BLICK INS AUSLAND
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
D
as „Schwedische Modell" eines weit ausgebauten verstaatlich- ten Systems der sozialen Sicherung galt Ende der sechziger bis Ende der siebziger Jahre auch hierzulande als Vorbild. Fast überdimensionierte, an zentralen Orten angesiedelte Kran- kenhäuser galten als das „Non plus ultra" ebenso wie das nach dem Für- sorge- und Gleichheitsprinzip ausge- richtete, ausufernde Leistungssystem im schwedischen Sozialstaat.Heute hingegen sind überdi- mensionierte stationäre Einrichtun- gen und verstaatlichte Arztpraxen in Ballungszentren wie in den fast men- schenleeren Regionen eher zum
„Mahnmal eines armen teuren Wohlfahrtsstaates" geworden. Über- all wird inzwischen auch in Schwe- den über Versorgungsungleichge- wichte und Finanzierungskrisen des kaum mehr bezahlbaren „sozialen Blocks" geklagt. Die Sozialleistungs- quote oszilliert inzwischen bei 9,5 bis fast 10 Prozent, gemessen am Brut- tosozialprodukt. Die Steuer- und Abgabenlastquote in diesem skandi- navischen Land ist bis zur „Schmerz- grenze" gestiegen, wie viele Schwe- den klagen.
Schweden:
Rigoroses Sparprogramm
angesagt
Um die „Krise" im schwedischen Sozialstaat, insbesondere im Ge- sundheitssystem, abzuwenden, sind ein rigoroses Sparprogramm und ei- ne teilweise völlige Neuorganisation angesagt. Obwohl über die überfälli- gen Reformen bereits lange debat- tiert wird, wollen sowohl der Mini- sterpräsident Carl Bildt von der bür- gerlichen Minderheitsregierung als auch der sozialdemokratische Oppo- sitionsführer Ingvar Carlsson jetzt ernst machen. In Kürze soll dem Par- lament ein Gesetzentwurf über ei- nen Umbau des Gesundheitswesens vorgelegt werden, der sich weitge- hend an das System des britischen National Health Service (NHS) an-
lehnt. An die Stelle der kommunalen Gesundheitszentren mit angestellten Ärzten, unter denen der Patient kei- ne Wahlmöglichkeit hat, sollen haus- ärztliche Praxen treten, in denen All- gemeinärzte solo oder in Gemein- schaft arbeiten. Formal soll schwedi- schen Bürgern die freie Arztwahl eingeräumt werden, indem sie sich bei einem Arzt ihrer Wahl einschrei- ben. Allerdings soll auch die Mög- lichkeit bestehen bleiben, daß Ge- bietskörperschaften Ärzte anstellen, um so eine möglichst flächendecken- de ärztliche Versorgung zu garantie- ren.
In einzelnen schwedischen Krankenhäusern — so etwa im Uni- versitätskrankenhaus Linköping — sind neue interne Strukturen erfolg- reich erprobt worden. Die traditio- nelle Gliederung in medizinische Fachdisziplinen ist durch interdiszi- plinäre, organbezogene „Organklini- ken" abgelöst worden. Davon sollen die Medizin, das Fachpersonal und nicht zuletzt der Patient profitieren.
Wir veröffentlichen zur aktuellen Reformdebatte in Schweden zwei Beiträge deutscher Ärzte, die aus
„erster Hand" berichten. DÄ
Es war einmal:
Der schwedische Wohlfahrtsstaat
Zehn Jahre sozialpolitische Reformpolitik - und kein Ende Christoph Gotzes
Seit Anfang der achtziger Jahre sind immer wieder scharfe po- litische Debatten im schwedischen Reichstag zur Finanzierung des Sozialstaates geführt worden. Diese Thematik gehörte auch vor den letzten beiden Reichstagswahlen zu den brisante- sten Wahlkampfthemen. Ursache dafür waren vor allem die ge- stiegenen Kosten für den Sozialetat, die das Bruttosozialpro- dukt bereits im Jahr 1982 mit einem Anteil von 9,7 Prozent stra- pazierten (1990: 9,3 Prozent). Der Grund für die nach der An- sicht aller beteiligten politischen Parteien hohen Kosten ist der
gute Standard des schwedischen Sozial- undGesundheitswe- sens. Eine sozial- und gesundheitspolitische Reformdebatte über den schwedischen Wohlfahrtsstaat ist erneut im Gange.
Die Aufwendungen sind in den letzten 15 Jahren um 15 bis 20 Pro- zent jährlich gestiegen und wurden durch staatliche Subventionen (27 Prozent), Steuern von regionalen Verwaltungsbehörden (60 Prozent), der allgemeinen staatlichen Kran- kenversicherung (8 Prozent) sowie durch Patientengebühren (5 Pro- zent) gedeckt. Angesichts dieser Entwicklung sah sich der schwedi- sche Reichstag schon im Jahr 1985 auf der Grundlage von prospektiven Studien veranlaßt, neue Richtlinien für die Gesundheits- und Sozialpoli- tik festzulegen. Diese umfaßten un- ter anderem die Verbesserung von prophylaktischen Maßnahmen, Pu- blizierung und Verminderung von Gesundheitsrisiken, eine verbesserte langfristige Planung im Gesundheits- und Sozialwesen sowie eine sukzessi- ve und starke Verminderung von Pflegeplätzen. Zusätzlich werden ei- ne weitere Intensivierung der Aus- und Weiterbildung des Fachperso- nals und die Unterstützung und Wei- Dt. Ärztebl. 89, Heft 50, 11. Dezember 1992 (29) A1-4277
Tagesstätte verschieden kostenlos
verschieden, meist kosten- los
verschieden Notrufanlage
sehr verschieden, meist stark subventioniert verschieden
kommunaler Fahrdienst
kostenlos bis zu 20 000 skr verschieden
Behindertenausrüstung zu Hause
verschieden
Arzneimittel höchstens 65 skr pro Rezept
Art der Dienstleistung/ Betriebskosten (Brutto, 1988)
Kosten je Patient (1988) Pflege
Krankenhauspflege geriatrisch klin /Pflege- heim
Altersheim ca. 380 skr/Tag
höchstens 55 skr/Tag höchstens 55 skr/Tag
einkommensabhängig, höchstens 70 Prozent der Rente
ca. 2000 skr/Tag ca. 1100 skr/Tag
Hausbesuche:
—Bezirksarzt
—Bezirksschwester Hauspflege
ca. 400 skr/Std.
ca. 150 skr/Std.
ca. 130 skr/Std.
höchstens 90 skr/Besuch kostenlos
einkommensabhängig stark subventioniert
Tagespflegezentrum ca. 100 skr/Tag 35 skr/Tag
Behindertenhilfsmittel verschieden kostenlos
Tabelle: Dienstleistungs- und Pflegekosten
100 schwedische Kronen (skr) entsprechen rund 27 DM.
I
Quelle: Planungs- und Rationalisierungsinstitut des Gesundheits- und Sozialwesens, StockholmI
terentwicklung der international hoch anerkannten schwedischen Forschung im medizinischen Bereich verlangt.
Erfolge und Kostenexplosion
Insgesamt konnten mit diesen Reformen auch Einsparungen er- reicht werden. Die Sozialausgaben sanken ab 1985 um 0,3 Prozentpunk- te auf 9,1 Prozent (1986 bis 1989) des Bruttosozialprodukts. Ein neuerli- cher Anstieg auf 9,3 Prozent im Jahr 1990 belastete jedoch die Finanzen wieder Hinzu kamen eine Reihe von anderen Problemen, durch die die Defizite im Versorgungs- und Pfle- gebereich transparent wurden.
Ärzte kritisierten zum Beispiel lange Wartezeiten für Operationen, besonders solche von Koronararteri- en sowie Hornhauttransplantationen und Hüftgelenksoperationen.
Demographie kontra Pflegestandard
Eine weitere Problemsituation in finanzieller und pflegerischer Hin- sicht stellt die Betreuung älterer, be- sonders pflegebedürftiger Menschen dar. Die Zahl der Menschen in der Altersgruppe von über 80 Jahren ist seit 1980 um 31 Prozent gestiegen.
Die Gruppe der 85- bis 89jährigen wird bis zum Jahr 2000 voraussicht- lich um 40 Prozent ansteigen. Ihre optimale Betreuung kann nicht mehr gewährleistet werden, da die Not- wendigkeit einer vermehrten Ein- stellung von Personal im Gesund- heitswesen von den finanziellen Ko- sten und einer ständig sinkenden Anzahl von Erwerbstätigen immer wieder überholt wird.
In Schweden stellen sich somit die politischen Kräfte seit Jahren die Frage, wie der Pflegestandard quali- tativ und quantitativ aufrecht erhal- ten werden kann.
Pläne für die Aufstockung der derzeitigen Pflegedienstleistungen bestehen nicht, ihr Ausbau ist auch für die Zukunft unwahrscheinlich.
Mangel an Personal und Geld könn- ten dazu führen, daß in Zukunft der
Pflegebereich dadurch entlastet wer- den muß, daß wieder vermehrt Fa- milienangehörige die Pflege und Un- terstützung von älteren Mitmen- schen übernehmen.
Eine zusätzliche Belastung stel- len die Subventionierung der sozia- len Dienstleistungen der Gemeinden sowie die Gesundheits- und Kran- kenpflege, die von den regionalen Verwaltungsbehörden getragen wird, dar. Der Patient bezahlt nor- malerweise nur einen Bruchteil der tatsächlichen, subventionierten Be- triebskosten. Mit Rücksicht auf die Finanzlage wurden daraufhin eine engere Verbindung der künftigen Entwicklung des Gesundheitswesens mit dem gesamten ökonomischen Wachstum der Gesellschaft und eine verbesserte Effektivität und Produk- tivität im Gesundheits- und Kran- kenpflegebereich überdacht.
Die Umsetzung dieser sozialpo- litischen Idee wurde durch die Fi- nanzkrise mit wachsendem Haus- haltsdefizit, Devisenabflüssen ins Ausland und dem Kursverfall der
schwedischen Krone Mitte Septem- ber 1992 begünstigt.
Finanzpolitischer Handlungsbedarf
Die Reichbank reagierte auf die Septemberkrise mit kurzfristigen Er- höhungen der Leitzinsen von 12 auf 16, 24, 75, ja 500 Prozent innerhalb weniger Tage. Die Dramatik dieser Finanzkrise zwang den Regierungs- chef der bürgerlichen Minderheits- regierung Carl Bildt und den sozial- demokratischen Oppositionsführer Ingvar Carlsson zu einer bisher für unmöglich gehaltenen Zusammenar- beit.
Schweden als Nation stehe auf dem Spiel, und so wurde in kürzester Zeit ein als „historisch" bezeichnetes Sparpaket der Öffentlichkeit präsen- tiert. Dieses sieht Ausgabensenkun- gen von rund 30 Milliarden Kronen bis zum Jahr 1997 und Steueranhe- bungen von bis zu 10 Milliarden Kro- nen vor.
A1-4280 (32) Dt. Ärztebl. 89, Heft 50, 11. Dezember 1992
Am Universitätskrankenhaus Linköping/Schweden gibt es seit Anfang 1992 keine herkömmlichen Kliniken für Chirurgie und Medizin mehr. Im Rahmen einer Reform der Krankenhausorga- nisation gab man die Gliederung in die traditionellen Diszipli- nen auf und schuf interdisziplinäre, organsystembezogene
„Organkliniken". Ziel der Reform war es, vermehrt den Bedürf- nissen der Patienten zu entsprechen, den Veränderungen und Fortschritten in der Medizin Rechnung zu tragen und die Kran- kenhauspflege effektiver zu gestalten.
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Der Patient im Zentrum
„Organkliniken" in Linköping/Schweden Rolf A. Aubert de la Rüe
• Betroffen von den Ausgaben- kürzungen sind unter anderem der Militärhaushalt und die Entwick- lungshilfe mit je einer Milliarde Kro- nen, vor allem aber der Sozialetat.
Vorgesehen sind die Anhebung des durchschnittlichen Rentenalters von 65 auf 66 Jahre und die Senkung der Renten um zwei Prozent ab 1993.
• Im Krankenversicherungssy- stem wird ein Karenztag eingeführt.
An den beiden folgenden Tagen wird der Lohn in Höhe von 75 Prozent er- stattet; bis zum 90. Tag zu 90 Pro- zent.
• Beschlossen ist auch die Sen- kung des Wohnungsgeldes, die ur- sprünglich beabsichtigte Erhöhung des Kindergeldes entfällt. Die Ein- führung des sogenannten Betreu- ungsgeldes für die Kindererziehung wird bis zur Verbesserung der öko- nomischen Situation verschoben.
Krankenversicherungs- system und Steuerlast Abgestimmt werden soll dar- über, ob das Krankenversicherungs- system aus dem Staatshaushalt aus- gegliedert und den Arbeitgebern und Arbeitnehmern überlassen wer- den soll, was zu erhofften Einsparun- gen in Höhe von 45 Milliarden Kro- nen führen würde.
Steuereinnahmen sollen vor al- lem durch die Erhöhung der Benzin- und Tabaksteuer erzielt werden. Be- reits versprochene Steuersenkungen werden ausgesetzt. Im Gegenzug wurden ein Arbeitsbeschaffungspro- gramm sowie die Bereitstellung von Umschulungs- und Ausbildungsplät- zen für rund 10 Milliarden Kronen beschlossen.
Von Regierung und Opposition wurde die straffe Finanzpolitik in der Öffentlichkeit entschieden ver- teidigt. Auf jeden Fall hat aber das so häufig zitierte „schwedische Mo- dell des Wohlfahrtsstaates" durch die jüngsten Reformen seinen bisher größten Rückschlag erlitten.
Anschrift des Verfassers:
Christoph Gotzes Arzt
Auf dem Forst 7 W-5400 Koblenz
Bis zur Reform hatte das Uni- versitätskrankenhaus in Linköping eine traditionelle Organisations- struktur, die aus den üblichen medi- zinischen Disziplinen als selbständi- ge Kliniken bestand. Chirurgie, Me- dizin und andere Kliniken waren in spezialisierte Sektionen unterglie- dert. Notfallmäßig aufgenommene Patienten wurden je nach Belegungs- situation auf die verschiedenen Ab- teilungen verteilt.
Viel Leerlauf
Die Initiatoren der Reform un- tersuchten die bestehende Organisa- tionsform und kamen zu dem Schluß, daß diese vor allem auf Tra- dition beruht und die Patientenbe- treuung sich mehr nach der beste- henden Organisation als nach den Bedürfnissen der Patienten richtet.
Sie fanden eine Verschwendung an Mitteln durch unnötige Mehrarbeit, wie zum Beispiel parallele Kranken- geschichten und wiederholte Labor- und Röntgenuntersuchungen wäh- rend der Behandlung der Patienten an verschiedenen Abteilungen. Pa- tienten wurden zu Untersuchungen und Behandlungen zu verschiedenen Spezialisten und Kliniken geschickt, wobei es nicht selten zu Wartezeiten kam, in denen nichts mit dem Patien- ten geschah. Auch Verlegungen in andere Kliniken im Hause gingen oft
mit einem Tempoverlust und inef- fektivem Arbeitsaufwand einher.
Die Spezialisten ihrerseits sahen oft nicht den Patienten in seiner Ge- samtheit, sondern waren auf das ei- gene Spezialgebiet fixiert.
Man sah auch, daß die bestehen- de Krankenhausorganisation nicht den Fortschritten und Veränderun- gen der Medizin entsprach: Viele Behandlungs- und Untersuchungs- methoden haben sich verändert oder sind neu hinzugekommen Früher klare Abgrenzungen der medizini- schen Disziplinen sind unscharf oder flexibel geworden, wohingegen die Krankenhausstrukturen unverändert und starr geblieben sind.
Solche Veränderungen verlan- gen von den Ärzten zunehmend in- terdisziplinäres Denken und Zusam- menarbeit, um die Patienten der für sie besten Behandlungsmethode zu- zuführen.
Die Reforminitiatoren kamen zu dem Schluß, daß sich die Kranken- hausorganisation den veränderten Verhältnissen anpassen muß, und stellten folgende Forderung: In einer veränderten Organisation soll der Patient im Zentrum stehen, das heißt alle Kompetenz und Expertise soll um den Patienten gesammelt werden. Der Patient darf nicht von einem Spezialisten zum