DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
D
er Bundesrat hat eine gesetz- liche Änderung des§ 218 neu verworfen und daran erinnert, daß der Schwangerschaftsab- bruch grundsätzlich strafbar ist, der Betroffenen und dem Arzt in- des gesetzlich Straffreiheit zugesi- chert wird. Das aber nur bei Vorlie- gen einer der im Gesetz festgeleg- ten Indikationen. Es gibt also kei- nen Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch und keine Berechti- gung zu einem Schwangerschafts- abbruch.Von den geschätzten 200 000 Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr sind über die Kassen nur 85 000 abgerechnet worden, auch daran wurde jetzt wieder erinnert.
Bei der Verteilung der Indikatio- nen fällt auf, daß die sogenannte Notlagenindikation bei den gemel- deten Fällen mit rund 80 Prozent vertreten war. Es ist zu vermuten, daß bei den nicht gemeldeten 115 000 Fällen Notlagenindikation zu fast 100 Prozent vertreten war.
Damit ist das geschehen, was das Gesetz anscheinend nicht gewollt hat: Mord am ungeborenen Men- schen auf Wunsch der Mutter durch einen willfährigen Arzt.
Nun sind medizinische, kriminolo- gische, kindliche Indikationen im- merhin mit gewissen Wahrschein- lichkeitsgraden objektivierbar und nachprüfbar. Auch die psychoso- ziale Notlagenindikation kann durchaus einleuchtend sein und vom Hausarzt, der die gesamten Familienverhältnisse kennt, ein- leuchtend begründet werden - wozu der Hausarzt aber nicht ver- pflichtet ist. Immerhin bleibt die psychosoziale Indikation für den ausführenden Arzt, der die allei- nige Verantwortung für das Vorge- hen trägt, in Grenzen nachprüfbar, eventuell durch Hinzuziehung ei- nes Psychologen oder Psychiaters (was das Gesetz jedoch nicht vor- sieht). Eine rein soziale Notlage - und hierum dürfte es sich in der überwiegenden Zahl der Fälle handeln - entzieht sich jedoch weitgehend der Feststellung durch den Hausarzt, vollkommen aber der Feststellung durch den
§218-
Nach unserem Gewissen
handeln!
ausführenden Arzt. Der ist völlig auf die Angaben der Patientin an- gewiesen, auf ihre Fähigkeit, die soziale Notlage einleuchtend dar- zustellen - nicht nur mit Worten eindrucksvoll zu schildern, son- dern auch emotionell überzeu- gend darzustellen, an die dem Arzt von seiner Aufgabe her immanen- te menschliche Hilfsbereitschaft zu appellieren. Dem Mißbrauch sind dabei Tür und Tor geöffnet.
Wenn wir Ärzte
..,... an dem Grundsatz festhalten, aus Überzeugung nur das zu tun, was zum Wohle des Patienten dient
..,... und diese Überzeugung durch möglichst genaue Feststellungen des individuellen Schicksals der betroffenen Patientin gewinnen, dann sollte es möglich werden, unserem Gewissen im Rahmen des Gesetzes zu folgen und dem Wohle unserer Patienten zu die- nen. Eine solche Handlungsweise braucht das Licht der Öffentlich- keit nicht zu scheuen; unsere Mel-
Abtreibungen:
Die letzten Zahlen
Beim Statistischen Bundesamt sind im vergangenen Jahr von den Ärzten 83 538 Schwanger- schaftsabbrüche gemeldet wor- den. 1984 waren es 86 529. 84 Prozent der im letzten Jahr ge-
meldeten Schwangerschaftsab-
brüche seien mit einer "sozia- len Notlage" begründet wor- den, teilte das Statistische Bun- desamt in Wiesbaden mit. 1984 waren es 83 Prozent gewesen.
DER KOMMENTAR
dung an die Zentralstelle brauchte nicht anonym zu bleiben. Ver- heimlichen und vertuschen muß derjenige, der dem Wortlaut des Gesetzes nicht folgt. Dieses aber heißt:
"Der Abbruch der Schwanger-
schaft durch einen Arzt ist nicht nach § 218 StGB strafbar, wenn
... der Abbruch der Schwanger-
schaft sonst angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und nicht auf eine andere für die Schwangere zu mut- bare Weise abgewendet werden
kann. (Notlagenindikation)."
Eine rein soziale Notlage unter- liegt aber so sehr der subjektiven Einschätzung, ist so sehr Ermes- senssache, liegt so weit außerhalb der ärztlichen Beurteilung, daß der Arzt hier versagen muß. Es war die Schuld des Gesetzgebers, den Arzt hier im Stich gelassen zu ha-
ben, ihn im menschlichen Bereich
erpreßbar zu machen. Es ist die Schuld der Ärzteschaft, sich der hier zugewiesenen Aufgabe einer Lebensvernichtung gebeugt zu haben, ohne die Bremsen einzu- bauen, die die ärztliche Ethik ver- langt.
Prof. Dr. med. Peter Stall, Mannheim
Erfahrungsgemäß wird beim Statistischen Bundesamt nicht einmal die Hälfte der tatsäch- lich vorgenommenen Schwan- gerschaftsabbrüche gemeldet, kommentiert die Presseagentur AP, die auch die Wiesbadener Zahlen verbreitete. Der bayeri- sche Sozialminister Neubauer etwa vermutet, daß nur etwa die Hälfte der Schwangerschafts- abbrüche gemeldet wird. Die Bundesärztekammer schätzt die Zahl der Abtreibungen so- gar auf 250 000. AP/DÄ
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 17 vom 23. April1986 (21) 1185