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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Transitort Lampedusa

Gilles Reckinger sucht die Insel hinter den Schlagzeilen Mit dem Autor und Ethnologen spricht Almut Engelien

Redaktion: Petra Mallwitz

Sendung: Freitag, 05.12.14 um 10.05 Uhr in SWR2

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(2)

2 TRANSKRIPT

Almut Engelien:

Gilles Reckinger, in diesem Jahr sind schon weit über 100.000 Flüchtlinge auf

Lampedusa oder in Sizilien gelandet. Sie waren das erste Mal 2008 dort. Wie haben Sie denn die Insel vorgefunden, als Sie da zum ersten Mal ankamen?

Gilles Reckinger:

Als ich zum ersten Mal nach Lampedusa gereist bin, war ich überrascht davon, dass ich keinen einzigen Flüchtling zu Gesicht bekam, obwohl auch damals eine

allgemeine Krise ausgerufen worden war.

Almut Engelien:

Ja, und wo waren die Flüchtlinge?

Gilles Reckinger:

Die Flüchtlinge wurden zu diesem Zeitpunkt weggesperrt, die wurden weggebracht aus einem militärisch gesicherten Hafenbereich, indem die Boote anlandeten beziehungsweise hingebracht wurden. Und dann wurden die Menschen sofort mit Bussen in das Flüchtlingslager transferiert, das in der Mitte der Insel versteckt ist.

Almut Engelien:

Also, um mal eine Vorstellung zu geben, Lampedusa ist, glaube ich, ungefähr 20 Quadratkilometer groß und hat 5.700 Einwohner.

Gilles Reckinger:

Ja, Lampedusa ist neun Kilometer lang und an der breitesten Stelle gerade mal so breit, dass der Flieger landen kann. Aber die Landungen sind trotzdem recht abenteuerlich, also man sieht, das ist ein sehr kleiner Felsen und die Menschen konzentrieren sich in dem einzigen Ort, den es dort gibt, der heißt auch Lampedusa.

Sie leben also quasi wie in einer kleinen Stadt.

Almut Engelien:

Sagen Sie, wenn eine Insel mit 5.700 Einwohnern zwischenzeitlich Zuwanderungen oder eben Ankunft von Flüchtlingen in der Größenordnung 30.000 bis 50.000 hat, wie merkt man das denn als Allererstes, wenn man da jetzt als Fremder hinkommt und die Flüchtlinge alle weggesperrt sind. Wie ist das denn, wenn man dahin kommt?

Gilles Reckinger:

Es ist recht unwirklich, weil man sich ja natürlich, als Konsument von Medien, Bildern erwartet dort wirklich diese überfüllten Boote zu sehen und eben, ja, überall

Flüchtlinge zu sehen.

Almut Engelien:

Sie haben ja in Ihrem Buch ziemlich viel Misstrauen gegenüber Journalisten und gegenüber der Presse anklingen lassen, nicht nur bei den Lampedusani, sondern auch Sie selber sagen, das sind eigentlich irre Bilder, die da vermittelt werden, und die sagen nicht aus was wirklich passiert.

Inwiefern sagen die das denn nicht aus?

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3 Gilles Reckinger:

Ja, um das vielleicht zu verstehen muss man ein bisschen weiter zurückgehen und zwar zu dem Zeitpunkt zurückgehen, an dem dieses Phänomen, dass da Migranten mit Booten angekommen sind, begonnen hat. Das beginnt zaghaft, zögerlich in den 90er Jahren, als sporadisch Boote eben ankommen auf der Insel, und auch auf anderen Inseln, und auch am Festland.

Und das bedeutete, dass die Menschen von Lampedusa und von den anderen Inseln, diese Migranten, die da ankamen, einfach als Schiffbrüchige wahrnahmen, sie mit zu sich nach Hause nahmen, ihnen ein Bett zur Verfügung stellten, trockene Kleidung, eine Mahlzeit vielleicht und so weiter. Und am Tag danach oder so, ja, dann wurden diese Leute dann von den Einheimischen zur lokalen

Gendarmeriestation gebracht und dort lief dann dieses Prozedere an. Und das funktionierte eben auch damals schon so, dass die Leute nicht auf der Insel blieben, sondern weggebracht wurden.

Jetzt nimmt das Phänomen langsam zu und der Staat kommt eben auf den Plan und zwar mit einem Kontrollbedürfnis. Und damit wurde eben Infrastruktur nach

Lampedusa verlegt, also vor allem Schiffe, Boote, Militärverbände, unterschiedliche Polizeien und es wurde eben ein Flüchtlingslager gegründet.

Und damit sagt man sich jetzt, okay, Lampedusa ist eigentlich der Ort dafür. Und das bedeutet aber auch natürlich, dass man dafür sorgen muss, dass die Boote dahin kommen und dass sie nicht etwa woanders landen. Und die Boote landeten

tatsächlich nicht mehr selbst in Lampedusa an, sondern man fuhr ihnen entgegen.

Der Effekt war der, dass man diese Menschen in Lampedusa konzentrierte.

Und was passiert, wenn dann Journalisten vor Ort sind, ist, dass die

Entstehungsbedingungen dieser Bilder eben nicht transparent gemacht werden und das führt dazu, dass wir heute alle in unseren Köpfen dieses Bild von Lampedusa haben, als Flüchtlingsinsel.

Almut Engelien:

Also, im Grunde genommen sagen Sie, das Bild der vollen Boote im doppelten Sinn:

es kommen volle Boote und das Boot ist voll, wird auch vermittelt mit den Medienbildern. Das ist ein Bild, das regelrecht durch eine bestimmte Politik geschaffen wurde.

Sie haben jetzt Ihre Rolle als Ethnologe angesprochen, was hat Sie denn eigentlich so intensiv auf das Flüchtlingsthema gebracht? Gibt’s da irgendwas in Ihrer eigenen Biografie?

Gilles Reckinger:

Ich kannte Lampedusa von den Landkarten, aus den Atlanten schon als Kind. Wir hatten sehr gute Atlanten daheim. Ich komme aus Luxemburg, ich bin in Luxemburg aufgewachsen, das ist ein Land, indem diese europäische Einigung eigentlich sehr präsent immer war, man spürte das im Alltag sehr stark, weil die Grenzen immer nah waren. Und als Jugendlicher trat der Maastrichter Vertrag in Kraft und damit die Unionsbürgerschaft. Und ich reiste als Jugendlicher quasi mit dem Finger auf der Landkarte sozusagen bis an die Ränder dieses Bewegungsraumes Europas, der für mich ein freier Bewegungsraum war, und hatte dann diese kleine winzige Insel ganz im Süden entdeckt, die noch zu Italien gehört, obwohl sie geografisch schon

eigentlich und geologisch zu Afrika gehört, die hatte ich damals schon gesehen und ins Auge gefasst.

Und ich hatte das vergessen, habe erst wieder an Lampedusa gedacht als Lampedusa eben in die Medien kam, ja, und als ich diese Bilder gesehen habe,

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4 dieser vollen Boote und der zunehmenden Abschottung Europas gegen Menschen, die da auf der Flucht sind oder in Bewegung sind.

Und damals dachte ich mir, ich war dann inzwischen schon ausgebildeter Ethnologe, dass mich das interessiert zu sehen, wie das da aussieht, weil ich bekam eigentlich kein Bild in meinem Kopf, wie diese Insel funktioniert.

Und jetzt ist mein Beruf, als Ethnologe, ja eben der, den Alltag von Menschen zu versuchen aus ihrer Perspektive zu verstehen, und das hieß, dass ich mich auf den Weg machen musste, auf diese Insel.

Almut Engelien:

Sie haben mal über sich geschrieben: „Ich wurde selbst ein Mensch des

Dazwischen“, heißt das, dass Sie einen inneren Draht zu diesem Thema sowieso haben?

Gilles Reckinger:

Also ich denke, dass es auf jeden Fall einen Zusammenhang gibt, zwischen meinem Alltag als Kind, in Luxemburg, das eben auf dem Land aufgewachsen ist, in

unmittelbarer Grenznähe zu Belgien und der mit seinem Jugendfreund oder

Kindheitsfreund da durch die Wälder streifte, an alten zugewachsenen Markierungen vorbei, ohne sie wirklich noch wahrzunehmen. Aber der natürlich eben zwischen den Sprachen sich da bewegen konnte, ganz selbstverständlich, und auch zwischen Ländern, doch souveränen Ländern.

Das ist natürlich etwas, was einen prägt. Dann prägte mich auch die Tatsache, dass ich eben im Ausland, also in Österreich, studiert habe, auch in Kanada war eine Zeit und in der Schweiz und so weiter. Und wenn man unterwegs ist, dann merkt man eben relativ bald, dass die Sicherheiten, die man so hat oder die man glaubt zu haben oder die vor allem andere glauben, das man hat, dass die eben nicht gegeben sind, ja, dass es gar nicht so einfach ist sich selber fest zu machen an einem Ort.

Das ist etwas, was sicher eine Gemeinsamkeit ist, nichts desto trotz ist es ganz klar und ganz wichtig klarzumachen, dass ich eine extrem privilegierte Situation hatte und habe, mit meinem roten europäischen Pass steht mir die ganze Welt offen. Und das ist natürlich ein ganz großer Unterschied zu den Menschen, die eben in diesen Booten nach Europa kommen.

Almut Engelien:

Aber irgendwie fühlen Sie sich – hat man den Eindruck, wenn man Ihr Buch über Lampedusa liest – sowohl diesen Einwohnern von Lampedusa als auch diesen ankommenden Flüchtlingen verbunden.

Wenn Sie sich so abgrenzen, von dem Blick der Journalisten und der Medien, auf die Insel und auf die Flüchtlingsbewegung und auf die Flüchtlinge, wie ist denn der Unterschied, zu Ihrem Blick?

Gilles Reckinger:

Ich wollte eben einen anderen Blick richten, der alltagsnäher ist. Und was man da sieht ist, die Einheimischen in Lampedusa, sie haben keine Probleme mit den Flüchtlingen, sie haben Probleme mit der vielen Polizei, ganz zu allererst und sie mögen, oft pauschalisierend, die Journalisten nicht, weil sie sagen: die Journalisten sind die, die diese Bilder raustragen des Notstandes, die ein schlechtes Image über unsere Insel verbreiten.

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5 Aber es gibt natürlich neben diesen Fremden sozusagen, die das Inselleben

scheinbar stören, auch eben andere bunte Hunde, die dahin kommen und da muss ich mich einfach dazu zählen als Ethnologe, ganz klar.

Almut Engelien:

Wie sind Sie denn vorgegangen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen?

Gilles Reckinger:

Wir sind im Winter dahin gereist, das erste Mal, wir waren zu dritt, eine

Filmemacherin, eine andere Anthropologin, Jana Reiners, und ich selber. Und wir sind einfach auf der Insel viel spazieren gegangen, so einfach um auch den Rhythmus dieser Insel kennen zu lernen, wie funktioniert das? Im Winter ist in Lampedusa überhaupt nichts los.

80 Prozent der Menschen – das muss man sich mal vorstellen – haben im Winter keinen Job. Und das bedeutet, die Leute haben Zeit. Und dadurch, dass die

Inselgemeinschaft klein ist, ist vielen sehr oft sehr langweilig und sie freuen sich über jeden Kontakt. Ja, das heißt, es war ganz leicht mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Zum Beispiel ist es mir oft passiert, wirklich oft, dass ältere Frauen, die vor ihrer Haustür standen, mich angesprochen haben, so mit so einem Zuruf: „Hey, ich kenne dich noch nicht!“

Und da war dieses „noch“ in dem Satz, ja, und der hat eigentlich klargemacht, dass ich überhaupt keine Wahl hatte, jetzt an der Person vorbeizugehen, sondern dass man sich dann einlässt auf ein Gespräch. Und wenn dann einer gesagt hat: „So, ich habe jetzt keine Lust mehr hier zu sitzen. Ich mag jetzt eine Runde mit dem Auto fahren. Fährst du mit?“, dann bin ich mitgefahren.

Almut Engelien:

Aber Sie haben dann doch versucht an das Centrum, dieses Centro, in der Mitte der Insel, irgendwie versteckt in einem Tal – so stelle ich mir das vor – ranzukommen.

Sind Sie denn rangekommen?

Gilles Reckinger:

Ja, also Sie stellen sich das richtig vor, es ist versteckt in einem Tal, und zwar im einzigen Tal, das es auf dieser Insel gibt, interessanterweise ist es ganz schwer, den Einstieg in dieses Tal zu finden.

Und wir haben uns dann einmal angeschlichen, quasi zu Fuß, da sind wir eben auf dem Hügel spaziert, herumspaziert, auch ohne Kamera oder sonstiges Gerät, einfach nur herumspaziert, und haben dann tatsächlich von oben einen Blick bekommen in dieses Lager, und sahen dann, dass das eben sehr streng bewacht wurde.

Viel mehr hatten wir noch nicht gesehen, da wurden wir schon gestellt von einer Polizeistreife, die da zu Fuß unterwegs war, das heißt, es war ein Polizist und ein Soldat, die uns dann nach unseren Ausweisen fragten. Sie fragten einfach so: „Was macht ihr hier?“ und „Wir wollen Ausweise sehen.“ Und sie haben unsere Namen aufgeschrieben und haben uns gesagt: „Spaziert woanders weiter.“ Und das war das Ende.

Und so haben wir dann auch nach und nach das verstanden, dass die Lampedusani darunter leiden, dass die Polizeipräsenz so stark ist. Denn die Polizei und das Militär, das auf der Insel ist, das sind keine Einheimischen, das sind Leute, die turnusmäßig aus ganz Italien dahergebracht werden und dann wieder abgezogen werden, auch

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6 um eben zu vermeiden, dass es zu Verbrüderungen kommt, sowohl mit den

Migranten als auch mit den Einheimischen.

Almut Engelien:

Sie sind dann doch, 2011, Flüchtlingen direkt begegnet.

Gilles Reckinger:

Ja, 2011, mit dem Beginn des Arabischen Frühlings, Ben Ali wird verjagt in Tunesien und ganz viele Leute ergreifen über Nacht die Gelegenheit, Tunesien zu verlassen und ihr Glück in Europa zu versuchen, weil sie sich gesagt haben: Okay, hier ist jetzt ein Umbruch, aber das dauert Jahre bis sich hier was tut. Und jetzt gibt’s keine Kontrollen. Ich packe die Gelegenheit beim Schopf.

Und in diesem Zeitraum war ich wieder in Lampedusa, da war es tatsächlich so, dass sehr viele innerhalb weniger Tage gekommen waren und aufgrund der hohen

Belegung entschied man sich, das Tor des Lagers offen zu lassen, sodass die Migranten sich frei über die Insel bewegen.

Und das war ein historischer Moment für die Menschen von Lampedusa, weil sie zum ersten Mal seit Jahren wieder die Gelegenheit hatten mit diesen Menschen zu sprechen.

Für mich war das völlig befremdlich, weil ich es viel leichter hatte mit den Flüchtlingen zu sprechen, die konnten alle sehr gut Französisch und ich kann

natürlich Italienisch, aber nicht so gut wie Französisch, das ja in Luxemburg eine der offiziellen Sprachen ist.

Ich erkannte die auch, die bewegten sich in Gruppen durch die Straßen Lampedusas, und ich erkannte die meistens schon von weitem, weil sie sich

unterschieden von den Einheimischen, und zwar nicht wie man’s vielleicht vermuten würde wegen der Hautfarbe, denn die Menschen in Lampedusa sind auch eher dunkel und viele der Tunesier waren sehr hellhäutig, sondern aufgrund ihrer schönen Kleidung, weil sich die Leute nämlich für Europa schick gemacht hatten. Ja, die hatten sich gesagt: okay, ich breche jetzt auf in ein neues Leben, ich verkaufe mein Moped dafür, dass ich rüberfahren kann und ich gehe noch zum Frisör, ich kaufe mir eine neue Hose, ich kaufe mir ein Haargel, ich will ordentlich aussehen, wenn ich da drüben bin.

Almut Engelien:

Ja, aber die Leute hatten eine sehr harte Überfahrt, mit Lebensgefahr, und wie wir ja auch wissen, oft vielen Toten hinter sich. Wie geht das?

Gilles Reckinger:

Viele hatten eigentlich nicht viel Lust darüber zu sprechen, über diese Überfahrt, und wenn sie’s taten, dann passte das für mich überhaupt nicht, ja, weil ich sah diese etwas eitlen gutaussehenden, parfümierten Männer, die dann erklärten …

Almut Engelien:

Junge Männer.

Gilles Reckinger:

Ja, die meisten waren recht jung. Die mir da erklärten, dass sie eben ein paar Tage vorher urin- und kotstinkend da von der Polizei, völlig geschwächt, an Land geholt wurden.

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7 Ja, aber für sie ging es weiter. Ja, sie konnten ihre Klamotten waschen, sie bekamen neue Schuhe und bewegten sich damit über die Insel, und waren eigentlich schon wieder weg.

Almut Engelien:

War denn mit den Tunesiern, mit denen Sie gesprochen haben, die Sie auf der Straße oder in Cafés getroffen haben, ein echtes Gespräch möglich?

Gilles Reckinger:

Ich war einmal in einem Café, mit 3, 4 jungen Tunesiern, die waren minderjährig.

Die sprachen miteinander, und ich war halt an diesem Gespräch involviert, wo sie überall hin wollten, und sie wollten nach Frankreich. Und ich verstand das zuerst gar nicht, weil sie sagten einfach Nummern, ja, sie sagten: „Ich will nach 73, ich will nach 24“ oder so, ja. Und das waren einfach die Nummern der französischen

Departements. Und die kannten die alle, ja.

Und das überraschte mich total, zuerst einmal. Die meisten Menschen, die nach Lampedusa kommen, sind Flüchtlinge, die vor Krieg flüchten, die vor extremem Elend flüchten. Aber hier hatten wir es, wie gesagt, mit den Leuten aus Tunesien zu tun, die eben die Gelegenheit beim Schopf packten, Tunesien zu verlassen, das heißt, das war eine sehr spezifische Situation, die man nicht verallgemeinern kann.

Und ich habe inzwischen mit Hunderten Flüchtlingen intensive Gespräche geführt, das war tatsächlich ein Ausnahmefall. Also, was die anderen erzählen von den Überfahrten, das hat noch mal eine ganz andere Dramatik.

Almut Engelien:

Jetzt lassen Sie uns einmal weggehen von Lampedusa. Die Flüchtlinge werden also registriert oder sie kommen zur Registrierung nach Sizilien, und sie kriegen jetzt zum allergrößten Teil in der Regel kein Asyl, sondern sie kriegen eine Art Bescheinigung mit der Auflage, in einem bestimmten Zeitraum von 14 Tagen Italien wieder zu verlassen.

Gilles Reckinger:

Ja, das stimmt.

Almut Engelien:

Und was passiert dann?

Gilles Reckinger:

Das, was da passiert nennen wir Illegalisierung, da werden die Menschen mit einem offiziellen Bescheid in die Illegalität gedrängt. Sie können nicht das Land verlassen, denn sie sind irgendwo, in irgendeinem Flüchtlingslager, das sich irgendwo in Italien befindet, sehr viele sind im Süden, da ist es sehr, sehr schwer und sehr, sehr weit eine Landgrenze zu erreichen, um ins Ausland zu kommen. Sie haben auch keinerlei Dokumente, das heißt, sie können auch gar keine Grenze überqueren, selbst wenn sie das wollen. Und sie haben auch kein Geld, das heißt, sie können nicht einmal legal mit dem Zug fahren.

Und es bleibt ihnen nichts anders übrig, als dann zu versuchen, ohne Status, nach Möglichkeit nicht erwischt zu werden, damit sie nicht ins Gefängnis kommen, und dann eben Arbeit zu suchen. Sie suchen dann Arbeit und finden, wenn sie Glück haben, in der Landwirtschaft Arbeit als Erntehelfer.

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8 Almut Engelien:

Was passiert den Leuten dann in diesen Obstplantagen? Sie haben ein Fotoprojekt organisiert, das heißt „Bitter Oranges“. Was wollen Sie damit ausdrücken?

Gilles Reckinger:

Das ist in Kalabrien, wo wir jetzt uns befinden, mit diesem Projekt, aber das gilt auch für Sizilien, gilt für Apulien, das ist auch im Norden zum Teil so, in Saluzzo im

Piemont, aber am schlimmsten ist es eben dort, wo wir jetzt tätig sind, das ist in Kalabrien in der Zone von Rosarno. Dort werden Orangen und Clementinen angebaut, die für den europäischen Markt bestimmt sind. Und dort arbeiten diese Leute, die leben in regelrechten Slums.

Und wir waren zwar von Lampedusa schon an einiges gewöhnt, wir hatten schon viele Geschichten gehört, aber als wird dorthin kamen waren wir derart erschrocken und auch beschämt, als Europäer und Europäerin, dass Europa Verhältnisse schafft, die Menschen in Slums zwängen.

Das müssen Sie sich so vorstellen wie die Slums, die man aus dem Fernsehen kennt, aus Indien oder Sao Paulo und das befindet sich aber eben mitten in Italien.

Und davon weiß natürlich auch die Regierung und tut trotzdem nichts. Warum die Leute so leben liegt einfach daran, dass sie zu extremen ausbeuterischen

Bedingungen diese Orangen pflücken, sie bekommen 25 Euro am Tag, für eine Arbeit, die sehr, sehr schwer ist, finden aber eigentlich nur an 5 Tagen im Monat, oder 10 wenn sie Glück haben, Arbeit, und während 3 Monaten im Jahr. Jetzt können Sie sich ausrechnen, dass das einfach zum Leben nicht reicht und zum Sterben eigentlich kaum zu viel ist, ja.

Und überleben tun die eben nur dann, wenn sie sich eben in diesen Slums

zusammentun, um das Bisschen, was sie eben erwirtschaften, in großer Solidarität dann zu teilen, sodass sie überhaupt über die Runden kommen.

Ich war letztes Jahr zurzeit der Spargelernte mit dem Auto im ländlichen Raum in Niedersachsen unterwegs und sah dort den gleichen Arbeitsstrich, in der Frühe, den ich auch in Rosarno sehe. Also insofern ist das ein Phänomen, das europaweit zutrifft.

Almut Engelien:

Und was ist Arbeitsstrich? Was heißt das?

Gilles Reckinger:

Die Männer stehen morgens sehr früh auf, um eben Arbeit zu suchen. Sie gehen ins Zentrum, stellen sich in Bahnhofsnähe auf, im Falle Rosarnos, aber auch in anderen Orten, die eben von Mund zu Mund weitergegeben werden, wo die Arbeitgeber sie dann, wenn sie Glück haben, eben abholen, mit Lieferwagen, da werden dann so viele Menschen reingestapelt wie eben hineinpassen, also viel mehr als das für unsere Wahrnehmung noch okay ist. Also in so einen Kleinbus, der für 9 Personen zugelassen ist, werden bis zu 30 Personen reingepfercht. Und die fahren dann mit dem Arbeitgeber auf das Feld, pflücken dort Orangen und werden am Abend zurückgebracht. Für diesen Taxiservice müssen sie 5 Euro zahlen, das wird vom Lohn abgezogen. Das heißt, 25 Euro bekommen sie nicht, sondern sie bekommen nur 20 Euro.

So sieht das in Kalabrien aus. In Niedersachen habe ich das gesehen, am Rande eines Ortes, dessen Namen ich nicht kenne, ich bin da nur durchgefahren, auf dem Parkplatz eines Discounters.

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9 Almut Engelien:

Und da stehen die Leute auch und werden einfach abgeholt und haben keinerlei Rechte, keinerlei Papiere und sind in der Situation totaler Ausgeliefertheit.

Nun haben Sie ein Fotoprojekt gestartet und haben sich gesagt, wir wollen nicht immer nur die Leute filmen und über sie sprechen, sondern die sollen sich auch selber filmen. Was haben die Flüchtlinge gefilmt und welche Flüchtlinge waren das?

Was kam für Sie dabei raus?

Gilles Reckinger:

Die Kameras haben wir Leuten gegeben, die eben in Rosarno in diesem Slum leben, ein paar Leute, die wir gut kannten und die eben interessiert waren daran zu

dokumentieren, wie sie im Alltag lebten. Die dokumentierten die Art und Weise wie sie kochen, wie sie schlafen, wie viele in einem Bett schlafen, wie sie versuchen die Wäsche über dem offenen Feuer zu trocknen, denn Rosarno ist im Winter sehr regnerisch, die Orangen mögen das, die Menschen weniger.

Das war das, was ihnen am meisten zu schaffen macht und das war das, was sie uns auch zeigten. Viele haben uns auch in den Gesprächen gesagt, dass sie das deswegen so schockiert, weil sie zwar aus Kriegen geflüchtet sind oder aus extremer Armut oder aus unterschiedlichen Verhältnissen, von diesem großen Kontinent Afrika weg, der ein sehr vielfältiger ist, und dass sie trotzdem allesamt übereinstimmen, dass sie niemals in ihrem Leben unter solchen Bedingungen leben oder arbeiten mussten wie in Europa, und dass sie auch niemals so wenig Geld verdient haben wie jetzt.

Sie gehen nicht zurück, weil sie nicht zurückgehen können, wenn man ihnen keine Papiere und kein Geld gibt und sie zu keiner Grenze bringt, dann können sie nicht zurückgehen.

Es gibt sehr viele Leute, die sagen: „Ich würde gerne zurückgehen“.

Almut Engelien:

Jetzt sagen natürlich die Politiker, die mit diesen Fragen befasst sind: „Moment, wir tun eine ganze Menge“, also in Deutschland wird jetzt immer gesagt „Wir haben 2014 schon 200.000 aufgenommen.“

Also, wir haben jetzt sehr viele Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien fliehen, wir haben viele Menschen, die aus anderen arabischen Ländern, aus dem Irak, aus Ägypten geflohen sind. Und wir haben Berichte, in verschiedenen Flüchtlingsheimen, in Nordrhein Westfalen oder Hessen, haben zum Beispiel Flüchtlinge, muslimische Flüchtlinge, Jagd auf koptische Christen gemacht.

Da werden natürlich die Argumente befeuert, dass der Religionskrieg mit einwandert.

Gilles Reckinger:

Jetzt zu glauben, dass wir diese Dinge quasi importieren, so als wären das Waren, verlängert nur wieder dieses Bild als Migranten als amorphe gesichtslose Masse, aus der eben ganz schlimme extremistische Dinge entstehen können, oder eben auch nicht, aber so als wäre das völlig unvorhersehbar.

Wenn man einen Auswuchs sieht – ich habe diesen Bericht nicht gehört, von dem Sie gerade gesprochen haben, dieses Übergriffes – dann ist es immer noch wichtig in guter soziologischer Manier zu versuchen, die Dinge zu verstehen: wie hängt das zusammen?

Was ich gelernt habe ist, dass dort, wo man dem Fremden begegnet, es eben wenig Raum gibt für rassistische Projektionen. Angst entsteht vor allem dann, wenn wir uns

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10 nicht wirklich auskennen, wenn wir verunsichert sind. Und gegen die eigene

Verunsicherung hilft immer noch, neugierig zu sein.

Und in viele Flüchtlingszentren in europäischen Ländern, kann man als Besucher hingehen, man kann das Gespräch mit diesen Leuten suchen. Und ich würde sagen:

fahrt in das Flüchtlingslager 20 Kilometer von euch Daheim entfernt und macht euch ein Bild.

Almut Engelien:

Was hat sich in Ihren Vorstellungen geändert, durch Ihre Arbeit an dem Thema und durch Ihre Arbeit und Ihr Leben auf Lampedusa?

Gilles Reckinger:

Man verliert seine Unschuld, man wird ein anderer, auf jeden Fall. Man hat einen ganz anderen Blick auf die eigenen Nöte. Wobei ich als Anthropologe unbedingt dafür plädiere, Elend nicht zu messen, ja. Wenn ich in strömendem Regen meinen Bus verpasse, dann ist das ärgerlich, und mich darüber zu beschweren, ist auch durchaus legitim, aber es relativiert sich doch einiges. Also die Frage: „Ja, es geht uns schlecht“ und „Wir müssen uns abschotten“, das ist etwas, was nicht mehr hält, wenn man sieht, mit welcher Loyalität diese Menschen eigentlich Europa begegnen.

Das, was mich am meisten verändert hat ist das, dass ich Analphabeten kennen gelernt habe, in Rosarno, in diesem Slum, die ein halbes Jahr in Europa waren, die eben Schreckliches in diesen Lagern mitgemacht haben, die schreckliche Reisen hinter sich hatten, die traumatisiert sind von Krieg und die jetzt keine Arbeit finden, Und die trotzdem sagen: „Ich bin jetzt in Italien, ich mache hier mein Bestes und ich arbeite zu jeden Bedingungen“ und die nach sechs Monaten Italienisch sprechen.

Und das ist etwas, was mich unglaublich beeindruckt und was mich zugleich

beschämt, weil ich zwar einige Sprachen gelernt habe, aber ich habe bisher noch nie eine Sprache, die sich von der meinen in allem unterscheidet, in sechs Monaten lernen können.

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