[84] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 50|
16. Dezember 2011VON SCHRÄG UNTEN
Früher
Dr. med. Thomas Böhmeke
G
elegentlich entstehen Pau- sen in der hochtaktigen Minutenmedizin, die Gelegen- heit geben, das Gespräch mit dem Patienten etwas zu dilatie- ren. So auch heute bei meinem Patienten, der einen Blick zurück in Trauer wirft. „Früher, Herr Doktor, da war eigentlich alles besser. Früher habt ihrMediziner euch noch normal ausgedrückt. Wenn es ei- nem im Oberbauch gezwackt hat, wurde man unter- sucht und bekam gesagt: Es ist ein Stein, die Gallenbla- se entzündet sich! Da wusste man, wo man dran war.
Im Krankenhaus war man dann zwar die Galle von Zimmer 13, aber das hatte ja noch ein bisschen Persön- liches, nicht wahr?“ Ja, ja, das waren noch Zeiten, als man genug Zeit hatte, mit dem Patienten zu sprechen.
„Aber dann wurde es hektischer, und ihr habt nur noch in Kürzeln gesprochen, aus meiner Galle wurde dann ein Che, Sie wissen doch, wie dieser kubanische Revo- luzzer.“ Tja, das war halt der Arbeitsverdichtung ge- schuldet, da mussten wir uns etwas kürzer fassen.
„Aber was heute abläuft, das ist ja gar nicht mehr zu verstehen. Ich war vor kurzem im Krankenhaus, und bei der Visite war ich nur noch ein Haufen Ziffern und Buchstaben!“ Nun, das ist der Moderne geschuldet, der Standardisierung, der Typisierung. „Aber ich bin kein Standardtyp, in bin ein Mensch! Was haben diese Zif- fern eigentlich zu bedeuten?“ Nun, das sind einerseits die ICD, die internationale Klassifikation der Krank- heiten, zum anderen die DRGs, die diagnosebezogenen Fallgruppen. Letztere bilden die Grundlagen für die Fallpauschalen, also die Krankenhausentgelte. „Wie, bin ich jetzt statt einem kubanischen Revoluzzer ein
Entgelt?“ Klar, was habe er sich denn gedacht?
Die Krankenhäuser sind nun mal Wirtschaftsbetriebe, vieles entscheidet sich über die Kosten, und der Erlös, also letztendlich der Gewinn, wird über die DRGs ab- gebildet. „Jetzt bin ich auch noch ein Gewinn! Das ist ja unglaublich! Ich will wieder die Galle von Zimmer 13 sein!“
Immer mit der Ruhe. Er möchte doch von dem un- glaublichen Fortschritt in der Medizin profitieren, nicht wahr? Er möchte doch die gründlichsten Diagnosen, die bestmögliche Therapie bekommen? In Anbetracht dessen ist doch dieser Zahlensalat zu verschmerzen, oder? „Na gut, wenn Sie meinen. Trotzdem sind mir die alten Ärzte mit ihren klaren Worten doch lieber. Fort- schritt ist aber auch gut. Sie, Herr Doktor, sehen ja ganz schön alt aus, aber Sie sind doch auch fortschrittlich, nicht wahr?“ Ja, natürlich, selbstverständlich. „Gut, kommen wir zu mir. Was fehlt eigentlich meinem Her- zen?“ Sie haben eine I25.10G, demzufolge Z95.5A!
„Herr Doktor, jetzt fangen Sie nicht auch noch damit an!“ Er muss sich halt entscheiden: Entweder bin ich ein alter Sack oder eine fortschrittliche Ziffer.
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.