Von JOACHIM Oelsner, Jena/Leipzig
Die Ansichten über die Ghederung des semidschen Sprachgebiets ge¬
hen nach wie vor beträchthch auseinander. Deshalb dürfte es nicht abwe¬
gig erscheinen, einige Überlegungen dazu zur Diskussion zu stellen,
nachdem wir uns bereits vor zwanzig Jahren an einer nicht ganz leicht zu¬
gänglichen Stelle zur Themadk geäußert hatten.' Es geht dabei nicht
darum, den zahlreichen Lösungsvorschlägen einen weiteren hinzuzufügen.
Vielmehr soll an einige methodische Probleme erinnert werden, die unse¬
res Erachtens noch immer strittig sind.
Betrachtet man die Äußerungen zur Sache, so fällt auf daß bis in die
Gegenwart die im 19. Jh. entstandene Gliederung der semitischen Spra¬
chen nach ihrer geographischen Verteilung - oder besser Bezeugung - in
Vorderasien noch immer vorherrscht. Termini wie Ostsemitisch, West¬
semitisch - genauer Nordwest- und Südwestsemidsch - bzw. Südsemi¬
tisch sind üblich, in jüngster Zeit noch ergänzt durch Nordsemitisch, ange¬
regt durch die Sprache des syrischen Ebla im 3. Jahrtausend^, eine Spra¬
che, die eine Herausfordemng an die Semitistik darstellt, soweit diese sich
als sprachwissenschafüiche Disziplin versteht.
Eine ähnliche, letzdich ebenfalls geographische Gliedemng liegt auch in
der Unterscheidung von zentralem und peripherem Semitisch vor, wie sie
u.a. von LM. DJAKONOFF in seiner anregenden Darstellung der als
semito-hamitisch oder afiro-asiatisch zusammengefaßten Sprachen^ vorge¬
nommen wird: Northem Peripheral (= Ost- bzw. Nordostsem., d.h. Ak-
' J. OELSNER: Zur Problematik der Klassifikation der semidschen Sprachen. In:
VostoCnaä Filologia 2 (Tiflis 1972), S. 241-247 (mil georg. Resume S. 247-249); ins
Arabische übersetzt von ARAFA MUSTAFA in: Baina '1-Nahrain 2 (Mosul 1979), S.
379-392.
2 W. VON SODEN: Das Nordsemitische in Babylonien und in Syrien. In: L. CAGNI (Hrsg.): La lingua di Ebla. Atti del Convegno Intemazionale (Napoli, 21-23 aprile 1980). Neapel 1981, S. 355-361. - Zur grammatischen Erschließung liegt inzwischen eine Reihe von Studien vor. S. auch u. Anm. 25.
^ I.M. DIAKONOFF: Semito-Hamitic Languages. Mosicau 1965 (auch in russisch);
ders.: Afrasian Languages. Moskau 1988 (das hier gebrauchte "Afrasisch" isl u.E. min¬
destens für deutsche Ohren vom Sprachlichen her eine schreckliche Bildung, vergleichbar nur mit "indeuropisch", was statt das üblichen "Indoeuropäisch" allerdings im Italieni¬
schen bezeugt ist).
Cornelia Wunsch (Hrsg.): XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, München 8.-13.4.1991
(ZDMG-Suppl. 10). - © 1994 Franz Steiner Veriag Stuttgart
kadisch), Northern Central (Nordwestsem.: Kanaanäisch, Aramäisch,
Ugaridsch, sowie - mit Fragezeichen - Eblaitisch), Southern Central
(Nordarabisch), Southem Peripheral (Alt- und modernes Südarabisch). In
der Neuauflage von 1988 werden gegenüber der ersten Fassung von 1965
die semidschen Sprachen Äthiopiens als eigene Gmppe (Ethio-Semitic)
abgetrennt, ohne in das Schema eingebaut zu werden.'* Diese Gliedemng
erfreut sich weitgehender Akzeptanz, wie u.a. auch die Beiträge von W.
DiEM zur genealogischen Stellung des Arabischen^ und R.M. VOIGT zum
Zentralsemitischen allgemein (mit Zuordnung des Altsüdarabischen)^ zei¬
gen. Obwohl die geographische Gliederung letztlich in den Bereich der
Areallinguistik gehört, erfolgt in der Regel eine Kombination mit dem von
AUGUST SCHLEICHER in die Sprachwissenschaft eingeführten Stamm¬
baumschema, mit dem die Sprachgruppen und Einzelsprachen in genea¬
logische Beziehungen und ihre Abspaltung in eine Folge gebracht
werden.''
Wenig Anhänger scheint heute die Zusammenfassung der semitischen
Sprachen zu nur drei großen Gmppen (Nordostsemitisch/Mesopotamisch,
Nordwestsemitisch/Syrisch, Südwestsemitisch/Arabisch-Äthiopisch) zu
besitzen, wie sie von S. MOSCATI in den fünfziger und sechziger Jahren
vertreten wurde.^ Die Entdeckung weiterer semitischer Idiome hat letzt¬
lich der Kritik an dieser starken Vereinfachung, die vor allem W. VON
SODEN geübt hat,9 recht gegeben: Es ist durchaus noch mit einer größeren
Anzahl von Ausprägungen des Semitischen als gegenwärtig bekannt zu
rechnen.
In ihrer ursprünglichen Form als Wellenbewegung und Darstellung der
verwandtschafdichen Verhältnisse in Form jeweils engerer Beziehungen
benachbarter Sprachen und ihrem Zusammenschluß zu einem in sich ge¬
schlossenen Kreis spielt die auf JOHANNES SCHMIDT zurückzuführende
4 Ibid., S. 18.
^ W. DIEM: Die genealogische Stellung des Arabischen in den semitischen Sprachen.
Ein ungelöstes Problem der Semitistik. In: W. DIEM — S. WILD (Hrsg.): Studien aus Arabistik und Semitistik. Festschrift Anton Spitaler. Wiesbaden 1980, S. 65-85.
6 R.M. VOIGT: The Classification of Central Semitic. In: JSS 32 (1987), S. 1-21.
^ Vgl. neben den genannten Arbeiten z.B. auch C. RABIN: The Origin of the Sub¬
divisions of Semitic. In: Hebrew and Semitic Studies Presented to G.R. Driver. Oxford 1963, S. 104-115.
^ Siehe z.B. S. MOSCATI u.a.: An Introduction to the Comparative Grammar of the Semitic Languages. Wiesbaden 1964, S. 4 (allerdings mit Hinweisen aufdie Problematik dieser Posiüon). Vgl. auch die ibid. S. 176 genannten Arbeiten MOSCATIs.
9 W. VON SODEN: Zur Einteilung der semitischen Sprachen. In: WZKM 56 (I960), S. 177-191, zu Moscau besonders S. 178 ff
Areallinguistik in der Semidsdk heute kaum eine Rolle. Wenn wir recht
sehen, hat BENNO LANDSBERGER mit dem Aufgreifen dieser Theorie für
die semidschen Sprachen kaum Nachfolger gefunden, obwohl es durchaus
möglich wäre, durch Einfügen neuer Glieder die Kette zu erweitem.'°
Die ausschheßlich geographische Gliedemng hat einen entscheidenden
Nachteil: Sie vemachlässigt die zeidiche Dimension. Sprachen breiten sich
nicht nur im Raum aus, sondem auch in der Zeit. Die semidschen Spra¬
chen sind aus einem Zeitraum von viereinhalb bis fünf Jahrtausenden
überliefert, und es ist klar, daß sie in dieser Periode Veränderungen erfah¬
ren haben und andererseits sie auch bereits eine uns unbekannte und nur
zu rekonstmierende Vorgeschichte besitzen. Mit dem Stammbaumschema,
wie es im vergangenen Jahrhundert entwickelt worden ist, war diesem
Aspekt Rechnung getragen worden. Betrachtet man die jüngeren Arbeiten
zur Ghedemng der semidschen Sprachen, so findet man auch dieses in
reiner Form nicht allzu häufig. Am konsequentesten bemüht sich ROBERT
HETZRON um derartige Rekonstmkdonen." Auch R.M. VOIGT folgt ihm
darin. '2 Auf die Zeitdefe der semidschen Überlieferung, die sich in der
unterschiedlichen einzelsprachlichen Ausprägung zeigt, hat vor allem
OTTO RÖSSLER in seinen Arbeiten aus der Mitte unseres Jahrhunderts
hingewiesen. 13 Mit seiner Differenzierung zwischen alt- und jungsemi¬
tisch hat er auf einen ganz wesentlichen Punkt aufmerksam gemacht.
Daran hat auch B. KIENAST im Zusammenhang mit der Einordnung der
Sprache von Ebla erinnert.'^ Auch I.M. DJAKONOFF trägt dem mit seiner
Unterscheidung einer frühen, mitderen und späten Sprachstufe in gewisser
Weise Rechnung.
Auf anderem Wege hat G. GARBffJI das Problem der zeitlich diffenzier-
ten Schichten der semidschsprachigen Überliefemng aufgegriffen. Für ihn
stellt den entscheidenden Faktor beim Übergang von den älteren zu den
jüngeren semidschen Sprachen die "Amurridsiemng" dar, die sich noch
1" Vgl. dazu W. VON SODEN: op. cit. (Anm. 9), S. 177. Einen Hinweis darauf konnten wir in der Literatur bisher nicht finden, so daß es sich möglicherweise um mündliche Tradidon handelt.
11 Vgl. z.B. R. HETZRON: Ethiopian Semitic. Studies in Classification. Manchester 1972 (mit Stammbaummodell S. 1 19), so auch in anderen Arbeiten (zitiert bei R.M.
VOIGT in: JSS 32 (1987), S. 4 und 19). S. auch u. bei und mit Anm. 22.
12 Siehe z.B. den o. Anm. 6 genannten Beiuag, besonders S. 2 ff.
13 Zuerst in O. ROSSLER: Verbalbau und Verbalflexion in den semito-hamitischen Sprachen. In: ZDMG 100 (1950), S. 461-514; weitere Arbeiten zitiert in: JSS 32 (1987), S. 20, vgl. auch ibid. S. 3.
I'l B. KIENAST: Die Sprache von Ebla und das Altsemitiache. In: Im lingua di Ebla (o.
Anm. 2), S. 83-98, vgl. besonders S. 88 (§ 6).
innerhalb der Verwendung der äheren Sprachformen als gesprochener
Sprache vollzog, ohne daß deutlich wird, wo diese Amurriter herkommen
und wieweit mit diesen Erscheinungen auch außerhalb des syrisch-
mesopotamischen Bereichs zu rechnen ist.'^ Damit hat er sich den Vor¬
wurf des "Pan-Amurridsmus" zugezogen.Unabhängig davon, ob er mit
dieser Konzeption zu weit geht und die Rolle der Amurriter zu hoch ver¬
anschlagt, ist unseres Erachtens damit doch ein weiterer wichtiger Ge¬
sichtspunkt angesprochen, der Aufmerksamkeit verdient: die Ablösung
einer älteren semitischen Sprachschicht durch eine jüngere.
Einmütigkeit besteht wohl darüber, daß bereits im 4. Jt. die Gliederung
des semidschen Sprachgebiets in verschiedene Idiome - seien es Spra¬
chen, seien es Dialekte - vollzogen ist.'^ Garbini erinnert daran, daß
ausgeprägte Sprachunterschiede nur dort erkennbar sind, wo politische
Einheiten existieren, es in anderen Bereichen jedoch nur "dialeet clusters"
gibt.18 Hinzufügen sollte man noch, daß diese "Sprachen" für uns histo¬
risch nur dann greifbar werden, wenn sie "verschriftet" sind. Hier kommt
auch ein Unterschied für das Herangehen an die Überlieferung zum Aus¬
druck: Sowohl die Sprachen des Altertums und des Mittelalters als auch
die Schriftsprachen der Gegenwart begegnen immer in mehr oder weniger
normierter Gestalt. Anders verhält es sich mit den gesprochenen "Dia¬
lekten" - seien es die arabischen, äthiopischen oder neuaramäisehen (auch
um das heute gesprochene Hebräisch werden sich irgendwann Dia¬
lektologen bemühen müssen) -, die Gegenstand der Feldforschung sind.
Die Situation ist übrigens der der Mundartforscher in Europa vergleichbar.
Möglicherweise kann auch für das nur durch Namen bekannte "Amurri¬
tische" des ausgehenden dritten und frühen zweiten Jahrtausends mit einer
vergleichbaren Situation gerechnet werden. Vielleicht erklärt das auch,
warum es gelegenthch so erscheint, als lägen hier verschiedene semitische
"Sprachen" vor. Handelt es sich dabei nur um Differenzen innerhalb der Spannbreite eines "dialeet clusters"? U.E. ist die Schriftlichkeit - und das
heißt Bindung an eine Schreibertradition, die im Altertum andererseits von
der Existenz politischer Machteinheiten nicht zu trennen ist - ein ganz
wichtiger Faktor beim Bemühen, Sprachen gegeneinander abzugrenzen.
'5 G. GARBINI: Le lingue semiliche. Studi di storia linguistica. Neapel 1 972, 2. (über- arb. und erweit.) Aufl. 1984, besonders Kap. 2 und 3.
16 So A. VAN SELMS in: BiOr 31 (1974), S. 239 f., in der Besprechung der Ausgabe von 1972 (o. Anm. 15).
l'' S. I.M. DIAKONOFF 1988 (o. Anm. 3), S. 24 mit weiterer Literatur.
18 Vgl. G. GARBINI in: La lingua di Ebla (o. Anm. 2), S. 76.
Gibt es Wege aus dem Dilemma dieser unterschiedlichen und sich teil¬
weise ausschließenden Lösungsversuche? Thesenartig seien einige Über¬
legungen zur Diskussion gestellt:
1. Bei der Untersuchung sprachlicher Sachverhalte sollten ausschlie߬
lich linguistische Kriterien Grundlage der Betrachtung sein. Obwohl dar¬
über theoredsch weitgehend Einmütigkeit besteht, wird dies in der Praxis
nicht immer berücksichdgt. Historische und geographische Gesichts¬
punkte können nur insoweit einbezogen werden, als sie für uns die
Bedingungen der Überlieferung bestimmen. Anders gesagt: Die einzelnen
Idiome - das gilt besonders für die nur schriftlich auf uns gekommene
Auswahl aus dem Altertum und dem Mittelalter - lassen sich zwar allein in
dieser Weise in Raum und Zeit fixieren, aber weder die Region, in der eine
Sprache oder ein Dialekt verbreitet ist, noch das politisch-soziologische
Umfeld bestimmen die Ausprägung der vorliegenden Sprachform (mit
Ausnahme der Lexik). Das heißt: Wenn Sprachen etwa in einer gewissen
Region Veränderungen erfahren - z.B. Wortstellung oder Verlust der
Laryngale im Akkadischen unter sumerischem Einfluß -, so ist dies nicht
den polidschen Gegebenheiten zu danken, sondern Ausdruck einer lin¬
guistischen Interferenz. Oder wiederum mit anderen Worten: Nicht Raum
und polidsche Situation bedingen die sprachlichen Veränderungen, son¬
dem die zwischensprachliche Kommunikation.
2. Die Unterscheidung zwischen alt- und jungsemitischen Sprach¬
formen scheint uns von gmndlegender Bedeutung zu sein. Es gibt Ausprä¬
gungen des Semitischen, die sich nach ihrer zeidichen Bezeugung deutlich
voneinander abheben, obwohl Elemente des "Altsemitischen" durchaus bis
zur Gegenwart lebendig sein können. Die Verwendung eines primär deik¬
tischen sibilantischen Elements im Personalpronomen und Kausativ in den
ältesten bezeugten Sprachen gegenüber jüngerem h scheint so durchaus als
Merkmal dieser Stufe gelten zu können. Wenn andererseits dieses s im
Südarabischen und teilweise Äthiopischen bis heute erhalten ist, so wird
dies als Relikt zu bewerten sein. M.E. hat D.O. EDZARD in seiner Unter¬
suchung von hü'a und ^Ta'^ deudich daran erinnert, daß die Auffassung
BROCKELMANNS, hierin eine ursprüngliche Genusdifferenzierung zu
erkennen, mindestens nicht erwiesen ist. Die - zunächst sicher phone¬
tische - Entwicklung vom Sibilanten zu h ist dem gleichartigen Übergang
im Indogermanischen analog (griech. hepta, lat. septem, altindisch sapta).
3. Auch auf dem Gebiet der Morphologie, die sich bei der gegenseiti¬
gen Einwirkung von Sprachen als besonders stabil erweist, läßt sich die
19 D.O. EDZARD: "Ursemitisch" *hü'a, HVa?. In: Studia Orientalis 55 (1984), S.
249-256.
Differenzierung alt/jungsemitisch bis zu einem gewissen Grade durchzie¬
hen, z.B. beim Verbalsystem, während sich andererseits die Nominalfle¬
xion als reladv einheitlich erweist. Nur gewisse ältere Elemente, so Relikte
eines über die drei Kasus Nominativ, Genitiv, Akkusativ hinaus erwei¬
terten Systems von postpositionalen Kasus sind in den älteren Sprachen
stärker ausgeprägt als in den jüngeren, so wie diese schließlich die Des-
inentialflexion vollständig aufgeben. Wenn man will, läßt sich hier - cum
grano salis - das Prinzip einer fortschreitenden Vereinfachung erkennen.
4. Deudich ausgeprägt sind die Unterschiede zwischen alt- und jung¬
semitisch im Tempussystem des Verbs. Die Fakten sind bekannt, so daß
sie hier nicht wiederholt werden müssen. Auch das Eblaitische dürfte sich
im wesentlichen in das System des Altsemitischen einordnen lassen,
selbst, wenn es kein dem akkadischen Perfekt entsprechendes Tempus mit
infigiertem t besitzen sollte. Ähnlich wie G. Garbini^o sind wh geneigt,
die Aufgabe eines alten Tempussystems mit Präsens — Präteritum —
Stativ zugunsten eines Aspektsystems mit präfigierendem und suffigieren¬
dem Paradigma als einen grundlegenden Unterschied zu bewerten. Ob der
dafür gewählte Begriff "Amurridsierung" besonders glücklich ist, kann diskutiert werden. Dieser "Amurridsierung" unterlag dann auch das (klas¬
sische) Nordarabisch - oder das (nach anderer Terminologie) sogenannte
Zentralsemitische wurde "amurritisiert." Einige Bemerkungen zum Süd¬
arabisch-Äthiopischen weiter unten.
5. Bei der Bewertung von Isoglossen und Innovationen gelangt man
zu ganz verschiedenen Gliederungen je nach den zugrunde gelegten Krite¬
rien. Betrachtet man den gebrochenen Plural, der im Süden des semiti¬
schen Sprachgebiets vorherrscht, als entscheidend, so sind Nordarabisch,
Alt- und Neusüdarabisch sowie Äthiopisch eben "Südsemitisch" und un¬
terscheiden sich vom "Nordsemitischen" (nach älterem Sprachgebrauch,
nicht in der von W. VON SODEN nach der Entdeckung des Eblaitischen
gebrauchten Weise^i). Geht man dagegen aber vom Verbalsystem aus, so
gelangt man zu der heute vorherrschenden Konzeption des Zentralsemiti-
schen. Übrigens bringt dieser Terminus bei strenger Beachtung des Wort¬
sinns zum Ausdruck, daß das historisch zuerst in Erscheinung tretende
und als "altsemitisch" eingeordnete Akkadische, da zum peripheren Semi¬
tisch gehörig, eine sekundäre Entwicklung darstellen müßte! Das führt
letzdich zu einer Umkehrung der historischen Bezeugung. Das muß zwar
allein deshalb noch nicht falsch sein, sollte aber dennoch als Anlaß zum
Überdenken dieser Konzeption genommen werden. Schwierig ist es
^" In: La lingua di Ebla (o. Anm. 2), S. 81 f.
21 S. o. Anm. 2.
besonders, sprachgeschichdich Älteres vom Jüngeren zu trennen, wenn
verschiedene Sprachen oder Dialekte einer Region nur in rezenter Form
bekannt sind, wie etwa beim heutigen Südäthiopischen (s. anschließend).
6. Einigermaßen gesicherte Ergebnisse setzen eine klare Wertung der
Erscheinungen voraus. Das vermißt man aber z.B. bei den Postulierungen
besdmmter Erscheinungen als Innovadonen durch ROBERT HETZRON.22
Um hier ein strenges Prinzip anwenden zu können, sei eine Hierarchie von
Isoglossen in der Morphologie vorgeschlagen, wie überhaupt der Morpho¬
logie bei der Bewertung von Sprachentwicklungen als festestem Teilsy¬
stem vorrangig Beachtung geschenkt werden sollte. Gegenüber der mehr
oder minder labilen Lexik kommt dem Formenbau für die Beurteilung der
sprachgeschichdichen Stellung eines Idioms grundlegende Bedeutung zu
(auf die Phonologie, die besondere Probleme aufwirft, sei hier nicht ein¬
gegangen). So wie hinsichüich der Stabilität eine absteigende Hierarchie
Phonologie — Morphologie — Syntax — Lexikon
zu erkennen ist, so besteht innerhalb der Morphologie ebenfalls eine
absteigende Reihe
Verbalsystem — Pronominalsystem — Nominalflexion — Partikeln.
Dabei kommt u.E. der Verbalflexion, sprich dem Tempussystem, sprach¬
geschichtlich der h(jchste Stellenwert zu, während die Partikeln einerseits
der Lexik nahestehen, andererseits als Konjunktionen oder Präpositionen
die syntaktische Struktur maßgebend bestimmen. Auch im Nominalsystem
gibt es zwei Komponenten: die Flexion und die Nominalbildung, von
denen letztere ebenfalls der Lexik nahesteht, wenn nicht sogar als Teil
derselben zu betrachten ist.
7. Werden diese verschiedenen Gesichtspunkte komplex berücksich¬
tigt, so zeigt sich, daß das Stammbaumschema allein nicht ausreicht, die
überlieferten Sprachen und Dialekte in ihrem sprachgeschichtlichen Zu¬
sammenhang zu erklären. Es funktioniert eigentlich nur, wenn bestimmte
Erscheinungen isoliert als eine Art "Leitfossil" herausgegriffen werden.
Das ist u.E. auch der Grund dafür, daß die Meinungen so stark vonein¬
ander abweichen. Auf der anderen Seite gibt es Isoglossen, die quer durch
die postulierten Sprachschichten gehen, nicht nur im Lexikon. Hier darf
auch an die Phonologie erinnert werden. Man könnte solche in vielen
Fällen auf das Einwirken benachbarter Idiome zurückführen. In dieser
Weise ließen sich auch die inzwischen neu bekanntgewordenen Sprach¬
formen ohne große Schwierigkeiten als Glieder in eine geschlossene Kette
22 Typisch dafür ist die in Anm. 11 genannte Arbeit, s. dazu J. OELSNER in: OLZ 72 (1977), S. 43-46.
einfügen mit engeren Beziehungen jeweils nach zwei Seiten - im Sinne
von JOHANNES SCHMIDT und dem Schema, das BENNO LANDSBERGER
vorgeschlagen hatte.
Doch auch dabei bleiben zahlreiche Beziehungen unerklärt. Einer die
sprachgeschichdiche Entwicklung klassifizierenden Einteilung der semid¬
schen Sprachen müßte ein Modell zugrunde gelegt werden, in das sowohl
eine chronologische Gliederung als auch die zu einer Zeit und zwischen
den Perioden bestehenden räumlichen Beziehungen einbezogen sind. Ein
solches Modell wäre - wie schon früher vorgeschlagen23 - dreidimen¬
sional. Im Unterschied zu einem seinerzeit erwogenen Erklärungsversuch,
der mit stärkeren gegenseitigen Beeinflussungen auch in der Morphologie
rechnete, sind wir inzwischen überzeugt, daß sich dieses sprachliche Teil¬
system mindestens in den schriftlich fixierten Sprachen als recht stabil
erweist. Ein gegenseitiges Einwirken etwa in der Bildung von Verbalfor¬
men, wie damals für die Differenzen zwischen Altakkadisch und Altbaby¬
lonisch in Erwägung gezogen, ist kaum anzunehmen. Allerdings lassen
sich heute auch Ansätze zu einer anderen Erklärung fmden: Mehrfach ist
nach den Funden von Ebla in Erwägung gezogen worden, die Unter¬
schiede zwischen dem babylonischen und dem assyrischen Dialekt des
Akkadischen nicht als Ergebnis einer sekundären Spaltung zu verstehen,
sondem als von Anfang an existierend. Mit der vor allem von I.J. Gelb^^,
aber immer häufiger auch von anderen vertretenen Aufgliederung der
frühesten semitischen Sprachüberlieferung (so Gelbs Sprache von Mari
und Ebla neben dem "Kischidschen" und dem nachsargonischen Alt¬
akkadischen, der Beziehung des Assyrischen zum Akkadischen usw.),
ergibt sich auch ein Weg, die Entwicklung von den ältesten semitischen
Sprachformen des südlichen Mesopotamien zum Altbabylonischen neu zu
verstehen (inzwischen beginnt ja auch das "archaische" Altbabylonische
23 So im o. Anm. 1 genannten Beiuag von 1972, S. 243 f., zum folgenden s. ibid. S.
244 ff.
S. z.B. I.J. GELB: Ebla and the Kish CivUization. In: La lingua di Ebla (o. Anm.
2), S. 9-73; femer ders.: The Langiuige of Ebla in the Light of the Sourees from Ebla, Mari, and Babylonia. In: L. CAGNI (Hrsg.): Ebla 1975-1985. Aui del convegno inter- nazionale (Napoli, 9-11 ottobre 1985). Neapel 1987, S. 49-74; ders.: Mari and the Kish CivUization. In: G.D. YOUNG (Hrsg.): Mari in Retrospect. Fifty years of Mari and Mari studies. Winona Lake, Indiana 1992, S. 121-202 (bes. 4: Writing and Language of Mari in die Third Millenium B.C., S. 195 ff., 5. The Role of Marl wiihin the Frame of the Kish Civilization, S. 200-Ende). In einem nachgelassenen Manuskript GELBs sollen die Überlegungen zur Entwicklungslinie (alt)akkadisch-assyrisch weiter ausgeführt worden sein.
Gestalt anzunehmend^). Wenn man in der Mitte und zweiten Hälfte des 3.
Jt. v.Chr. in Vorderasien verschiedene Formen des Semidschen erkennen
kann, so darf man vielleicht auch diese auf ein "dialeet cluster" der Früh¬
zeit zurückführen, aus dem sich erst im Verlauf der Verschriftung, die sich
mit der Herausbildung verschiedener Machtgebilde vollzieht, Einzel-
"sprachen" herausbilden: Man übemimmt sumerische Schrift- und Verwal¬
tungspraxis und schreibt jeweils den eigenen Dialekt. Dann wäre am
Anfang gar nicht eine einzelne semidsche Sprache zu erwarten - unser
Terminus Altakkadisch wäre danach zunächst nur Zusammenfassung eines
"dialeet cluster" unter einem Begriff (erst im Akkadreich mit seiner Ver¬
waltungssprache ändert sich das). Von daher wäre auch die Bezeichnung
"Westakkadisch" für die Sprache von Ebla zu akzeptieren.^^
Schwierigkeiten bereiten immer wieder oder immer noch das Alt- und
Neusüdarabische sowie das Äthio-Semidsche. Hier erscheinen die gegen¬
seitigen Beeinflussungen einerseits, die dialektale Vielfalt andererseits be¬
sonders ausgeprägt zu sein. Wir brauchen nur an das Sabäische als
H-Sprache gegenüber den anderen altsüdarabischen Dialekten zu denken
oder an das schon genannte Personalpronomen der 3. sg. Aber auch im
Ge'ez und anderen äthiopischen Sprachen sind ähnliche Erscheinungen
verbreitet. In diesem Bereich finden sich auch altsemitische Züge vereint
mit jungsemitischen, was schon früh beobachtet wurde und zu der These
von Akkadern und Südarabern als "älterer Semitenschicht" geführt hat.^''
Auch fiir die wenigen Reste des vorklassischen Altarabisch (Lihjanisch,
Thamudisch, Safaitisch usw.)^^ ließe sich mit der Annahme einer dialek¬
talen Vielfalt auf der Arabischen Halbinsel vor der Entstehung des Islam
sicher manches erklären. Dabei wäre dann auch in Erwägung zu ziehen,
ob alle heutigen arabischen Dialekterscheinungen auf das klassische Ara-
25 Vgl. R.M. WHITING: Old Babylonian Letters from Tell Asmar. Chicago 1987
(Assyriological Studies. 22.), S. 8-21. Auf diesem Hintergrund wäre das Verhältnis des Akkadischen der Ur-III-Zeit zur älteren und jüngeren Sprache Babyloniens emeut zu prüfen.
26 Vgl. z.B. M. KREBERNIK: Die Personennamen der Ebla-Texte. Berlin 1988 (Ber¬
hner Beiü^ge zum Vorderen Orient. 7.), S. 5; B.W.W. DOMBROWSKI: "Eblaitic" = The Earliest Known Dialeet of Akkadian. In: ZDMG 138 (1988), S.21 1-235.
2' V. CHRISTIAN: Akkader und Südaraber als ältere Semitenschichte. In: Anthropos 14/15 (1919/20), S. 729-739; J. CANTINEAU: Accadien et Sudarabique. In: BSL 33 (1932), S. 175-204.
28 Ein Überblick über das erhaltene Material ist jetzt leicht zugänglich in: W. RSCHER (Hrsg.); Grurulriß der arabischen Philologie, Bd. I: Sprachwissenschaft. Wiesbaden 1982, S. 17 ff.
bisch zurückzuführen sind, oder nicht auch hier ahes Sprachgut bewahrt sein könnte.
Eine abschheßende Bemerkung. Verständnis für den Zusammenhang
der semitischen Sprachen setzt voraus, daß alle Ausprägungen dieser
Sprachfamilie - vom frühen Altertum bis zur Gegenwart - in die Unter¬
suchung einbezogen werden. Nur durch die kombinierte Betrachtung der
Ausbreitung in Raum und Zeit gelingt es, den Charakter der Sprachgmppe
adäquat zu beschreiben.^^
29 Wenn E. ULLENDORF: What is a Semilie Language. In: Orientalia NS 27 (1958), S.
65-75, mit "vorsemiüschen" Sprachstufen rechnet, so ist dieser Sachververhalt zwar anzuerkennen, aber nicht Gegenstand der Untersuchung des überiieferten Materials.
Von Rainer Voigt, Berlin
Die Sefire-Inschriften als wichtigstes Zeugnis des Altaramäischen erfor¬
dem trotz der reichen Sekundärliteratur immer wieder neue Ansätze bei der
Interpretation einzelner Textstellen und -passagen. Meiner Interpretadon
eines Abschnittes aus Sf. I A liegt die methodische Überlegung zugmnde,
daß es sich bei diesen Vertragsinschriften um Texte handelt, die sorgfäl¬
tiger und umsichtiger abgefaßt sein müssen, als dies oftmals angenommen
wird. Juristische Texte dürfen keine unklaren Stellen enthalten. Wegen der
möglichen Folgen müssen alle Einzelpunkte eindeutig und für beide Part¬
ner nachvollziehbar formuliert sein. Zur juristisch einwandfreien Formu¬
liemng gehört eine wohldurchdachte und klare Gliederung. Die scriptio
continua des Textes täuscht über seine inteme Stmkturiemng hinweg. Die
imphzierten Gliedemngsmerkmale sind indes so ausgeprägt, daß es keiner
expliziten Gliedemngsmerkmale wie Überschriften und Durchnumeriemng
von Abschnitten oder Paragraphen, wie es heute üblich ist, bedarf. Aus
der intemen Gliedemng des Textes kann man dabei wesentiiche Gesichts¬
punkte zur Beurteilung von schwierigen oder umstrittenen Stellen gewin¬
nen.
Die Textpassage Sf. I A 7-14, deren Abgrenzung innerhalb des ganzen
Vertragswerkes hier nicht vorgeführt werden kann, läßt sich unter die
Überschrift "Die Götter als Zeugen und Garanten des Vertragswerkes"
stellen. Dieser Paragraph, wie er mit Fug und Recht genannt werden kann,
besteht in syntaktischer Hinsicht aus drei durch w- miteinander verbunde¬
nen Sätzen. Die Götterliste ist dabei Teil des voranstehenden Kemsatzes:
w- 'df 'In zj gzr br-g'[jh qdm ...] (8) ...
"Diese Verträge sind es, die Bar-Ga'[jah] (feierlich) abgeschlossen hat [vor (den Göttem) A und B usw.]" - es folgt eine lange Götteriiste.
Dies ist die gängige Interpretation, über welche man leicht hinwegliest.
Keinem ist bislang aufgefallen, daß hier der Vertragspartner fehlt. Wie
man den Bund der Ehe nicht allein schließen kann, kann Bar-Ga'jah nicht
Cornelia Wunsch (Hrsg.): XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, München 8.-13.4.1991
(ZDMG-Suppl. 10). - © 1994 Franz Steiner Veriag Stuttgart