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Archiv "Soziales Lernen: Von der Schulbank aufs Trapez" (19.02.1999)

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ausaufgabe: zehn Liege- stütze. Was wie eine Strafmaßnahme aus ei- nem alten Schinken über züch- tige Internatsschüler klingt, entpuppt sich bisweilen als ganz zeitloses pädagogisches Mittel zur Förderung leicht vernachlässigter Fitneß. Wenn die 14jährige Nicole Erpen- bach von dieser „Sondermaß- nahme“ ihrer Trainer erzählt, auch von den Tests im Drei- ball-Jonglieren, Tellerdrehen oder Kugellaufen, dann tut sie das lachend. Artistik ist ihre Leidenschaft. Die Kölner Gymnasiastin aus der siebten Klasse („Einmal bin ich sitzen- geblieben, aber nicht wegen dem Zirkus“) geht schon seit der Grundschule zweimal die Woche zum Trai-

ning in eine Halle in Lindweiler, denn sie gehört zu den rund 40 Kindern und Jugendlichen, die das künstleri- sche Personal des Zirkus mit dem seltsamen Namen

„Linoluckynelli“

bilden.

Während ihrer fünf Jahre im Kin- der- und Jugend- zirkus hat sich Ni- cole das Trapez zur zweiten Heimat gemacht. „Schon als kleines Kind habe ich jedes Klettergerüst ge- stürmt“, erinnert sie sich. Fachkun- dige Trainer und

Pädagogen des „Sozialen Zentrums Linoclub e.V.“, Trä- gerverein des bundesweit ein- maligen Zirkus, ermutigten und bestärkten sie in dieser Lieblingsbeschäftigung. So, wie sie andere Kinder und Ju- gendliche zwischen sechs und 17 Jahren darin fördern, sich als Clowns oder Tierdomp-

teure auszutoben – jeder nach seinen Neigungen. Trainiert wird nach den Hausaufgaben, unentgeltlich für die Schüler.

Anreiz und Lohn der Mühe sind natürlich die Auftritte und Gastspielreisen, die wäh- rend der Ferien stattfinden und einige „Kinderartisten“

schon bis nach München führ-

ten – in das legendäre Zelt des Zirkus Roncalli.

„Das war riesig“, schwärmt Nicole von ihrem Auftritt vor 1 000 Zuschauern im ausverkauften Roncalli- Zelt – doppelt so viele, wie in das eigene schmucke Zwei- mastzelt des Kinder- und Ju- gendzirkus passen. „Schon die

Seile schwangen viel, viel wei- ter durch die Arena als bei uns“, sagt Nicole. Da hieß es Mut beweisen. Aber natürlich schweißen solche Gemein- schaftserlebnisse die bunte Truppe des Kölner Zirkus nur noch enger zusammen: „Jeder versteht sich hier mehr oder weniger mit jedem, richtig

Krieg gibt es nie zwischen uns.“ Das Zauberwort, das die haupt- und ehrenamtli- chen Zirkustherapeuten für diese Art von Gemeinschafts- geist haben, heißt „Faszinati- onspädagogik“: sie räumt den Kindern und ihren Familien weitgehende Gestaltungsmög- lichkeiten bis hin zu Kostü-

men, Musik, Zeitablauf und Aufbau aller Nummern ein.

Da nähen manche Eltern Clownskostüme, während an- dere die Trompete blasen oder – wie Nicoles Mutter – an der Zirkuskasse Zuckerwatte verkaufen.

Ein Zirkusbetrieb mit Zelt, Reisen und Tieren kostet natürlich eine Menge Geld.

Ohne Sponsoren aus der Wirt- schaft hätte es „Linoluckynel- li“ weitaus schwerer. Zumal dann, wenn man sich alle Jah- re wieder ein zweiwöchiges, internationales Zirkusfestival mit bis zu 400 Kindern und Ju- gendlichen aus Ländern wie Rußland oder Äthiopien ein- fliegen läßt. Die Rechnung für Transport, Unterbringung und anspruchsvolles Festival- Programm im vergangenen Jahr: rund 350 000 DM. Mehr als zwei Drittel brachten drei kommunale Kölner Unter- nehmen als Hauptsponsoren auf. Und die Lufthansa spen- diert bisweilen Flug-Kapazitä- ten – Nicole etwa kam so zu ihrem ersten Flug zum Münchner Gastspiel. Längst hat nämlich auch die Wirtschaft er- kannt, daß der En- thusiasmus und die Spielfreude der jungen Leute förderungswürdig und imagewirksam sind.

Das Modell

„Linoluckynelli“

hat inzwischen im wahrsten Sinne gründlich Schule gemacht: Die Zahl der Kinderzirkus- se in Deutschland beträgt inzwischen rund 200. Und es gibt keine Anzei- chen, daß die Fas- zination der ural- ten Schaustellerkunst im drit- ten Jahrtausend nachlassen wird. Für Nicole hat inzwi- schen die Trainingssaison wieder begonnen. Große Er- eignisse werfen ihre Schatten voraus: Ende Mai ist wieder mal Premiere. Dann aber zum zwanzigsten Zirkusju- biläum. Oliver Driesen A-430 (58) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 7, 19. Februar 1999

V A R I A BILDUNG UND ERZIEHUNG

Seit 20 Jahren trainieren Kinder im Zirkus „Linoluckynelli“ artistische und soziale Kompetenz.

Den Kölner Kinder- und Jugendzirkus „Linoluckynelli“ bevölkert ei- ne ungewöhnliche Artisten- und Schaustellertruppe: Ganz normale Schulkinder und Jugendliche aus bürgerlichen Familien bestimmen das Programm. Ohne erhobenen Zeigefinger lernen die jungen Leu- te in der Arena neben artistischen Kabinettstückchen auch die Kunst, mit ihresgleichen – und ausländischen Zirkuskindern – mehr als nur ein Zelt zu teilen. Der „sozialpädagogische Sonderfall“

feiert im Mai seine nächste große Premiere: zum 20. Geburtstag.

Soziales Lernen

Von der Schulbank aufs Trapez

Foto: Linoluckynelli

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