Die Information:
Bericht und Meinung AUS EUROPA
Erste Früchte
einer Neuorientierung der Ärzteschaft
Jährliche Konsultativtagungen ge- ben den Ärzteorganisationen der deutschsprachigen Länder Gele- genheit, die Problemstellungen in den differenzierten Systemen des Gesundheitswesens bzw. des Kran- kenversicherungswesens der ver- schiedenen Staaten kennenzuler- nen und zu erörtern. Über die jüng- ste dieser Tagungen, die im Okto- ber 1974 in Kiel stattfand, wurde u. a. in den „Mitteilungen der Ärz- tekammer für Kärnten" ausführlich berichtet. Der Präsident dieser Ärz- tekammer, Dr. med. Hadmar Sa- cher, würdigte dabei die Gesund- heits-, Sozial- und Berufspolitik in der Bundesrepublik Deutschland aus österreichischer Sicht. Es er- scheint besonders interessant, ein- mal (im Originaltext) zu lesen, wie sich „unsere Lage" von außen an- sieht. DÄ
„Mitteilungen der
Ärztekammer für Kärnten":
„Besonders beeindruckend war die Darstellung der Reaktionen, die die Standespolitiker der deutschen Ärzteschaft auf die in den letzten Jahren vielfach erhobenen gehäs- sigen und manchmal unqualifizier- baren Vorwürfe gegen unseren Stand gezeigt haben. Nach den als
‚Analyse' getarnten kritischen At- tacken der sogenannten Linken (hinter dieser Bezeichnung verber- gen sich übrigens zahlreiche diver- se Lobbies bis tief in das ‚bürgerli- che' Lager hinein) auf das beste- hende Gesundheitssystem, hat sich die deutsche Ärzteschaft nach an- fänglicher Verwirrung und Unsi- cherheit und einer Zeit der Diskus- sion in den eigenen Reihen der Öf- fentlichkeit gestellt.
Interessant für uns ist dabei die Beobachtung, daß hier nicht nur der einzelne Arzt, sondern auch die maßgebenden Organisationen
— insbesondere auf Vereinsbasis
— jede private parteipolitische Bin-
dung hintangestellt haben und in bemerkenswerter Einigkeit durch- schlagskräftige, streng überpartei- liche Standespolitik betrieben wird!
Es muß besonders betont werden, daß nach unseren Beobachtungen auch die Ärzte, die in ihrer privaten parteipolitischen Sphäre den Par- teien der sozial-liberalen Regie- rungskoalition angehören, voll hin- ter diesen Bestrebungen stehen und Störaktionen eigentlich aus- schließlich von ultralinken Irrläu- fern ausgehen, die schon eher den ehemaligen APO-Gruppen oder je- nen Kreisen der Jusos zuzurech- nen sind, die ohnedies niemand ernst nimmt.
Diese Auseinandersetzungen und zahlreiche mit Hitze geführte in- terne Reformdiskussionen zeigen erste Früchte und brachten eine Neuorientierung der Ärzteschaft.
Nachdem die Angriffe vielfältig ge- gen das gesamte Spektrum medizi- nischer Leistungen vorgetragen worden waren, mußte die Reaktion unter Setzung neuer Initiativen der Ärzteschaft auf ebenso breiter Ba- sis erfolgen. Als Folge davon ver- größerte sich die Palette gesell- schaftlicher Probleme, zu denen die ärztlichen Standespolitiker Stel- lung bezogen. Das Aufgabengebiet der Standesorganisationen wurde dergestalt komplettiert. Die Inte- gration des Ärztestandes in die Ge- samtgesellschaft ist verstärkt in Schwung gekommen. Begleitet wurde diese Selbstfindung der Ärz- teschaft von einer eindrucksvollen Öffentlichkeitsarbeit, die sich vor allem auch der Wartezimmer als Informationstor zum Patienten und somit zur gesamten Bevölkerung bediente.
Am Deutschen Ärztetag in Berlin, der allerdings überschattet war von einer Konfrontation mit einer kleinen APO-Gruppe junger Ärzte, wurde das ,Blaue Papier' als Ärz- teprogramm für das Gesundheits- wesen vorgelegt. Die Grundlinie dieses ärztlichen Programms heißt:
Fortentwicklung des gewachsenen Systems der Gesundheitssicherung in Richtung auf mehr Freiheit für Arzt und Patienten.
Es zeigt sich, daß wir Ärzte in kei- nem von der Gesellschaft bestaun- ten Elfenbeinturm sitzen können, sondern uns zu allen Fragen, die die Gesundheit unserer Mitbürger, aber auch die Stellung unseres Standes in der Pluralität betreffen, engagieren müssen. Wenn man sieht, mit welchem Ernst und mit welch detaillierten, sorgfältig durchdachten Vorschlägen sich die deutschen Ärzte zur Vorsorge, zur Rehabilitation, zum Datenschutz, zu Freizeitproblemen und Gesund- heitserziehung sowie Unfallverhü- tung äußern, dann kann man erst ermessen, wieviel Engagement und Arbeit von uns österreichischen Ärzten noch erforderlich sein wird, um die in diesem Stand steckende geistige Potenz für die Öffentlich- keit zu wecken.
Wir werden dabei alles daranset- zen müssen, die Österreichische Ärztekammer als oberstes Forum der Standespolitik zu Initiativen zu bringen, die über eine pessimisti- sche Beurteilung der Lage und das Reagieren auf Vorschläge anderer gesellschaftlicher Gruppen weit hinauszugehen hat! Mit einer Politi- sierung und damit verbundenen Polarisierung der Ärzteschaft wird dieses Ziel jedoch keineswegs er- reichbar sein. Wer glaubt, daß der Ärzteschaft in dieser Situation da- mit gedient ist, irgendwelche Verei- ne oder Gruppierungen in offener oder getarnter Form zu Vorfeldor- ganisationen politischer Parteien zu machen, ist mit Sicherheit auf dem Holzweg! Falsche Parolen werden niemanden täuschen. Nicht die Öffentlichkeit nicht die Politiker und schon gar nicht die Kollegen- schaft.
Nehmen wir uns also das Beispiel der Bundesrepublik zu Herzen und agieren wir weiterhin überpartei- lich und als eine Gruppe, die stan- despolitisch geschlossen auftritt.
Nur so wird es uns möglich sein, die Verwirklichung der Ideen von 15 000 Fachleuten auf dem Gebiet der Medizin — das sind wir Ärzte nämlich! — durchzusetzen."
Dr. med. Hadmar Sacher, Klagenfurt
320 Heft 6 vom 6. Februar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT