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Archiv "Drogensucht: Wunsch nach Begegnung mit einer neuen Welt" (17.09.1986)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

FORUM

W

enn Menschen zusammen- kommen, die etwas Ge- meinsames verbindet und die bereit sind, miteinander für ih- re Entziehung zu kämpfen, ent- steht nicht nur Gemeinschafts- geist in der Gruppe, sondern auch jenes mystische Gruppenklima, das den einzelnen in seinem Ver- such anspornt und bestärkt. Sol- che Erfahrungen haben zum Bei- spiel die Anonymen Alkoholiker, aber auch die Zentren gemacht, die kollektive Diätkuren durchfüh- ren. Hier wird deutlich, was zu Be- ginn gesagt wurde: daß nämlich die Drogenabhängigen dazu ten- dieren, sich in esoterischen Bru- derschaften zusammenzuschlie- ßen. Für den modernen, unerfah- renen Initianden, der sich der Dro- ge oder anderem zuwendet, scheint die Gruppe besonders wichtig zu sein. Die modernen Er- satzstrukturen für die Initiation treten ganz deutlich als Gruppen- phänomene auf, auch weil die Gruppe als Ganzes weniger be- wußt ist als der einzelne. Der Ver- haltenskodex der Gruppe, zum Beispiel die Art und Weise, wie -sich ein Gruppenmitglied die Dro-

ge verschafft und konsumiert, hat offenbar neben den technischen auch rituelle Aspekte. Hier klingen die alten Eingangsriten der primi- tiven Völker oder auch des klassi- schen Altertums nach, die den jun- gen Mann bei seinem Eintritt in ei-

Drogensucht

Wunsch nach Begegnung mit einer neuen Welt

Luigi Zoja

ne als höher bewertete Altersstufe oder soziale Gruppierung beglei- ten. Der Eindruck einer Verwandt- schaft mit antiken Vorbildern scheint durch weitere Beobach- tungen bestätigt zu werden: Nicht nur die Hinwendung zur Droge, auch die Abkehr von ihr und die Loslösung von der Gruppe wird von der Gemeinschaft unterstützt und mitgetragen; es wird auf diese Weise ein echter Austritts- oder Trennungsritus vollzogen, der in der traditionellen Klassifizierung als eine besondere Form der Über- gangsriten gilt.

Auch die Trennung von der thera- peutischen Gruppe und das Ende der Symbiose mit der Droge könn-

ten demnach als Etappen der In- itiation gesehen werden. Sie sind mühseliger und anstrengender als die Eingangsetappen, weil sie den Betreffenden mit der eigenen Ein- samkeit konfrontieren werden, da- für aber auch realitätsbezogener und unendlich bewußter erlebt.

Wenn der Initiation in den Drogen- konsum tatsächlich ein Bedürfnis nach Transzendierung und eine Sehnsucht nach dem Heiligen zu- grunde liegen, so kann auch die Befreiung von der Droge mit ei- nem entsprechenden qualitativen Sprung erreicht werden, der die vorangehende Situation hinter sich läßt. Hier liegt vielleicht die Wurzel für das Scheitern so vieler Therapien, die vorwiegend auf dem Konzept der Entziehung be- ruhen; man kann nicht nur etwas beseitigen, man muß die Energie des Patienten auch in eine völlig neue Bahn lenken.

Die Therapie von Drogensüchti- gen ist geradezu ein Testfall für die analytische Tätigkeit, denn hier ist das Risiko der Vermi- schung mit anderen Fachgebieten am höchsten und die Schwierig- keit, eine funktionierende Bezie- hung zum Patienten aufzubauen, am größten. Das ständige Herein- spielen fachfremder Elemente aus soziologischen, juristischen und anderen Bereichen erschwert die gemeinsame Arbeit. Trotzdem kann sich die Situation im Laufe der Zeit umkehren — vorausge- setzt, daß die therapeutische Be- gegnung besonders glücklich ver- läuft und die allmählich entstehen- de Beziehung zwischen Patient und Analytiker die aktivierende Kraft entfaltet und den Schutz bie- tet, deren der Patient zur Infrage- stellung seiner selbst bedarf.

Ebenso wichtig für den Erfolg der Analyse ist die Begegnung mit Menschen, die den gleichen Kampf führen. Damit wird wenig- stens ein Teil des analytischen Prozesses in einen größeren Grup- penprozeß einbezogen. Vielleicht ist die erste Etappe der Befreiung von der Drogenabhängigkeit gera- de eben die Verlagerung der „Ab-

„Sehnsucht nach Wiedergeburt — Ein neues Verständnis der Drogensucht”, so heißt ein jetzt erscheinendes Buch von Dr. Luigi Zoja, einem Mailänder Psychotherapeuten der Schule Jungs (Kreuz-Verlag, etwa 160 Seiten, 19,80 DM). Luigi Zoja analysiert in seinem Buch, dem der nach- folgend veröffentlichte Auszug entnommen ist, die Ursa- chen der Drogensucht in einem größeren kulturellen Rahmen. Er hat jahrelang mit Drogensüchtigen gearbei- tet und entdeckt, daß sich in der Einnahme von Drogen unbewußt die Sehnsucht des Menschen nach Initiation, das heißt Wiedergeburt, neuem Leben zeigt. In früheren Kulturen war der Drogengenuß in einen religiösen Ritus eingebunden und somit kontrolliert. Heute — in einer ent- sakralisierten Welt — ist er außer Kontrolle geraten. th

83. Jahrgang Heft 38 vom 17. September 1986 (27) 2515 Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

„Sehnsucht und Wiedergeburt”

hängigkeit" von der Droge auf die Analyse oder auf die Heilung su- chende Gemeinschaft.

Ein weiterer fachfremder Aspekt, der die psychotherapeutische Tä- tigkeit stark beeinflussen kann, ist der ökonomische. Nach Berech- nungen, die vor Jahren in der Schweiz und in der Bundesrepu- blik durchgeführt wurden, kostete um die Mitte der siebziger Jahre jeder Drogenabhängige die Ge- sellschaft etwa 1 bis 1,5 Millionen Mark. Es ist klar, daß dies für eine Gesellschaft, zu deren wichtigsten Werten die ökonomischen zählen, eine Form schwerster negativer In- vestition darstellt; sie wird dem- nach alles daransetzen, hohe Summen zu deren Behebung be- reitzustellen. Die Analyse gilt ge- wöhnlich als die teuerste Thera- pieform: und doch liegen die Ko- sten für eine sehr lange Therapie in einer Höhe, für die der Einsatz bei positivem Verlauf immer noch lohnend ist.

Nicht unproduktiv, sondern anti-produktiv Der Begriff „negative Investition"

bietet eine erste Gelegenheit, über die archetypischen Aspekte im Verhältnis zwischen der Psycholo- gie des Drogenabhängigen und der herrschenden Kultur nachzu- denken. Ein Begriff wie „negative Investition" paßt in der Tat auf den heutigen Drogenkonsumenten.

Unweigerlich existiert eine enge Verbindung zwischen den konven- tionell herrschenden Werten in ei- ner Gesellschaft, das heißt in dem, was die Jungsche Psychologie Kollektivbewußtsein nennt, und der Psychologie des Individuums, das in dieser Gesellschaft lebt;

auch wenn es jemand ist, der be- schlossen hat, sich abzusondern, sich an den Rand zu stellen. Seine Psyche wird gerade dadurch, daß sie sich alternative Werte schafft, zum großen Teil von den herr- schenden Normen beeinflußt: in vorwiegend negativer Form, in- dem sie sich auf eine konstant an- haltende Gegenposition fixiert.

Entgegen anderen Meinungen denke ich, daß sich der Drogen- süchtige dem unsere Gesellschaft beherrschenden Imperativ, ein ökonomisches Subjekt zu sein, nicht entzieht. Er ist von der öko- nomischen Bildfläche nicht ver- schwunden; er ist gegenwärtig, in- sofern er destruktiv ist. Der be- wußt handelnde Drogensüchtige weiß und beschließt auch, nicht unproduktiv, sondern antiproduk- tiv zu sein.

Mehr als einmal habe ich den pa- radoxen Stolz des Drogensüchti- gen erlebt, mit dem er verkündet:

„Ich bin drogensüchtig." Diese Haltung gab es meines Wissens früher nicht, aber sie ist heute cha- rakteristisch für die Jüngeren, bei denen die „harten" Drogen im Mit- telpunkt jeglichen Interesses ste- hen.

Demnach genügt es nicht, den Eintritt in die Welt der Drogen als eine Regression zu betrachten, die auf eine mangelnde personale Identität und die fehlende gesell- schaftliche Rolle zurückzuführen ist. Er muß auch als eine aktive Entscheidung gesehen werden, mit der der Betreffende mehr oder weniger bewußt diese Mängel aus- gleichen will, indem er eine genau umrissene Identität und eine sehr auffallende, wenn auch primitive Rolle übernimmt.

Ich möchte kurz begründen, war- um ich die beiden Begriffe „Rolle"

und „Identität" benutze. Ich spre- che hier von jungen Leuten, denen es schwerfällt, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Es handelt sich demnach neben dem psycho- logischen auch um ein soziologi- sches Problem.

Unter „Identität" verstehe ich eine seelisch gelebte Realität, die Kon- tinuität und Stabilität besitzt (man erlebt sich als identisch mit sich selbst, auch im Wechsel von Zeit und Raum). Der soziologische Be- griff „Rolle" bezeichnet etwas, was in vieler Hinsicht die äußere Entsprechung der Identität ist, aber sehr viel weniger auf die Per-

son des einzelnen bezogen, näm- lich die Gesamtheit der Erwartun- gen, die eine Gesellschaft mit der Position und der Funktion des in ihr lebenden Individuums verbin- det. Natürlich müssen weder Iden- tität noch Rolle bewußt erlebt wer- den, nur in Augenblicken beson- deren Engagements wird man sich ihrer teilweise bewußt.

Die Rolle des

„negativen Helden"

Für unsere Überlegungen muß festgehalten werden, daß Identität und Rolle in einem Prozeß fort- schreitender Verfeinerung und Differenzierung aufgebaut wer- den; ihre Ursprünge sind elemen- tar archetypische Verhaltensmu- ster, die natürlich um so schwieri- ger erkennbar sind, je ausgepräg- ter die Individualität eines Men- schen ist und je mehr sich die Rol- len in einer Gesellschaft ausdiffe- renziert haben. Doch wird es nach Jungschem Verständnis immer den mythischen Helden, die Große Mutter oder anderes geben, was durch unsere Seinsweise hin- durch spricht — auch wenn sich diese Archetypen leichter in jenen Stadien der Persönlichkeitsent- wicklung erkennen lassen, in de- nen sich eine stabile Ichstruktur noch nicht gebildet hat (in der Kindheit oder aufgrund psychi- scher Pathologien).

Wie in der Einleitung gesagt wur- de, beschäftige ich mich nicht mit archetypischen Gestalten, son- dern mit einem archetypischen Prozeß. Die Initiation ist ein sol- cher Prozeß; er war in früheren Zeiten nicht nur bestimmten Per- sonen zugänglich, sondern konn- te die ganze Bevölkerung umfas- sen, zumindest ihren männlichen Teil.

Hier aber steht jener unbewußte Versuch der Initiation, als den ich den Drogenkonsum betrachte, zur Diskussion. Das erfordert eine teil- weise Korrektur meiner Prämisse.

Man kann nämlich verallgemei- nernd sagen, daß hinter dem mo- 2516 (28) Heft 38 vom 17. September 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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Luigi Zoja

sucht ehn nach Wieder gehurt

Ein nettes erständnis der Dragonsucht DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

„Sehnsucht und Wiedergeburt"

dernen Drogenkonsum eine ar- chetypisch personifizierte Instanz wirksam wird, die ich als „negati- ven Helden" bezeichnen will.

Das archetypische Bedürfnis, den eigenen Zustand um jeden Preis hinter sich zu lassen, auch um den Preis der körperlichen Gesund- heit, ist besonders stark bei Men- schen, die an der Bedeutungslo- sigkeit ihrer Existenz leiden und sich weder an einer inneren Identi- tät noch an einem klar umschrie- benen Rollenbild orientieren kön- nen. Wir wissen zum Beispiel, daß ein Mensch mittleren Alters mit befriedigender und stabiler beruf- licher Position eigentlich nie zur Einnahme von Drogen neigt.

Verglichen damit kann das Verhal- ten des Drogensüchtigen, der sich als solcher zur Schau stellt, nicht nur als Flucht in eine andere Welt gesehen werden, sondern auch als ein kindlicher und unbewußter Versuch, sich der gesellschaft- lichen Forderung nach Identität und Rolle anzupassen, wenn auch mit negativen Vorzeichen. Also nicht als Flucht aus der Gesell- schaft, wie man gewöhnlich an- nimmt, sondern als verzweifelter Versuch, sich an sie zu klammern und einen Platz in ihr einzuneh- men.

In dem Maße, wie der Drogensüch- tige merkt, daß die Familie wie hypnotisiert um ihn kreist und die Gesellschaft sein Verhalten als ei- nen Angriff auf das bürgerliche Zusammenleben und das wirt- schaftliche Gleichgewicht wertet, dey unter Umständen folgenrei- cher ist als ein bewaffneter An- griff, schlüpft der Drogensüchtige in die Rolle des negativen Helden, bleibt dabei aber ein „homo oeco- nomicus".

Heute haben junge Menschen nur noch selten Gelegenheit, sich als Protagonisten zu fühlen; daß sie zur Droge greifen, um sich eine zu verschaffen, ist kaum verwunder- lich. Warum sollte man hierin ei- nen regressiven Verzicht des Ich sehen, wenn der Betreffende auf

diesem Wege Augenblicke der Identitätsfindung als Held sucht?

Der stärkste Auslöser heroischer Archetypen — die bewaffnete Kon- frontation — verliert in den europä- ischen Ländern an Aktualität. Das archaische Bedürfnis des Men- schen, Helden- und Feindfiguren in seiner Umwelt zu suchen, ver- dichtet sich bei den Drogenge- fährdeten zu dem schwer faßbaren Gefühl, in einer Art Bürgerkrieg zu leben, der zwischen einer Minder- heit von Todesengeln und einer Mehrheit von gesetzestreuen, aber identitätslosen Bürgern ausgetra- gen wird.

Die Anstrengungen des Men- schen, er selbst zu werden, be- wußt und in Verantwortung seine Entwicklung und seine Entschei- dungen in die Hand zu nehmen, und damit die Anstrengung des Ich, aus dem Dunkel des Unbe- wußten aufzutauchen, sind in den Mythologien als Kampf des Helden gegen Feinde und Drachen ver- sinnbildlicht worden. Archety- pisch gesehen ist dieser Urkampf das Sinnbild für jede beginnende psychologische Entwicklung, für jenes Stadium in der mensch-

lichen Entwicklung, wo die Exi- stenz des Ich noch auf dem Spiele steht, wo es noch schrittweise durch kraftspendende Bilder be- gleitet werden muß. So empfindet das Individuum vor allem im Wachstumsalter ein Bedürfnis nach heroischen Erfahrungen oder nach Identifikationsmöglich- keiten mit Heldengestalten.

Die Bedingungen aber, die heute unser Leben bestimmen, erschwe- ren solche Erfahrungen, denn die ersehnte heroische Tat soll in der Eigenverantwortung des jungen Menschen liegen und nicht gegen die Gesellschaft gerichtet sein.

Die Kämpfe um die eigene Selbst- behauptung in der heutigen Ge- sellschaft, um individuelle oder politische Zielsetzungen sind star- ren Spielregeln unterworfen und bewegen sich in vorgeschriebe- nen Bahnen, die der einzelne nicht ändern kann und die ihm einen Großteil der Verantwortung ent- ziehen. Er muß zwar seine ganze Energie einsetzen, doch letztlich findet er überall ein bereits festge- legtes ideologisches Gerüst und eine Reglementierung seiner Wahlmöglichkeiten vor, die sei- nem Lebensweg Originalität und Verantwortung rauben.

Ein „fahrender Ritter"

ist ein Ritter des Bösen Die heutige Form des Kampfes be- steht auch immer weniger im ver- antwortungsbewußten Handeln des einzelnen, das dem Gemein- schaftsganzen verpflichtet ist und sich unter Umständen zu ihrem In- terpreten macht, wie zum Beispiel einst das Duell, dessen Ausgang ein Gottesurteil war. Wie alle ar- chetypischen Gestalten sind auch die fahrenden Ritter aber nicht un- bedingt verschwunden. Aber ei- nen Ritter ohne Herrn gibt es nun einmal nicht. Es kann ihn nur dann geben, wenn die Regeln der Ge- meinschaft gebrochen werden.

(Das Wort „Abenteuer" hat heute mit Abenteuer herzlich wenig zu tun und ist eher negativ besetzt.) p Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 38 vom 17. September 1986 (29) 2517

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

„Sehnsucht und Wiedergeburt”

Nur derjenige kann also heute ein fahrender Ritter sein, der ein Ritter des Bösen ist.

Welches ist nun das spezifische Merkmal am Kampf des Helden in seiner ursprünglich archetypi- schen, einfachsten und reinsten Form? Es ist das Aufs-Spiel-Set- zen des Lebens selbst, der bedin- gungslose Kampf um Leben und Tod. Aber diese Erfahrung wird von der heutigen Welt verdrängt, in der das Sicherheitsnetz selbst für den Akrobaten obligatorisch ist.

Die Alternative zum dramatischen Sieg ist nicht die dramatische Nie- derlage, sondern die Verflachung der menschlichen Existenz in der Bedeutungslosigkeit, in der Fremdbestimmung durch den Ap- parat der Institutionen. Die Ar- beitslosigkeit könnte in den acht- ziger Jahren das Niveau der frü- hen dreißiger Jahre erreichen.

Aber dank der staatlichen Zuwen- dung wird niemand Hungers ster- ben. Gegen fast alle Todesarten wird von den öffentlichen Institu- tionen Vorsorge getroffen. So wird derjenige, der nicht essen will, ge- waltsam ernährt, und der an Al- tersschwäche leidende Greis wird ins Krankenhaus gebracht. Auch der natürliche Tod wird allmählich aus der Physiologie herausge- nommen und als pathologisches Geschehen betrachtet.

Die persönliche und bewußte Aus- einandersetzung mit dem Tod wird immer mehr verdrängt und damit dem psychischen Leben ei- ne seiner größten Verstümmelun- gen zugefügt. „Das Leben ver- armt, es verliert an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Le- bensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf.

Es wird so schal, gehaltlos wie et- wa ein amerikanischer Flirt, bei dem es von vornherein feststeht, daß nichts vorfallen darf, zum Un- terschied zu einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei welcher bei- de Partner stets deren ernsten Konsequenzen eingedenk bleiben müssen."

Thema Duell: Interessante psychologische Aspekte Die heute noch möglichen Kämpfe setzen demnach eine Rückent- wicklung der heroischen Erfah- rung voraus. Der Staat hat den Ge- brauch von Gewalt an sich gezo- gen, sie entpersonalisiert und dem einzelnen untersagt. Die Praxis des Duells ist auch in ihren rituali- sierten und gemäßigten Formen vollständig abgeschafft. Dieser Schritt war historisch unvermeid- bar. Er ist das geringere Übel, doch psychologisch gesehen nicht ohne Probleme. Wenn vom Duell die Rede ist, so wird es mei- stens als „barbarische Institution"

oder als Mißbrauch wider die Ver- nunft gebrandmarkt. Vielleicht aber akzeptierten die „Barbaren"

ein gewisses Maß an Blutvergie- ßen als das geringere Übel, um ei- nem psychologischen Bedürfnis nachzugeben: nämlich die Gott- heit (wir würden sagen: eine ar- chetypische Instanz) durch das Gottesurteil unmittelbar zur Spra- che kommen zu lassen.

Heutzutage sorgen die General- stäbe für eine Kriegsmaschinerie, die für unpersönliche Duelle Mee- re von Blut vergießt, und das im Namen nationaler oder ideologi- scher Ziele, die am grünen Tisch abstrakt und anonym entworfen werden. Dem Bürger ist es nicht erlaubt, in die Vorbereitung dieser Mega-Duelle einzugreifen, die im Unterschied zum ritterlichen Duell beim ersten Blutvergießen nicht aufhören, geschweige denn Ge- nugtuung gewähren können.

Sicher ist das Duell als Suche nach einer gerechten Lösung durch Gewalt absurd geworden.

Man sollte aber nicht vergessen, daß es von den Beteiligten als Su- che nach Gerechtigkeit empfun- den wurde und sie in ihrer Sache aktiv werden konnten, ohne daß sich sofort die staatliche Autorität einschaltete. Es ist nur allzu ver- ständlich, wenn sich die Abwehr von Entfremdungserscheinungen

auch im Rechtsbereich auswirkt, denn gerade das Gerechtigkeits- gefühl ist im Menschen tief veran- kert und folgt archetypischen Im- pulsen. Und doch wird das Duell im italienischen Recht nicht we- gen seiner Gewaltanwendung, sondern wegen angemaßter Rechtsprechung bestraft. Es wird also unabhängig von der Tatsache des Blutvergießens verurteilt, „so- wohl vom bürgerlichen Gesetzge- ber als Delikt gegen die Ausübung der Gerichtsbarkeit wie vom mili- tärischen Gesetzgeber als Verge- hen gegen die militärische Diszi- plin". Man sieht, das Thema Duell bringt interessante psychologi- sche Aspekte, die auch in juristi- schem Zusammenhang bedeut- sam sind. Ich vermute sogar, daß die moderne Auffassung vom Rechtsstaat archetypische Erfah- rungen erschwert, zum Beispiel ei- ne Erfahrung wie das Heldentum.

Die angstbesetzte Unfähigkeit, au- tonome Verantwortung zu über- nehmen, ist eine krankhafte Ent- wicklung, die in den Augen der Li- beralen als letztes und verhee- rendstes Ergebnis des Wohlfahrts- staates zu werten ist. Aber man kann sich auch fragen, ob dieser Abfall der Lebensenergie nicht auch im Zusammenhang mit der gesamten modernen Rechtspre- chung und ihrer Grundphiloso- phie steht, die uns zwar viele Rechte von oben garantiert, uns aber daran hindert, für sie zu kämpfen.

Die moderne Zivilisation leidet an einer generellen Verarmung un- mittelbarer archetypischer Erfah- rungen. Was oben Abfall der Le- bensenergie genannt wurde, könnte von der Tiefenpsychologie als Verlust der archetypischen Re- sonanz bezeichnet werden. Eine Erfahrung, die nicht in Überein- stimmung mit einem archetypi- schen Thema gemacht wird, klingt im Menschen nicht nach, besitzt nicht die Intensität, die überzeugt und im Menschen ein Zeichen hin- terläßt. Sie hat kein „tiefes Echo".

(Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.) 2518 (30) Heft 38 vom 17. September 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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