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Archiv "Geburtenentwicklung: Weiterer Rückgang zu erwarten" (11.05.2001)

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T H E M E N D E R Z E I T

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A1234 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001

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as Thema Geburtenrückgang und die damit verbundene Frage der Zuwanderung wird die öffentliche Diskussion in Deutschland noch eine Zeit lang bestimmen. Die Entwicklung der Geburten weckt dabei besonders auch das Interesse der Frauenkliniken und Geburtshelfer, die sich mit der Ver- ringerung der Geburtenzahlen ausein- ander setzen müssen. Auf dem Hinter- grund dieser negativen Tendenz findet ein Verdrängungswettbewerb statt, wo- bei insbesondere kleine Abteilungen in existenzielle Not ge-

raten.

Eine Orientie- rungsgröße für ei- ne langfristige Be- trachtung der Ge- burtenziffern (Gra- fik) ist das so ge- nannte Bestandser- haltungsniveau. In der Regel sind für den Ersatz der Eltern mindestens zwei Kinder erfor- derlich. Bei hoher Säuglings- und Kin- dersterblichkeit ist dieser Ersatz ent-

sprechend höher. So betrug das Be- standserhaltungsniveau 1871 bei der Gründung des Deutschen Reiches noch mindestens 3,5 Geburten pro Frau, während es heute bei 2,08 liegt.

Damals hatten die Frauen im Durch- schnitt rund fünf Kinder. Beim Über- gang von der Agrar- zur Industriege- sellschaft sank das Geburtenniveau ra- pide und fiel in der Zeit der Weimarer Republik unter das Bestandserhal- tungsniveau. Der kurzfristige Erho- lungseffekt nach dem Ersten Weltkrieg durch die heimkehrenden Männer war keine Trendumkehr, sondern mit der

hohen Arbeitslosigkeit und der Welt- wirtschaftskrise 1932 sank die Gebur- tenzahl weiter, sogar unter das Niveau des Ersten Weltkriegs. Durch die ari- sche Rassenpolitik der Nazis kam es dann in den 30er-Jahren zu einem vor- übergehenden Geburtenanstieg, was jedoch nicht zu einer Vermehrung der Kinderzahl pro Familie führte, sondern eher als Nachholeffekt zu deuten ist (4). Die Frauen hatten den in der Wirt- schaftskrise zurückgestellten Kinder- wunsch auf später verschoben. Der

Zweite Weltkrieg und die Nachkriegs- zeit ließen das Geburtenniveau auf ei- nen neuen Tiefstand sinken. Erst das Wirtschaftswunder in Westdeutschland und der sozialistische Aufbruch in der damaligen DDR führten zu einer Zu- nahme (1955 bis 1970).

Europaweit kam es Mitte der 60er- Jahre wieder zu einer Umkehr des Ge- burtenanstiegs und damit zu einer Fort- setzung des allgemeinen Trends zu we- niger Geburten. Abgesehen von einer kurzfristigen Schwankung in der ehe- maligen DDR mit einem leichten An- stieg zwischen 1975 und 1980, stabili-

sierte sich das niedrige Geburtenniveau in Deutschland in den 90er-Jahren bei 1,37 (1999) Geburten je Frau.

Der Durchschnitt in der Europäi- schen Union lag 1999 bei 1,45 (Eu- rostat). Für Italien betrug der Wert 1,21. Die spanischen Frauen brachten mit 1,19 die wenigsten Kinder zur Welt, die irischen mit 1,89 die meisten.

Deutschland liegt damit im unteren Drittel in Europa. Es gehört zu den Niedrigfertilitätsregionen in der Welt.

Dieses niedrige Niveau hat sich seit rund 25 Jahren verfestigt. Derzeit ist ei- ne Phase erreicht, in der eine geringere Anzahl von Frauen ins gebärwillige Al- ter eintritt als die Jahre davor.

Jede dritte 35-Jährige bleibt kinderlos

Der Anteil der Frauen, die kinderlos bleiben, steigt ständig. Frauen, die zwi- schen 1930 und 1950 geboren wurden, sind nur etwa zu zehn Prozent kinderlos geblieben. Im Rahmen des Neubeginns nach dem Krieg und des westdeutschen Wirtschaftswunders war die Geburten- neigung sehr hoch. Ehe und Familie hat- ten innerhalb der Gesellschaft einen ho- hen Stellenwert. Bei den Frauenjahrgän- gen zwischen 1950 und 1960 blieb bereits ein Fünftel aller Frauen kinderlos. Für die nach 1965 geborenen Frauen dürfte jede dritte kinderlos bleiben (2). Ähnli- che Zahlen gibt es in Europa noch in den Niederlanden und der Schweiz. In den neuen Bundesländern spielte der Anteil kinderloser Frauen mit weniger als zehn Prozent bis zum Geburtsjahrgang 1960 eine untergeordnete Rolle. Erst danach hat sich der Anteil deutlich erhöht, um zu Beginn der 90er-Jahre zu einem do- minierenden Faktor zu werden (3). Die Gründe für die Kinderlosigkeit haben

Geburtenentwicklung

Weiterer Rückgang zu erwarten

Das niedrige Geburtenniveau und die steigende Zahl kinderlos bleibender Frauen lassen kleinere geburtshilfliche Abteilungen an Krankenhäusern an ihre wirtschaftlichen Grenzen stoßen.

Johannes Dietl

Ein zunehmender Konzentrationsprozess hin zu leistungsfähigeren Ein- heiten prägt die Situation geburtshilflicher Abteilungen. Foto: dpa

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sich in den letzten Jahrzehnten geändert.

War es früher vorwiegend eine unfrei- willige nicht gewollte Kinderlosigkeit, so ist es heute auch der freiwillige Verzicht auf ein Kind.

Nach Untersuchungen des Bundes- instituts für Bevölkerungsforschung (1) sind es vor allem zwei Gruppen von Frauen, die ohne Kinder bleiben. Ei- nerseits die karriereorientierten höher qualifizierten Frauen, die sich bewusst für den Beruf und gegen Kinder ent- schieden haben. Dabei spielen in der Entscheidung für die Kinderlosigkeit die ungünstigen Voraussetzungen des Nebeneinanders von Familie und Er- werbstätigkeit eine wichtige Rolle. Die zweite Gruppe sind diejenigen Frauen, die sich einen gewissen Lebensstandard erarbeitet haben, der durch die hohen Kosten eines Kindes gefährdet er- scheint. Interessant ist dabei, dass Frau- en mit einem sehr niedrigen Einkom- men von Kinderlosigkeit wenig betrof- fen sind. Ein weiterer Grund, der die Kinderlosigkeit begünstigt, ist das Hin- ausschieben von Heirat und Geburt.

Das Durchschnittsalter bei der Ehe- schließung stieg kontinuierlich (3), par- allel dazu ging die Anzahl der Ehe- schließungen zurück.

Das Geburtenniveau lässt sich durch altersspezifische Geburtenzahlen mit dem Alter der Mütter korrelieren. Da- bei zeigt sich für das frühere Bundesge- biet, dass 1970 die 20- bis 25-jährigen Frauen die höchste Geburtenfrequenz

hatten; 1990 waren es bereits die 25- bis 30-jährigen Frauen. In den neuen Bun- desländern hat sich die Geburten- häufigkeit bei den 20- bis 25-jährigen Frauen bis zur Wende gehalten. 1998 brachten die Frauen im Osten weniger Kinder zur Welt als die im Westen Deutschlands; dies betraf besonders die über 30-jährigen. Folge: Das Durch- schnittsalter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes stieg laufend: 1998 waren die Mütter bei bestehender Ehe in Westdeutschland 28,7 Jahre bei der Geburt des ersten Kindes alt, in Ost- deutschland 27,9 Jahre (3).

Weniger Einzelkinder

Für Westdeutschland gilt außerdem, dass der Anteil der Frauenjahrgänge mit Einzelkind rückläufig ist und die Anteile an Frauen mit zwei oder drei Kindern gleich geblieben sind. Der Rückgang der Kinderzahl je Frauenjahrgang ist also in erster Linie auf die Zunahme der Kin- derlosigkeit zurückzuführen.

Die biografische Planung ist somit festgelegt in keine Familie und kinderlos bleiben oder „größere“ Familie mit zwei oder drei Kindern (1). Dabei ist Kinder- losigkeit meistens assoziiert mit „Nicht- heiraten“ und „Kinder haben“ mit Fa- milie, weil nur wenig mehr als zehn Pro- zent aller Ehen kinderlos bleiben (1).

Die geburtenschwachen Frauenjahr- gänge ab circa 1975 bilden die heutige

Frauengeneration der 25- bis 30-Jähri- gen. Da diese Generation jetzt ins gebär- willige Alter kommt, ist zusammen mit dem Anstieg der Kinderlosigkeit in den kommenden Jahren ein weiterer Gebur- tenrückgang zu erwarten. Ein Geburten- anstieg hätte zur Voraussetzung, dass Familien mit drei und vier Kindern zunähmen. Das ist jedoch unwahr- scheinlich. Um das Geburtenniveau zu stabilisieren, wäre es erforderlich, dass Frauen, die bisher nur ein Kind bekom- men haben, zwei oder drei Kinder haben.

Als Beispiel für ein solches generatives Verhalten sei die Schweiz genannt, die als Niedrigfertilitätsland mit hohen kin- derlosen Anteilen ein mittleres Gebur- tenniveau erreicht. Wenn in Deutsch- land ein solcher Effekt nicht eintritt, so wird es nach Jahren der Stabilität auf niedrigem Geburtenniveau zu einem weiteren Rückgang kommen (2).

Die Situation der geburtshilflichen Abteilungen ist gekennzeichnet von ei- nem zunehmenden Konzentrationspro- zess hin zu leistungsfähigeren Einhei- ten. So gab es zum Beispiel in Bayern 1980 noch mehr als 251 Abteilungen mit Geburtshilfe, diese haben sich im Jahr 2000 auf 167 verringert. 1980 entfielen auf eine Abteilung 458 Entbindungen im Jahr, 1995 bereits 731 und 2000 noch 704. Der Rückgang ist fast ausschließ- lich auf Abteilungen mit weniger als 300 Geburten im Jahr zurückzuführen.

In den letzten fünf Jahren hat sich dieser Konzentrationsprozess deutlich verlangsamt. Er wird sich aber weiter fortsetzen, denn Rentabilität und Öko- nomie im Krankenhausbereich treten immer stärker ins Blickfeld. Haftungs- ansprüche werden heute großzügiger gestellt. Organisationsverschulden bei unzureichender personeller und techni- scher Ausstattung lässt sich gerade für Abteilungen unter 300 Geburten nicht von der Hand weisen. Der wichtigste Grund liegt aber im konstant niedrigen Geburtenniveau.

Dieser Trend führte in Deutschland zu einer Geburtshilfe, die stark markt- wirtschaftlichen Zwängen unterworfen ist. Im Gegensatz zu den skandinavi- schen und angelsächsischen Ländern, wo Entbindungen in großen geburtshilf- lichen Zentren vorgenommen werden, werben deutsche Kreißsäle aktiv um Schwangere mit Info-Abenden, Aroma- T H E M E N D E R Z E I T

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A1236 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001

Grafik

Zusammengefasste Geburtsziffern je Frau (modifiziert nach [4])

Quelle: Statistisches Bundesamt

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therapie, Unterwassergeburt, Romarad, Akupunktur, Homöopathie, Schwange- renschwimmen, Geburtsvorbereitung, Elternschule oder Babyschule. Dies ist ein deutliches Zeichen des wirtschaft- lichen Drucks, der auf den geburtshilf- lichen Abteilungen lastet.

Aufgrund der allgemeinen Entwick- lung im vollstationären Bereich ist auch in der Geburtshilfe mit einem Rück- gang des Bedarfs an Krankenhauskapa- zitäten zu rechnen. Ähnlich wie in an- deren Abteilungen hat hierzu in erster Linie ein Rückgang der Verweildauer beigetragen. Im Unterschied zu ande- ren Fachbereichen kommt es aber in der Geburtshilfe nicht zu einem An- stieg der Geburten, womit eine derarti- ge Entwicklung zumindest teilweise aufgefangen werden könnte. Als Kon- sequenz folgt daraus ein kontinuierli- cher Rückgang des Nutzungsgrades ge- burtshilflicher Abteilungen. So lag die- ser bundesweit 1999 bei 72,5 Prozent, was nur durch einen noch niedrigeren Wert bei den Kinderkliniken unterbo- ten wird (6). Andererseits sind durch schwankende Entbindungszahlen hier Vorhaltungen zu treffen. Es ist aber zu erwarten, dass der Gesamtbedarf an ge- burtshilflichen Betten in Zukunft noch weiter abnehmen wird. Nutzungswerte von weniger als 60 Prozent bei geburts- hilflich-gynäkologischen Kliniken sind keine Seltenheit und Hinweise, dass in diesen Bereichen Kapazitätsanpassun- gen nicht zu umgehen sind.

Der Krankenhausträger steht vor der Entscheidung, ob er größere be- triebswirtschaftliche Defizite in Kauf nimmt und damit unter Umständen ei- ne bürger- und heimatnahe Versorgung erhält oder die Abteilung aufgibt. Die- ser Zielkonflikt wird mehr und mehr unter Wirtschaftlichkeitsaspekten ent- schieden (5).

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 1234–1237 [Heft 19]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Johannes Dietl Frauenklinik und Hebammenschule der Universität Würzburg Josef-Schneider-Straße 4 97080 Würzburg

E-Mail: frauenklinik@mail.uni-wuerzburg.de

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Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001 AA1237

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ie Tradition der deutschen Sozial- medizin ist nicht zuletzt mit dem Namen Rudolf Virchows verbun- den: Sein Programm setzte gleicher- maßen auf die große Politik (Armuts- bekämpfung und Verbesserung der Bildungschancen) wie auf die Ärzte- schaft als Träger der Präventionsbot- schaften. Das lange Zeit tragende Hy- gieneparadigma wurde in Sanierungs- programmen der wachsenden Indu- strienationen außeror-

dentlich wirksam, so wie auch die Medizin selbst vom Fortschritt der bak- teriologischen Ära pro- fitieren konnte. Gleich- zeitig sind die Untersu- chungen von Thomas Mc Keown oder später von McKinlay und anderen zur Bedeutung der Medi- zin für die Steigerung der Lebenserwartung eine heilsame Lektion, die vor der Überschätzung medi- zinischer Ansätze schüt- zen könnten. Und es

muss daran erinnert werden, dass Prä- ventionskonzepte keineswegs davor ge- schützt sind, nicht die Ursachen von Er- krankungen, sondern die Kranken zu

„bekämpfen“. Die NS-Rassenhygiene legt für alle Zeiten Zeugnis davon ab, dass Gesundheitsutopien und Men- schenverachtung in bedrückender Wei- se zusammenfallen können.

1945 waren Strukturen und Visionen einer gesundheitsbezogenen Präven- tion in Deutschland verbrannt. Mit der sozial-darwinistischen so genannten Verhütung erbkranken Nachwuchses,

mit der Vernichtung für unwert erklär- ten Lebens und der Indienstnahme der Institutionen der psychiatrischen Ver- sorgung und des öffentlichen Gesund- heitsdienstes hatte sich die Idee der Prävention in die Wahnidee der Ver- nichtung von Kranken und der Schaf- fung einer genetisch wertvollen Popula- tion verwandelt.

Es dauerte etwa vierzig Jahre, ehe medizinische Fakultäten und Gesund- heitspolitik die NS-Präventions- verbrechen thematisierten. Prä- vention hatte als ausgewiesenes Programm in keinem Bereich des Gesundheitswesens einen zuverlässigen Ort. Die auch wei- terhin bedeutsamen Elemente des gesundheitsbezogenen Ver- braucherschutzes mittels Seu- chen-, Lebensmittel- und Ar- beitshygiene gaben keine ausrei- chende Basis ab für Präventions- strategien in der Nachkriegsge- sellschaft. Es gelang den Kas- senärzten fast mühelos, das Va- kuum für moderne Präventions- strategien zu füllen und dabei das Denk- und Handlungsmuster der kurativen Medizin der Prävention über- zustülpen. Politik und Gesellschaft zeig- ten in den ersten Nachkriegsjahrzehn- ten kaum Interesse an einer Präventi- onspolitik für das Gesundheitswesen.

Prävention wurde immer mehr zu einer Subsparte der klinischen, individualme- dizinisch ausgelegten Medizin, welche die so genannten Volkskrankheiten als Schlachtfeld der pharmakologischen Bekämpfung entdeckt hatte.

Definieren von Surrogatparametern und breite individualmedizinische Dia-

Public Health

Individualisierung der Prävention

Nach 1945 wurde Prävention immer mehr zu einer Subsparte der klinischen, individualmedizinisch ausgerichteten Medizin.

Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe von Kommu- nen und Staat bleibt auch heute noch eine Wunschvorstellung.

Norbert Schmacke ist Leiter des Stabsbereichs Medizin beim AOK-Bun- desverband in Bonn.Foto:

privat

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gnostik erschienen plötzlich als probate Ansätze zur Prävention der neuen „Kil- ler“. Die Fettstoffwechselstörungen wur- den zum Leitthema, das massenmedial wirksam kommuniziert werden konnte.

„Primärprävention“ durch obligatori- sche Einnahme von Statinen für die Ge- samtbevölkerung stellt den aktuellen Schlusspunkt dieser Philosophie dar.

„Zivilisationskrankheiten“ wurde seit den 60er-Jahren ein Schlüsselbegriff, Ri- sikofaktoren„bekämpfung“ feste Denk- figur. In den parallel stattfindenden be- völkerungsbezogenen Kampagnen do- minierten Appelle an gesundheitsbe- wusstes Verhalten und Unverständnis für die „Unvernünftigen“. Die Mittel- und Oberschichten entwickelten eine teils kultische Gesundheitsphilosophie (Healthismus).

Individualmedizinische Prägung

Das Gesetz über das Kassenarztrecht markiert bereits 1955 die Wende zur in- dividualmedizinischen Prägung von Prävention. Früherkennung wurde zu- nehmend mit Prävention verwechselt und ungezieltes Screening zur Er- schließung von Patientenströmen ein- geführt. Mit der Zuweisung der Krank- heitsverhütung an den Kassenarzt – mit seiner Arbeitsweise eines allein prak- tizierenden Kleingewerbetreibenden – verschwand die gruppenbezogene Prä- vention von der Tagesordnung. Die leitenden Medizinalbeamten in den Mi- nisterien und die Amtsärzte waren nicht in der Lage, den Unterschied zwi- schen individualmedizinischer Vorsor- ge und populationsbezogener Präventi- on in der gesundheitspolitischen Debat- te mit Erfolg darzustellen. Der öffent- liche Gesundheitsdienst konzentrierte sich bei den „modernen“ Präventions- strategien – jenseits der klassischen Themen wie Impfen und Karies – auf ein zum Scheitern verurteiltes Konkur- rieren mit der kassenärztlichen Praxis.

Alle Versuche, die Kommune und den öffentlichen Gesundheitsdienst stärker in das Zentrum des Gesundheitsversor- gungssystems zu stellen, scheiterten;

dies ist bei wichtigen Zeitzeugen wie Wilhelm Hagen und Ludwig von Man- ger-König im Detail nachzulesen. Im Verständnis des so genannten Wohl-

fahrtsstaates galt gruppen- und bevöl- kerungsbezogene Prävention als Ana- chronismus, den sich die moderne Ge- sellschaft angesichts der Fortschritte der Medizin und des Sieges über die Ar- mut nicht mehr zumuten müsse.

Wirksame Prävention fand wie in al- len prosperierenden Gesellschaften auch in der Bundesrepublik Deutsch- land statt, so ganz sicher durch die Zivi- lisierung der industriellen Arbeitswelt und die Hebung des Lebensstandards und des Bildungsniveaus breiter Bevöl- kerungsschichten. Die Diskussion um die Gewichtung von Prävention zwi- schen den verschiedenen gesellschaftli- chen Bereichen – Erziehung, Bildung, soziale Unterstützungssysteme, Ge- sundheitsversorgung – gelingt aber bis heute kaum.

Seit den 60er-Jahren gewinnt das Fortschrittsparadigma der Medizin er- heblich an Boden. Medizin kommt nicht mehr, wie es vorherige Generatio- nen gewohnt waren, mit leeren Händen daher, wenn es um Leben und Tod geht, sondern es werden immer erkennbarer bedeutende Heilungsversprechen reali- siert. Und parallel findet die schleichen- de Dethematisierung der primären Prävention statt, die nicht einmal mehr in einem Kernbereich wie dem Impfen die notwendige Systematik von Public- Health-Kampagnen wiedererlangt.

In den späten 80er-Jahren kommt es wieder zu einer Diskussion um Konzep- te wirksamer und gesundheitsbezogener präventiver Ansätze in Gemeinden und Betrieben – in bewusstem Kontrast zur Risikofaktorenmedizin. Mit „Health Promotion“ wird ein Nachfolgeparadig- ma für den Präventionsansatz der Hy- giene-Ära etabliert. Gesundheitsförde- rung als Querschnittsaufgabe von Kom- munen und Staat bleibt aber bislang eine Wunschvorstellung, da es nicht gelingt, die Beteiligten auf diese gemeinsame Idee hin einzuschwören.

Der erste Anlauf einer die Kranken- kassen verpflichtenden Verortung von Prävention im Sozialgesetzbuch V hielt einer populistischen und berufspoliti- schen Offensive der ausgehenden See- hofer-Ära nicht stand. Der zweite An- lauf der jungen rot-grünen Koalition ringt um die Focussierung auf sozial be- nachteiligte Bevölkerungsgruppen und moderne betriebliche Gesundheitsför-

derung. Evaluation von Präventions- programmen wird zur Losung, nach- dem der erste Anlauf mit der populisti- schen Losung vom „Bauchtanz auf Kas- senschein“ desavouiert werden konnte.

Immerhin wird heute wieder ernsthaf- ter diskutiert, ob neue Strategien der Prävention und des Managements der Versorgung erforderlich sind. Mit der auf Empowerment und Lernerfahrun- gen setzenden Aids-Präventionsstrate- gie wurde erfolgreich die Bedeutung von primärer Prävention demonstriert, was seither erheblichen Einfluss auf die Bundes- und Landesgesundheitspolitik genommen hat.

Immer subtilere Frühdiagnostik

Im Gegenzug wird die dem indivi- duumzentrierten Heilungsversprechen verpflichtete Medizin in der molekular- biologischen Ära zu neuen Höhenflügen anheben und die alten Public-Health- Erkenntnisse zur Bedeutung der sozia- len Determinanten von Krankheit und Gesundheit an den Rand drängen. Die Medizin wird ihre unglaubliche Expansi- on in den Alltag der Menschen hinein fortsetzen, ihr Präventionsversprechen aber vor allem zu einer immer subtileren Frühdiagnostik nutzen, ohne nach dem präventiven Stellenwert zu fragen. Die sozialen Voraussetzungen von Präventi- on werden durch diesen neuen Indivi- dualisierungsschub erneut in den Schat- ten gestellt. Aus dieser Perspektive ist Evidence based Medicine ein echter Hoffnungsträger. Wenn es nämlich ge- lingt, die Frage nach der wissenschaftli- chen Begründung von Konzepten in Po- litik und Gesellschaft stärker als bisher zu verankern, könnte dies am Ende das einzige Gegenmittel gegen unrealisti- sche Heilungsversprechungen und ge- fährliche Gesundheitsutopien bleiben.

Prof. Dr. med. Norbert Schmacke Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin Leiter des Stabsbereichs Medizin

des AOK-Bundesverbandes Kortrijker Straße 1 53177 Bonn T H E M E N D E R Z E I T

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A1238 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 19½½11. Mai 2001

Der Autor referierte zu diesem Thema auf der Tagung „Ge- sund in Gesellschaft“ – Historische Grundlagen und zukünftige Entwicklung von Versorgungsstrukturen und Präventionskonzepten, Hannover 1./2. März 2001; auf dieser Grundlage formulierte er den vorstehenden Beitrag.

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