgM-Antikörpern gegen E.-coli-Serogruppen (einmalig deutlich er- höhter Wert – zum Beispiel ELISA, Western-Blot)●
deutliche Änderung zwischen zwei Pro- ben beim Nachweis von Anti-LPS-IgG-Antikör- pern gegen E.-coli-Serogruppen (zum Beispiel ELISA)Folgende Fallkategorien werden unter- schieden: