• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Mozart und Hildesheimer" (26.10.1978)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Mozart und Hildesheimer" (26.10.1978)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Spektrum der Woche Aufsätze Notizen FEUILLETON

Wir haben also die Mozart-Briefe, in all ihrer auch uns geläufigen Viel- schichtigkeit, ganz falsch und viel zu wörtlich gelesen, und mit Hilfe von ihnen das Mozart-Bild, das sie uns — zwar in tausend Verbrämungen, gar nicht immer gemütlich, aber immer aufschlußreich — vermittelt haben, in verhängnisvoller Weise mißdeutet:

Statt daß Mozart uns durch seine Briefe einsehbarer würde, entzieht er sich uns im Wort noch mehr, weil es möglicherweise vordergründig ist, etwas vortäuscht oder etwas ver- birgt. Hildesheimer lehrt uns, daß auch der umfangreiche Briefwech- sel Mozarts, seine Dokumentation durch das Wort, nur dazu beitrage, zu erkennen, wie Mozart nicht ist.

Fragliche Echtheit

und gewünschte Unechtheit

Aber damit noch nicht genug, Hil- desheimer ist nicht zufrieden, uns die Briefe Mozarts relativiert und als Erkenntnisquelle für die Erfassung seines Wesens entzogen zu haben, sondern er manipuliert an ihnen her- um. So überlegt er ernstlich, ob der bereits erwähnte letzte Brief an den todkranken Vater (vom 4. April 1787), den er als vordergründig und phrasenhaft bezeichnet, nicht über- haupt eine Fälschung sei.

Umgekehrt möchte er den undatier- ten (ins Jahr 1791 angesetzten) ita- lienischen Brief (an Da Ponte ge- richtet?), der von der Musikwissen- schaft als unecht erwiesen ist, unbe- dingt Mozart zuschreiben. Für seine Echtheit sprächen u. a., daß er zu niemandes Schaden gefälscht wäre, was wohl insgesamt ein zu geringes Indiz für die Echtheit ist. Es sei hier davon abgesehen, daß die Diktion dieses Briefes weit von der aller an- deren italienisch geschriebenen Briefe Mozarts abweicht, und zum

anderen, daß er mit seinem leicht sentimentalischen Grundton („die Stunde schlägt", und man meint, den feierlichen Sarastro die Todes- ergebenheit zelebrieren zu hören) eben jene Selbstkundgebung auf- weist, die Hildesheimer bei Mozart nicht für echt, sondern für Phrasen und für Ablenkungsmanöver hält.

Aber sehen wir von inhaltlichen, sti- listischen und sprachkritischen Fra- gen ab, so ist diese Bemühung Hil- desheimers doch sehr verwunder- lich: wenn die Briefe Mozarts letzt- lich für sein Wesen nichts besagen und uns nur von ihm weg führen, warum gibt sich Hildesheimer dann die Mühe, einen echten als unecht und einen unechten als echt zu in- terpretieren? Gibt er damit nicht — ohne es zu sagen — die immense Bedeutung dieses Briefwechsels zu, oder, würde jener diese Bedeutung erst erhalten, wenn verschiedene, nicht in die Konzeption Hildeshei- mers passende Briefe heraus- und andere hinzukämen?

Offenbar, ohne daß Hildesheimer es bemerkt, setzt er den Briefwechsel als so wichtiges Zeugnis ein, daß es sich für ihn lohnt, um die fragliche Echtheit des einen und die ge- wünschte Unechtheit des anderen lange und scharfsinnige Analysen anzustellen. Über die elementare Wichtigkeit der Zeugenschaft dieser Briefe ist sich auch Hildesheimer im klaren (für mich ist sie es in einem Maße, daß der Briefwechsel Mozarts in seiner Aussagekraft jede bisher erschienene Biographie über Mozart und die in ihr enthaltene Deutung übertrifft); nur, der Briefwechsel ist zwar einfach zu lesen, aber schwer zu deuten. Sollten wir ihn nur mit dem ernüchternden Kommentar Hil- desheimers lesen? Früher wurden uns die anstößigen Stellen vorent- halten. Jetzt, seit wir den ganzen

Briefwechsel in fünf Bänden bei Bä- renreiter vorliegen haben (soweit nicht von Nissen oder Constanze ge- strichene Stellen auch mit moder- nen Mitteln nicht lesbar gemacht werden können), sollten wir da sei- ne unersetzliche Ursprünglichkeit durch einen einschränkenden Kom- mentar relativieren, der uns sagt, was wörtlich zu nehmen sei, was als schlecht getarnte Ablenkung und was als offene Lüge anzusehen sei?

Musikologische Anmerkungen Es ist verständlich, daß auch im mu- sikologischen Teil sich die selbstän- dige und aller Konventionen ferne Betrachtungsweise des Autors wi- derspiegelt. Der Leser wird alle Schattierungen von freudigstem Einverständnis über skeptisches Zö- gern bis zur Aufsage der Gefolg- schaft erleben, jeder wohl in anderer Mischung.

Hildesheimers Ansicht, daß Mozart sicher einen modernen Konzertflü- gel seinem Walter-Klavier vorgezo- gen hätte (Seite 243), kann man nur emphatisch zustimmen. Gerade aus einer solchen, manchem vielleicht nebensächlich erscheinenden Be- merkung geht das Einfühlungsver- mögen des Autors, seine Erfassung des Mozartschen Klangsinns und dessen Freude an jedem neu dazu- gewonnenen virtuosen Register deutlich hervor.

Um beim Klavier zu bleiben: Die Kennzeichnung der vierhändigen Variationen in G-Dur KV 501 als

„Galanterie-Stück" (Seite 186) dürf- te indessen etwas zu tief gegriffen sein. Die Feststellung, daß Mozart im

„Don Giovanni" durch die Musik, nicht durch den Text, enthüllt, daß dem Titelhelden die Verführung von Donna Anna gelungen ist, hat schon Kierkegaard vermutet; vor Hildes- heimer und deutlicher als Kierke- gaard habe ich diese Feststellung (auch für Zerlina geltend) bereits 1956 formuliert 7).

7) Aloys Greither: Die sieben großen Opern Mozarts. Versuche über das Verhältnis der Texte zur Musik. Lambert Schneider, Hei- delberg 1956

Mozart und Hildesheimer

Aloys Greither

Erste Fortsetzung und Schluß

2546 Heft 43 vom 26. Oktober 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(2)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Mozart und Hildesheimer

Und noch ein Beispiel aus „Don Gio- vanni": bei der Registerarie Leporel- los stellt Hildesheimer fast hämisch fest, daß Don Giovanni an der ge- rühmten „Constanza" (der Treue) der schwarzhaarigen Frauen wenig gelegen haben könne (Seite 230). Er hat dabei offenbar übersehen, daß die Treue eine erotische Befindlich- keit ist, eine besondere Art, sich zu geben und zu verweigern. Dadurch, daß Don Giovanni eine Frau ge- winnt, indem er die erwartete Treue gewissermaßen schon in der Umar- mung bricht, hat er sein Liebesregi- ster um eine besonders pikante Nu- ance bereichert. Sollte Hildesheimer die Psychologie des Verführers oder die Frauen so wenig kennen?

Mozart als Violinist und Bratscher Fraglich erscheint mir, ob in der Kunst der Bläserbehandlung Berlioz und Mahler als Mozart ebenbürtig angesehen werden können (Seite 364). Sicher ebenbürtig wurde ihm darin Schubert, dessen Klangwun- der der 9. Sinfonie mit großer Blä- serbesetzung weder von Bruckner noch von Mahler übertroffen wurde.

Schlechthin falsch ist indessen die Annahme, Mozart sei ein „akzepta- bler Violinist und ein besserer Brat- schenspieler" gewesen (Seite 289).

Mozart war, zur Zeit der Pariser Rei- se, ein vorzüglicher Violinist, und Leopold Mozart, dem sein Violin- spiel mehr als das Klavier am Herzen lag, schrieb ihm: „Du weißt selbst nicht, wie gut Du Violine spielst, wenn Du nur Dir Ehre geben und mit Figur, Herzhaftigkeit und Geist spie- len willst, ja so, als wärest Du der erste Violinspieler in Europa.. .. "

(18. 10. 1777).

Die für seinen eigenen Gebrauch komponierten Violinkonzerte wei- sen den Grad seiner Technik recht genau aus. Natürlich gibt es inzwi- schen anspruchsvollere; aber jeder Geiger weiß, wie infam schwer Mo- zarts Violinkonzerte zu spielen sind:

Das gilt für Technik und Stil.

Es ist richtig, daß Mozart später nur mehr Bratsche gespielt hat (in sei- nem Nachlaß fand sich eine Viola,

F,,1 :71114,11‘.112,R MOZART

keine Violine), möglicherweise lag sie ihm vom Charakter mehr als die Violine. Daß er auf der Bratsche aber

„besser" gewesen sei als auf der Geige, ist sicher ein Irrtum. Gar mancher Bratscher bleibt ein passa- bler Spieler, weil er einstmals den Standard eines vorzüglichen Gei- gers hatte. Von dieser Reminiszenz zehrt er als — nicht mehr übender — Bratscher.

Mozart hat in seinem berühmten Streichquartett der Wiener Zeit, in dem vor allem seine und Haydns Quartette gespielt wurden, am Brat- schenpult gesessen, Violoncellist war der Komponist Vanhal; die bei- den Geiger aber hat Hildesheimer verwechselt (S. 308). Dittersdorf, der ein virtuoser Geiger war, spielte die erste Violine, und Haydn (den Dieter Klöcker in seinem Vorwort zur Haydn-Kassette bei Electrola 1976 zu Recht einen „mäßigen Geiger"

nennt) spielte die zweite Violine.

Den technischen Anforderungen der ersten wäre er gar nicht gewachsen gewesen.

Haydn:

„... einige Ungereimtheiten "

Bei Haydn passieren Hildesheimer ohnedies einige Ungereimtheiten (wer Mozart gut kennt, kennt Haydn

noch lange nicht genügend). Auf Seite 307 zitiert Hildesheimer das großartige Lob, das Haydn Leopold Mozart gegenüber dessen Sohn bei einem solchen Quartettabend ge- spendet hat und das ihn ewig ehren wird: „Ich sage Ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, Ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Per- son und dem Namen nach kenne";

aber Hildesheimer gibt folgenden Kommentar: „. . es spricht für seine Generosität und Güte, daß er nicht hinzufügte: Aber wissen Sie: ohne mich und meine Quartette hätte der Herr Sohn so etwas niemals fertig- gebracht, womit er sachlich recht gehabt hätte."

Ob die Unterstellung eines solchen Gedankens sehr nobel ist, mag der Leser beurteilen; ich bezweifle so- gar, ob Haydn mit einer solchen Be- merkung „sachlich recht" gehabt hätte. Gewiß, Mozart hat die sechs Quartette op. 20 von Haydn auf- merksam studiert und es auch im Vorwort seiner berühmten eigenen sechs Joseph Haydn gewidmeten Streichquartette vielleicht etwas übertrieben devot bekannt. Haydn war bescheiden und gütig, die ihm unterstellte Reservatio mentalis lag ihm sicher fern, er war ernstlich von der absoluten Größe Mozarts über- zeugt; wenn er Mozart in den Streichquartetten eine Zeitlang eine Nasenlänge voraus war, so lernte er von Mozart die Orchesterbehand- lung, vor allem die der Bläser. Und Haydn wußte, daß es bei einem Ge- nie wie Mozart nur eines Anstoßes bedurfte, was ja auch für ihn galt:

Die schöpferische Kraft bedeutete mehr als der Anstoß.

Hildesheimer schreibt auf Seite 308:

„Die fatale Bezeichnung ,Papa Haydn' stammt leider von ihm (Mo- zart), und wir können nur hoffen, daß er sie bedauert hätte, wäre ihm klar geworden, was er damit ange- richtet hat; in ihr rächte sich der

‚Papa' an dem ,ewigen Kind`."

Leider hat Hildesheimer den Text dieser „fatalen Bezeichnung" falsch interpretiert: in der italienischen Theater- und Musiksprache ist „Pa- pa" nicht der Vater, sondern der Pa-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 43 vom 26. Oktober 1978 2547

(3)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Mozart und Hildesheimer

tron, der Prinzipal. Manchmal sind es die Interpreten, die an sich richti- ge Dinge verderben.

Sprachliche Ausrutscher

Lassen wir es mit diesem beliebig herausgegriffenen Beispielen genug sein. Anzufügen wäre noch, daß Hil- desheimers bereits eingangs gelob- ter sprachlicher Rang sich mitunter doch Mißgriffe und „Ausrutscher"

erlaubt, die sowohl sachlich wie be- grifflich recht unglücklich sein können.

Den Grafen Almaviva nennt er die

„unsympathischste Figur" im gan- zen „Figaro" (Seite 195). Natürlich steht es ihm frei, den Grafen „un- sympathisch" zu finden, aber Hil- desheimer bewegt sich hier in fal- schen Kategorien. Für die Oper und den dramatischen Impuls ist es un- erheblich, ob der eigentliche Motor der Handlung „sympathisch" oder

„unsympathisch" sei. Und wenn schon: durch die Widerstände, die sein herrischer Machtanspruch ge- gen ihn mobilisiert, wird er mensch- lich und „sympathisch". Donna An- na nennt er „schlechthin unaussteh- lich, angelegt zwischen Heulsuse und Racheengel" (S. 233); von Nan- nina Gottlieb, der ersten Barbarina und späteren Pamina, meint er, sie sei „ein kleines Luder" gewesen (Seite 196). Auch von Zerlina sagt er,

„sie ist mehr raffiniertes Luder als Schalk" (Seite 300). Hildesheimer, der seit langem in der deutschspra- chigen Schweiz lebt, müßte eigent- lich wissen, daß im süddeutschen Sprachraum „Luder" wohl das schlimmste Schimpfwort für eine Frau ist und sich für einen Schrift- steller seines Ranges nicht geziemt.

Auf Seite 178 heißt es von einem

„verzweifelten Dur", Seite 179 von

„intersubjektivem Erleben", Seite 212: „Wir genießen die Sublimierun- gen der Katastrophe eines Men-

8) Dieter Kerner: Krankheiten großer Musi- ker, Stuttgart 1963

9) Carl Bär: Mozart, Krankheit — Tod — Be- gräbnis. Internat. Stiftung Mozarteum, Salzburg 1966

10) Aloys Greither: Eine Pathographie Mo- zarts. In: Die sieben großen Opern Mo- zarts. Bayer Leverkusen AG 1970 und Lam- bert Schneider, Heidelberg 1970

schen als Katharsis." Mehrmals ist bei Hildesheimer recht journali- stisch von „musikalischen Aktivitä- ten" Mozarts die Rede (Seiten 226, 355), S. 289 von „peripheren Aktivi- täten". Seite 231 wird die „potentiel- le Versatilität des Schöpfers" be- müht, auf Seite 371 die „Faktizität".

Hildesheimer hat sich auch über die Krankheiten und den Tod Mozarts eine eigene Meinung gebildet, und er berichtet objektiv und loyal. Wäh- rend er noch 1956 mehr dem gewalt- samen Tod und der Quecksilberver- giftung zuneigte') (die er freilich noch nicht ganz aufgegeben hat), hält er jetzt die These Bärs 9), die Annahme eines späten Gelenkrheu-

mas mit einem zusätzlichen, das En- de schnell herbeiführenden Infekt für am wahrscheinlichsten. An eine chronische Krankheit Mozarts 10) will er nicht glauben. Das ist verständ- lich. Einem Laien ist es schwer klar- zumachen, daß auch ein völlig agiler und leistungsfähiger Mensch chro- nisch krank sein kann. Nun, an der chronischen Vorschädigung der Niere kann bei Mozart wohl kein Zweifel sein, auch wenn man die üb- rigen im Briefwechsel belegten Krankheiten nicht so ernst nehmen sollte.

Mozarts

chronische Niarenkrankheit Die mehrfachen und schweren Rheumaschübe in Mozarts Jugend schließen eine — dazu tödliche— Ma- nifestation dieser Krankheit im Er- wachsenenalter medizinisch aus; es sei denn, man nehme an, die Krank- heiten sowohl wie die Menschen hätten sich seit dem 18. Jahrhundert geändert, was Hildesheimer immer- hin für möglich hält. Daß das „hitzi- ge Frieselfieber" (oder was immer sich hinter diesem letzten Infekt ver- berge) schließlich Mozarts Tod mit einer riesenhaften Schwellung des Körpers herbeiführte, kann nur die Auslösung der letzten Phase der — bis dahin möglicherweise stummen

— Schrumpfniere bedeutet haben.

Wer Kranke mit sekundärer Schrumpfniere trotz ihres oft extre- men Hochdrucks (bei möglicherwei-

se bleichem und gedunsenem Aus- sehen) über lange Zeit hat verfolgen können und sie wie Gesunde hat ar- beiten sehen, weiß, wie versteckt sich eine „chronische" Krankheit darbieten kann.

Nach außen fällt bei solchen Kran- ken meist nur die Stimmungslabili- tät, die Reizbarkeit, die Neigung zu Depressionen auf; gerade diese Symptome hat Mozart in geradezu klassischer Weise dargeboten.

Die Hypothese

der Quecksilbervergiftung

Die Theorie der Quecksilbervergif- tung hat Hildesheimer indessen kei- neswegs aufgegeben, sondern er diskutiert die Möglichkeit, Mozart könnte — wohl in seinem letzten Le- bensjahr — sich syphilitisch ange- steckt und selbst mit Quecksilber behandelt haben. Im medizinischen Schrifttum ist es um diese immer wieder diskutierte Hypothese recht still geworden; sie hat ja immerhin zur Voraussetzung, daß Mozart du- biöse und für ihn verhängnisvolle erotische Beziehungen gehabt ha- be, für die auch nur das geringste Zeugnis, geschweige denn Indiz, fehlt. Für Hildesheimers Phantasie hat diese Version aber eine fast sug- gestive Realität angenommen:

„Vielleicht hat sich ihm während der letzten Lebensmonate sein Schick- sal zunehmend und unerbittlich mit- geteilt. So wurde er, dessen Tage und Nächte nunmehr gezählt waren, zum Dionysiker, der den Halt verlor, zu einem sporadisch von depressi- ven Zuständen geplagten, subjektiv Gescheiterten, süchtig nach Zer- streuung. Der seine Vergnügungen dort suchte, wohin ihm die bürgerli- che Phantasie nicht folgen will. Als einer der großen Luetiker befände er sich jedenfalls in der Gesellschaft nicht weniger der größten Geister des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts." (Seite 369)

Wir meinen, das sei der Stil der schlechten Mozart-Literatur, derje- nigen, die Hildesheimer wegen ihrer unbewiesenen Behauptungen, ihrer

2548 Heft 43 vom 26. Oktober 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(4)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Mozart und Hildesheimer

phantasievollen Kolportagen auf das heftigste bekämpft und der er hier selber erliegt.

Mozarts Beziehungen zu Frauen Was Mozarts erotische Bedürfnisse anlangt, so ist sicher Großherzigkeit am Platz. Aber es müssen ja nicht unbedingt folgenschwere „Aus- schweifungen" sein. Constanze weilte im Sommer und Herbst 1791 für je zwei Wochen zur Kur in Baden, aber Mozart fuhr alle paar Tage hin, sie zu besuchen. Und wenn es schon Klatsch und Vermutungen geben soll: Auch Hildesheimer hält es für wahrscheinlich, daß Mozart — außer zu Constanze — zu mindestens einer von drei Frauen, wenn nicht zu allen, erotische Beziehungen unterhalten hat. Das sind Nancy Storace, Hen- riette Baranius, und, in der allerletz- ten Zeit, Magdalena von Hofdemel.

Jedenfalls gebar letztere im Jahr 1792 einen Sohn, der nicht von ih- rem Mann stammte (der sich übri- gens das Leben nahm, vielleicht aus anderen Gründen). Wenn ihm Con- stanze zuletzt nicht mehr genügt ha- ben sollte, warum kann es nicht eine heftige Beziehung zu dieser — sicher ungewöhnlichen — Frau, die seit 1789 seine Klavierschülerin war, ge- wesen sein? Auch diese Vermutung

—für die es immerhin Hinweise gibt—

auszusprechen, scheint mir schon ein Unrecht zu sein; aber es ist ein kleineres, weil es die Unterstellung wahlloser und folgenschwerer eroti- scher Beziehungen erspart.

Mozarts Vermögensverhältnisse Hildesheimer hat auch der neuen, 1976 aufgetauchten Version von Mozarts angeblicher Verarmung ge- dacht, die wissen will, daß er unbe- zahlbare Spielschulden und damit Ehrenschulden gehabt habe, und dadurch das Vertrauen der Wiener verloren habe"). Hildesheimer lehnt

11) Uwe Krämer: Wer hat Mozart verhungern lassen? Musica, 31. Jg., Nr. 3 (H: 194) 12) Carl Bär: „Er war . : . kein guter Wirth."

Eine Studie über Mozarts Verhältnis zum Geld. Acta Mozartiana, 25. Jg., Heft II, April 1978

sie ab, vor allem, weil von diesen Spielschulden mehr hätte an die Öf- fentlichkeit dringen müssen, und zum anderen, weil es Mozarts später Musik Hohn spräche, wenn man an- nähme, sie sei von den Wienern we- gen seiner Spielschulden abgelehnt worden.

Wie recht Hildesheimer hatte, ist in- zwischen durch eine sorgfältige neue Studie über Mozarts Vermö- gensverhältnisse erwiesen worden.

Carl Bär 12) hat in penibler Kleinar- beit nicht nur die Einnahmen, son- dern die viel schwerer schätzbaren Ausgaben sorgfältig berechnet und gefunden, daß die Bilanz insofern ausgeglichen war, als das schließli- che Defizit (an das sich Mozart seit seinen frühen Wiener Jahren ge- wöhnt hatte) dem bei seinem Tod vorhandenen in etwa entspricht.

„... es führt kein Weg an Hildesheimer vorbei ... "

Ziehen wir das Fazit unserer sehr lückenhaften Betrachtungen.

Wenn ich gefragt werde: Soll man Hildesheimers Buch lesen? So muß ich antworten: Es führt gar kein Weg vorbei, zumindest nicht für den ernsthaft um Mozart bemühten Le- ser. Am meisten wird der Unerfahre- ne daraus Gewinn ziehen; der schon Erfahrene wird sein bisheriges Mo- zart-Bild korrigieren müssen und der Fachkundige wird Hildeshei- mers Betrachtungsweise entneh- men, was neu und dabei richtig ist.

Bewunderung und Befremden Insgesamt wird er aber das Gefühl der Ambivalenz nicht loswerden, und wird zwischen Bewunderung und Befremden schwanken. Er wird das Verführerische und Anziehende spüren, und doch oft genug mit ei- nem bitteren Geschmack dafür bü- ßen. Diese Wirkung lösen manche glänzenden Schriftsteller aus: bei mir vor allem Hildesheimer, dessen Faszination auf mich ich gerne be- kenne, ebenso etwa Thomas Mann (vor allem im Doctor Faustus), und

schließlich Ernst Jünger, dessen ge- schliffene, in kühler Verstandesglut glitzernde Sprache bar jeglicher Mu- sikalität ist und mich ebenso anzieht wie abstößt.

Hildesheimer selbst würde zu dem Ergebnis seiner zwanzigjährigen Ar- beit und zu seinem Mozart-Bild sa- gen: „Das Scheitern des Versuches ist in unserem Ratespiel einkalku- liert" (Seite 229). Hildesheimers Buch bleibt der — für die Quintes- senz doch wohl schon zu lange — Essay eines glänzenden Schriftstel- lers, der ein Einzelschicksal sieht und deutet, es aber doch nicht in der erforderlichen Weise in einen gro- ßen historischen und musikge- schichtlichen Raum zu stellen ver- mag; Mozart ist eigentlich nicht ein- mal genügend als ein Kind seiner Zeit gesehen. Bedauerlich ist des Autors geringe Meinung von der Musikwissenschaft, die für die Erfor- schung des Mozart-Bildes wesent- lich mehr geleistet hat, als Hildes- heimer zuzugeben bereit ist.

Willi Schuh schreibt bei der Bespre- chung der „Addenda und Corrigen- da zu Otto Erich Deutschs Doku- mentenband" (1978): „Keine Aus- einandersetzung mit dem Phäno- men Mozart ist denkbar — das zeigt sich auch in Wolfgang Hildeshei- mers problematischem, die Mozart- Forschung überheblich attackieren- den Mozart-Buch — ohne gründli- ches Studium und vorurteilslose Be- rücksichtigung der in geduldiger Kleinarbeit zusammengetragenen, geordneten und kommentierten Do- kumente seines Lebens" (Neue Zür- cher Zeitung vom 7. März 1978).

Übrigens: nicht alle „Denkanstöße"

(wie man heute zu sagen pflegt) stammen von Hildesheimer selbst.

Wieviel Entscheidendes er — und an gar manchen wichtigen Stellen feh- len die sonst so üppig angewandten Zitate — anderen verdankt, können freilich nur die Fachkundigen beur- teilen.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. Dr. A. Greither Moorenstraße 5

4000 Düsseldorf

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 43 vom 26. Oktober 1978 2549

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Für Heilmittel müssen statt bisher 10 Prozent künftig 15 Prozent zugezahlt werden.. Für bestimmte Hilfsmittel wie Einlagen oder Bandagen wird ei- ne Zuzahlung von 20

Ebenso kann HALCION® bei häufig wiederkehrender Schlaflosigkeit, vor Operationen und bei anderen akuten oder chronischen Krankheitsfällen, in denen eine Ruhigstellung des

Antworten auf viele Fra- gen zum Thema Psychothera- pie für Betroffene, aber auch für Ärzte, die sich und ihre Patienten aufklären wollen, bietet dieser Ratgeber

„Teufelskeller“ nach einer Geschichte: Don Melchor de Concha y Toro, der Gutsgrün- der, bewahrte seinerzeit im Teufelskeller seine ganz pri- vate Auswahl an Weinen auf –..

Bei einer seit 1992 jährli- chen Zuwachsrate von sieben bis neun Prozent an operati- ven Eingriffen bei von Ver- tragsärzten eingewiesenen Patienten allein in unserem Krankenhaus

Wenn sich die soziale Lage der Bevölkerung weiter verschlechtert, wenn Kri- minalität und Terror stär- ker werden, dann wird die Diskussion um die Todes- strafe früh genug auch bei

Danach sollen die Ausgaben der Kassen für die qualifi- zierte ehrenamtliche Sterbebegleitung im Rahmen ambulanter Hospizdienste im Jahr 2002 für jeden Versicherten 0,15

(1) Die große Apertur des Piezolith garantiert eine breitflächige Vertei- lung der Energie und damit eine ge- ringe Energiedichte auf der Haut- oberfläche. O Der