174 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 10|
8. März 2013M E D I Z I N
DISKUSSION
Wissenschaftliche Daten fehlen
Dass man eine Substanz, die seit Jahrtausenden als Heilmittel bekannt ist, supportiv in der Behandlung von Krebs, Immundefizitsyndrom und muskulärer Spastik einsetzt, erscheint nachvollziehbar.
Hingegen erscheint es völlig unverständlich, bei chronisch Kranken eine Studie mit gerauchtem Can- nabis zu initiieren, weil die bronchialschädigende Wirkung offenbar die des Tabaks übersteigt.
Es ist zwar nicht ein Novum, dass eine potenziell halluzinogene Pflanzendroge Zugang zur Therapie ge- funden hat, aber es bestehen aus meiner Sicht in der supportiven Behandlung von Patienten mit Kachexie, Schmerzen und Übelkeit potente Behandlungsoptio- nen – auch bezüglich aus reichender Erfahrung in der Kombination mit Opiaten.
Das Problem in der Behandlung von Spastik bei neurologischen Grunderkrankungen – und darauf wei- sen die Autoren in der Tabelle auch indirekt hin – be- steht in der Induktion zentralnervöser Nebenwirkun- gen bis hin zum Delir.
Dass der aufgeklärte Patient die Verantwortung al- leine trägt, ist sonst nur bei der Selbstmedikation üb- lich.
Die Unterschreitung einer halluzinogenen Schwelle ist insbesondere bei Einzelgabe durchaus möglich, die Pharmakodynamik jedoch ohne Blutspiegelkontrolle aus meiner Sicht kaum reproduzierbar. Dies bezüglich fehlen im Artikel wissenschaftliche Daten. Solange diese nicht vorliegen, käme bei therapierefraktären Symptomen gegebenenfalls eine medikamentöse Ein- stellung unter stationärer Kontrolle infrage.
Sicherlich würde man sich dann auch zu einem Drugmonitoring entschließen, denn bezüglich des Wirkungsprofiles erscheint es durchaus vorstellbar, einen therapeutischen Nutzen zu erzielen.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0174a
LITERATUR
1. Grotenhermen F, Müller-Vahl K: The therapeutic potential of cannabis and cannabinoids. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(29–30): 495–501.
Dr. med. Sigurd-Gerd Hagmann Wambachstraße 202 56077 Koblenz
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Enger Indikationsbereich für Cannabis
In meiner Tätigkeit als Neurologe und Psychiater mit dem relativ neuen Gebiet der Schmerzmedizin besteht seit vielen Jahren ein Schwerpunkt meiner Arbeit in Schadensverhütung – von Analgetikanephropathie, gas- trointestinalen NSAR-Komplikationen wie Blutung und Perforation, von toxischer Hepatopathie und medika- mentöser Kopfschmerzchronifizierung mit Komplikatio- nen (1). Dabei ergab die Langzeitbehandlung mit Opio - idanalgetika – nach Ermittlung von Ansprechen und Ver- träglichkeit, bei regelmäßigen und systematischen Kon- trollen – eine weitaus günstigere Ergebnisbilanz als die von Nicht-Opioiden (2). Während NSAR in der Akutbe- handlung recht wirkungsvoll und sinnvoll sind, ist die chronische Verabreichung komplikationsbelastet.
Bei Cannabinoiden sind die Auslösung von Psychosen, von Schizophrenien und kognitive Einbußen bedeutungs- volle Risiken (3), auf die auch die Autoren hingewiesen haben (4). Zu unterstreichen ist auch, dass Cannabis und Cannabinoide bei den möglichen Indikationen wie Dau- erschmerz bei Multipler Sklerose oder anderweitigen neuropathischen Schmerzzuständen oder bei schwerer Spastik nur bei einem Teil der Betroffenen wirksam sind.
Diese Kontingenz (das Nicht-Notwendige, was sein kann oder nicht, das Mögliche), die sich durch die ge- samte Schmerzmedizin zieht, kann also nicht zu geset- zesartigen Schlussfolgerungen führen wie: „Es gilt heute als erwiesen, dass Cannabinoide bei verschiede- nen Erkrankungen einen therapeutischen Nutzen besit- zen“, sondern eben nur besitzen können. Weiter: „Der Einsatz dieser Präparate (Cannabinoide) kann demnach bei Patienten, die unter einer konventionellen Behand- lung keine ausreichende Linderung von Symptomen wie Spastik, Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder Ap- petitmangel haben, sinnvoll sein“ ist zwar im Prinzip richtig, enthält jedoch keine Definition einer „konven- tionellen Behandlung“. Der rationale Indikationsbe- reich ist deshalb für Cannabis/Cannabinoide recht be- grenzt. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0174b
LITERATUR
1. Hackenthal E, Wörz R: Analgetika: Irrationale Anwendung, Miss- brauch und Abhängigkeit. In: Hackenthal E, Wörz R (eds.): Medika- mentöse Schmerzbehandlung in der Praxis. Stuttgart, New York: Gus- tav Fischer 1985: 325–73.
2. Wörz R (ed.): Differenzierte medikamentöse Schmerztherapie, 2nd edition; München, Jena: Urban & Vogel 2001.
3. Schneider U, et al.: Die Bedeutung des endogenen Cannabinoidsys- tems bei verschiedenen neuropsychiatrischen Erkrankungen.
Fortschr Neurol Psychiat 2000; 68: 433–8.
4. Grotenhermen F, Müller-Vahl K: The therapeutic potential of cannabis and cannabinoids. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(29–30): 495–501.
PD Dr. med. Roland Wörz
Bad Schönborn, woerz.roland@t-online.de
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
zu dem Beitrag
Das therapeutische Potenzial von Cannabis und Cannabinoiden
von Dr. med. Franjo Grotenhermen und Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl in Heft 29–30/2012