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ir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit be- reichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosse- rie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen . . . ein auf- heulendes Auto, das auf Kar- tätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Sa- mothrake.“„Wir stehen auf dem äu- ßersten Vorgebirge der Jahr-
hunderte! . . . Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wol- len? Zeit und Raum sind ge- stern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindig- keit erschaffen.“
Dies sind zwei von elf radi- kalen Thesen des „Manifestes der Zukunft“ des italienischen Schriftstellers Filippo Tom- maso Marinetti aus dem Jahr 1909. Für die Dichtung pro- klamiert, machten sich seinen Inhalt bald schon Maler und Bildhauer zu Eigen: Seine An- hänger verlangten den völli-
gen Bruch mit der Überliefe- rung. In der Malerei des Futu- rismus trat an die Stelle der optischen, nur einen einzigen Zustand abbildenden Einheit- lichkeit der Bildfläche die „Si- multaneität“, die Vereinigung mehrerer zeitlich verschiede- ner Erlebnisphasen, Bewe- gungen, die Überlagerung, Durchdringung von Körper, Raum, Geräuschen und Licht.
Das Sprengel Museum zeigt bis zum 24. Juni die bis- lang umfangreichste Ausstel-
lung in Deutschland mit circa 300 Werken der bildenden Kunst des italienischen Futu- rismus von 1909 bis 1918 vor- nehmlich italienischer Samm- lungen. „Bildnerische Grund- lagen des Futurismus“, „Krieg, einzige Hygiene der Welt“,
„Geschwindigkeit“, „Gleich- zeitigkeit“ sowie „Dynamik“
bestimmen die Bildauswahl und deren Präsentation. Eine Dokumentation der futuristi- schen Manifeste, Publikatio- nen und Briefe der Künstler sowie Fotos runden die Aus- stellung ab. Darunter befin- den sich auch ausgewählte Beispiele aus Architektur und Bühnenbild. Wenngleich
diese Phase kurzzeitig war, so übte sie doch auf andere Ver- treter der modernen Kunst nicht unerheblichen Einfluss aus. Die wohl bekanntesten Vertreter der Ausstellung (und Gründungsmitglieder des Futurismus) sind Balla, Boc- cioni, Carrà, Russolo und Se- verini mit einigen „Ikonen“
der Zeit, etwa „Profumo“,
„Donna + bottiglia + casa“
und den Skulpturen „Ent- wicklung einer Flasche im Raum“ und „Urformen der
Bewegung im Raum“. In ei- nem ihrer Manifeste formu- lierten diese Künstler die fu- turistischen Inhalte einer Er- neuerung der Malerei: „Der Schmerz eines Menschen ist ebenso interessant für uns wie der Schmerz einer elektrischen
Lampe, die unter krampf- haftem Zucken leidet.“
Anfängliche Reaktionen des Publikums auf Werke des Futurismus waren Hohn und Spott. Die „Resonanz“ eines Artikels in „La Voce“ im Jahr 1911 führte von einer geplan- ten Diskussion Boccionis, Marinettis und anderer zu ei- ner Schlägerei mit deren Wi- dersachern und endete bei der Polizei – zu einer Zeit, in der Einsteins Relativitätstheorie und Plancks Quantenmecha-
nik, Nietzsches und Bergsons Gedankengut gärten. Der Wunsch, eine führende ideo- logische Rolle in Italien und Europa zu spielen, die Tech- nikbesessenheit bis zur Spät- blüte der „Aeropittura“ rück- te die Futuristen in die Nähe des sich zunächst progressiv gebenden Faschismus Musso- linis; ein Stigma, das ihnen noch lange anhaftete.
Der 464 Seiten umfassende Katalog empfiehlt sich zur Begleitung dieser sehenswer- ten Ausstellung und dürfte vorerst dasdeutschsprachige Nachschlagewerk für diese Epoche werden.
Dr. med. Stephanie Krannich V A R I A
Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 15½½13. April 2001 AA999
E uphorischer Fortschrittsoptimismus
Die Ausstellung „Der Lärm der Straße – Italienischer Futurismus 1909 bis 1918“ ist dienstags von 10 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonn- tags von 10 bis 18 Uhr zu sehen.
Montags geschlossen. Informatio- nen: Sprengel Museum Hanno- ver, Kurt-Schwitters-Platz, 30169 Hannover, Telefon: 05 11/1 68- 4 38 75, Fax: 1 68-4 50 93, Inter- net: www.sprengel-museum.de Giacomo Balla: Automobile in corsa, 1913, Öl und Mischtechnik auf Pa-
pier, auf Holz aufgezogen, 73 x 104 cm, Privatsammlung Foto: Museum
Leornardo Durdreville: Al caffè, 1916, Mischtechnik auf Karton, 42,5 x 60 cm, Privatsammlung Mailand Foto: Michael Herling
Werke des italienischen Futurismus 1909 bis 1918
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