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ie Zunahme des diagnosti- schen und therapeutischen Fortschritts hat dazu geführt, dass das Angebot an intensivmedizini- schen Leistungen sich weiterent- wickelt und wächst – dies wiederum hat eine entsprechend verstärkte Nachfrage zur Folge. Jährlich wer- den in Deutschland circa zwei Mil- lionen Menschen in etwa 21 000 in- tensivmedizinischen Betten behan- delt (1). Die Intensivmedizin macht bei einem Anteil von circa fünf Prozent der Krankenhausbetten ei- nen Anteil von circa 20 Prozent der Krankenhauskosten aus (2). Die großen Erfolge auf dem Gebiet der Intensivmedizin haben jedoch auch große Probleme gebracht. Es scheint keine Grenzen mehr zu ge- ben, und so werden heute Patienten, die noch vor einigen Jahren aus Altersgründen beziehungsweise we- gen ihrer Begleiterkrankungen ab-gelehnt wurden, ausgedehnten ope- rativen Eingriffen unterzogen, die mit einem kostenintensiven und häufig langwierigen Aufenthalt auf einer Intensivstation verbunden sind. Diese Entwicklung wirft viele ethische, juristische und auch öko- nomische Fragen auf.
Sparen in den teuersten Abteilungen
Der Druck auf die Krankenhäu- ser, ihre Finanzierungslücken zu schließen, ist enorm (3). Liegt es nicht auf der Hand, gerade die Leis- tungen der teuersten Abteilungen zu begrenzen beziehungsweise not- wendige Kapazitäten zu limitieren?
Aber wie steigert man Produktivität bei der Versorgung eines Intensiv- patienten? Eine Begrenzung teurer Therapieverfahren wäre eine Option – eine Begrenzung der Intensivbet- ten-Kapazität eine andere.
Inwieweit ist die Ausrichtung der Krankenversorgung an ökonomi- schen Maßstäben in Deutschland im intensivmedizinischen Bereich be- reits Realität? Ist Rationierung auf den Intensivstationen ein Tabuthema (4)? Um dieses brisante Thema zu erörtern, sollte anhand einer an- onymisierten Fragebogenaktion (sie- he Kasten) der Einfluss ökonomi- scher Aspekte auf Intensivstationen erfasst werden.
Vielerorts besteht immer noch die Auffassung, dass Rationierung in der Medizin inhuman und unethisch sei.
Dies spiegelt sich auch zum Teil in den Ergebnissen der Umfrage wider:
Zwar waren sich 67 Prozent der Ant- wortenden sicher, dass Rationierung im Bereich der Intensivmedizin bereits stattfindet, 52 Prozent gaben allerdings an, dass es keine Rationie- rung in der Intensivmedizin geben sollte. 59 Prozent antworteten, dass
INTENSIVMEDIZINISCHE VERSORGUNG
Rationierung ist längst Realität
Ergebnisse einer Fragebogenaktion auf deutschen Intensivstationen
Joachim Boldt, Thilo Schöllhorn
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ökonomische Entscheidungen noch nie beziehungsweise äußerst selten ihre Therapieentscheidungen beein- flusst haben, dagegen sahen 32 Pro- zent ihre therapeutischen Entschei- dungen gelegentlich und neun Pro- zent häufig durch ökonomische Umstände beeinflusst. Erstaunlich ist auch, dass ein spezielles (begrenztes) Budget für die Intensivmedizin nur
zu circa 25 Prozent vorhanden zu sein scheint. Daraus ergibt sich, dass viele immer noch der Meinung sind, dass das, was nützt, kosten darf – egal wie viel. Ethik schlägt Arithmetik.
Ärzte lehnen Rationierung ab
Rationierung wird also als Realität eingeschätzt – eine Begrenzung teurer und aufwendiger Verfahren in der Intensivmedizin wird jedoch von den allermeisten in der vorliegenden Umfrage verneint. So ist ein sehr hohes Alter (> 80 oder sogar > 90 Jahre) kein Grund zum Verweigern eines Dialyseverfahrens oder zum Nichteinsatz sehr teurer Medika- mente. Auch ein inkurables Karzi- nom wird von den meisten nicht ge- nerell als eine Kontraindikation für ein Dialyseverfahren angesehen.Wenn Rationierung als Tatsache erachtet (aber nicht gewünscht) wird, welche Form der Rationierung könn- te in der vorliegenden Umfrage ge- meint sein? Von Makroallokation spricht man, wenn die Aufteilung der Ressourcen zwischen dem Gesund- heitssektor und anderen Bereichen stattfindet, von einer Mesoallokation spricht man, wenn innerhalb des Ge- sundheitssystems die Mittel auf die verschiedenen Versorgungseinrich- tungen verteilt werden. Von einer primären Rationierung spricht man, wenn Rationierung in Form der Ver- knappung medizinischer Ressourcen stattfindet. Unter sekundärer Ratio- nierung ist dagegen die Zuteilung knapper medizinischer Güter zu ver- stehen. Diese erfolgt zwangsläufig aus der primären Rationierung, wenn letztere als implizierte Rationie- rung, das heißt unter Abwesenheit
transparenter Ausschlussregeln vor- genommen wird.
Für das Vorhandensein einer primären Rationierung spricht, dass Intensivkapazitäten in Deutschland scheinbar zu knapp bemessen sind (6). Hierüber herrscht jedoch weder Transparenz noch Nachvollziehbar- keit. Für die einzelnen Bundesländer ergibt sich laut Statistischem Bun-
desamt ein sehr unterschiedliches Bild: So variiert die Anzahl an „In- tensivbetten“ von circa 22 Betten je 100 000 Einwohner (Brandenburg, Hessen) bis zu circa 51 Betten je 100 000 Einwohner (Nordrhein- Westfalen). Ähnliches gilt für die Anzahl „intensivmedizinischer Bet- ten in intensivmedizinischen Fach- abteilungen“: Sie variiert von 2,6 Betten je 100 000 Einwohner (Nie- dersachsen) bis zu 21,8 Betten je 100 000 Einwohner (Thüringen) (7).
Unter dem Eindruck knapper Inten-
sivbetten-Kapazitäten rückt somit das Problem einer Priorisierung in den Vordergrund. Dabei ist erstaun- lich, dass circa 35 Prozent der Ant- wortenden keinerlei Kontraindikation für eine Aufnahme auf die Intensiv- station nennen – auch nicht ein in- kurables finales Grundleiden; nur für zehn Prozent ist eine Nicht- reanimationsorder ein Hindernis zur Aufnahme auf die Intensivstation.
35 Prozent der Fragebogenteilnehmer gaben an, bereits Patienten abgewie- sen zu haben, obwohl Patienten auf der Station vorhanden waren, deren intensivmedizinische Therapie als nicht sinnvoll erachtet wurde.
Als das Allheilmittel aus der Mi- sere werden immer wieder Rationa- lisierungsmaßnahmen beschworen.
Leider tabuisiert die Mehrheit der Politiker das Thema „Rationierung im Gesundheitswesen“ immer noch.
Zu unterscheiden ist aber, ob Ratio- nierung vorliegt oder lediglich ein rationaler Einsatz von Ressourcen, der nicht nur in Zeiten strenger Bud- getierung geboten ist. Auch unter in- dividual-ethischer Perspektive stellt sich häufig die Frage der Therapie- begrenzung. Eine Beendigung aller Therapiemaßnahmen in der Termi- nalphase eines Patienten wird in der Befragung zu elf Prozent befürwor- tet. Dies steht in gewissem Gegen- satz zu Empfehlungen unterschied- licher Gremien: In Deutschland be- steht ein Konsens in den Grundsät- zen der Bundesärztekammer sowie in den Leitlinien der Fachgesell- schaft für Anästhesie und Intensiv- medizin und der Fachgesellschaft für Chirurgie, dass eine Lebensverlän- gerung um jeden Preis weder ethisch noch ärztlich vertretbar ist und daher die ärztliche Verpflichtung zur Le- benserhaltung nicht unter allen Um- ständen bestehen bleibt (8). In die- sem Zusammenhang ist auch bemer- kenswert, dass 25 Prozent angaben, dass es keinerlei Kontraindikationen zur Intensivaufnahme gibt. Die Zu- teilung knapper Ressourcen erfolgt scheinbar willkürlich und intuitiv:
89 Prozent gaben an, über keine (schriftlichen) Standards zum Ein- frieren, Begrenzen und Abbrechen der Therapie zu verfügen.
Für die überwiegende Mehrzahl der Intensivmediziner der vorlie-
DIE STUDIE
Auf der Basis des Krankenhaus- adressbuches Deutschland (5) wur- den von mehr als 1 800 Einträgen 1 000 Intensivstationen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. In einer anonymisierten Fragebogenaktion wurden die Leiter der Intensiv- stationen angeschrieben. Der Frage- bogen umfasste insgesamt 25 Multiple-Choice-Fragen. Zum Teil waren Freitexteingaben als Kom- mentare möglich.
Ziel des Fragebogens war es, rasch und ohne großen Aufwand für die Befragten, den Einfluss ökono- mischer Überlegungen auf intensiv- medizinische Entscheidungsprozesse zu erfassen. 540 Fragebögen wurden zurückgesandt und aus- gewertet. Die häufigsten Antworten stammten von interdisziplinären Intensivstationen (299), gefolgt von anästhesiologischen (103) und medizinischen (83) Intensivstationen.
Unter dem Eindruck knapper Intensivbetten-Kapazitäten rückt
das Problem einer Priorisierung in den Vordergrund.
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genden Fragebogenaktion hat die frühzeitige Einbindung naher An- gehöriger in intensivmedizinische Entscheidungsprozesse einen hohen Stellenwert. Auch Patientenverfü- gungen spielen bei Entscheidungen eine sehr große Rolle. Es erhebt sich in diesem Zusammenhang die Fra- ge, ob Patienten beziehungsweise Angehörige immer offen und ehr- lich über die Erfolgsaussichten und die therapeutischen Alternativen – vor allem im Hinblick auf das Thera- pieziel intensivmedizinischer Maß- nahmen – aufgeklärt werden (8). In der Intensivmedizin geht es nicht nur um die Entscheidung, ob der Pa- tient diese oder jene Maßnahme gewollt hätte beziehungsweise Pa- tientenangehörige sie (hartnäckig) einfordern, sondern auch darum, ob ein solches Therapieangebot ärzt- licherseits erfolgen soll beziehungs- weise sinnvoll ist (8). Offene Kos- ten-Nutzen-Analysen wie zum Bei- spiel in Großbritannien werden in Deutschland (noch) nicht geführt – wie hoch ein entsprechender Richt- wert für eine „sinnvolle“ Therapie sein kann, darüber kann aber nur die Gesellschaft als Ganzes entschei- den. Sie kann weniger ausgeben als jetzt – oder mehr. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundes- ärztekammer ist überzeugt davon, dass gewichtige ethische Argumen- te für eine Priorisierung von Ge- sundheitsleistungen sprechen – auf Ebenen oberhalb der Patientenver- sorgung in Klinik und Praxis (9).
Die Fortschrittsfalle führt zu ethischen Konflikten
Ziel der Umfrage war es, in einer Istanalyse darzustellen, wie die verantwortlichen Intensivmediziner dieses Problem bewerten bezie- hungsweise damit in der täglichen Routine umgehen. Interessant wa- ren dabei einige „Nebeneffekte“. So erstaunten die telefonischen Kon- takte von verantwortlichen Intensiv- medizinern aus Krankenhäusern mit privater Trägerschaft, die ihre prin- zipielle Bereitschaft zur Teilnahme an der Fragebogenaktion bekunde- ten, aber bedauernd mitteilten, dass derartige Stellungnahmen über die Geschäftsführung laufen müssten und wenig Aussicht auf Erfolg dafür
bestünde, dass die Antworten „ge- nehmigt“ würden.
Zusammenfassend lässt sich fest- stellen, dass die finanziellen Ressour- cen einer Gesellschaft nicht unend- lich sind – auch nicht für die Intensiv- medizin. Die Grenzen des medizini- schen Fortschritts sind sicherlich noch nicht erreicht, die Grenzen der wirtschaftlichen Belastbarkeit des Gesundheitssystems hingegen bald.
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man allein mit Sparanstrengungen das Problem der steigenden Kosten in der Intensivmedizin in den Griff be- kommen kann. Fahrlässig ist es, der Öffentlichkeit immer wieder diesen Irrtum als Lösung zu präsentieren (10). Statt die unbequeme Frage zu beantworten, wie viel Intensivmedi- zin wir brauchen, haben sich Ge- sundheitsverbände und Politik still- schweigend auf eine Formel zur Ver- schleierung des Mangels verständigt:
„Das medizinisch Notwendige“, sagen unisono die Bundeskanzlerin, ihre Gesundheitsministerin, führende Oppositionspolitiker und Verbands- funktionäre, bleibe gewährleistet.
Aber was ist medizinisch notwendig?
Wenn einem Gesundheitssystem nicht ausreichend Mittel zur Verfü- gung stehen, um alle Menschen am (intensiv-)medizinischen Fortschritt unbeschränkt teilhaben zu lassen,
dann ergibt sich die Notwendigkeit einer Prioritätenbildung beziehungs- weise einer Auswahlentscheidung:
So ist eventuell der Mangel an einer ausreichenden Anzahl von Intensiv- betten ein Grund, der zur Notwen- digkeit einer Auswahlentscheidung führen wird. Rationierung im Ge- sundheitswesen scheint somit un- ausweichlich. Gerade im Bereich der Intensivmedizin wird deutlich, wie sehr wir in der Fortschrittsfalle sitzen. Auch die vorliegende Umfra- ge zeigte, dass es tatsächlich bereits Rationierung gibt – aber zumeist sehr stationsabhängig und „unter der Hand“, wie das weitestgehende Fehlen von Standards zeigt. Dies führt bei den Ärzten, die nicht mehr allein dem Willen und Wohl des ein- zelnen Patienten verpflichtet sind, sondern darüber hinaus auch eine fi- nanzielle Verantwortung tragen, zu ethischen Konflikten.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2008; 105(19): A 995–7
Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Joachim Boldt Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin
Klinikum der Stadt Ludwigshafen gGmbH Bremserstraße 79, 67063 Ludwigshafen E-Mail: BoldtJ@gmx.net
Weitere Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1908
@
Eine Beendigung aller Therapie- maßnahmen in der Terminalphase eines Patienten wird in der Befragung zu elf Prozent befürwortet.
Fotos:mauritius images
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LITERATUR
1. DIVI 2004-NEWS. 2004; 2.
2. Martin E: Sind Fortschritte in der Intensiv- medizin noch finanzierbar. J Anästh Inten- sivbehand 1998; 2: 1–9.
3. Perillieux R, Schnitzler N, Schwarting D, Yon B: Alarm: Europas Kliniken müssen Überlebensfähigkeit sichern. Eine europa- weite Studie. f&w 2006; 23: 18–21.
4. Truog RD, Brock DW, Cook DJ, Danis M, Luce JM, Rubenfeld GD, Levy MM; for the Task Force on Values, Ethics, and Ratio- ning in Critical Care (VERICC): Rationing in the intensive care unit. Crit Care Med 2006; 34: 958–63.
5. Deutsche Krankenhausadressbuch. Frei- burg: Rombach Druck- und Verlagshaus 2004.
6. Schultheiss C: Im Räderwerk implizierter Rationierung – Auswirkungen der Kosten- dämpfung im deutschen Gesundheitswe- sen. Psychoneuro 2004; 30: 221–6.
7. Boldt J: Intensivmedizin: sind die Struktu- ren und Resourcen gerecht verteilt? f&w 2007; 2: 168–73.
8. Hahn J, Mandraka F, Fröhlich G: Ethische Aspekte in der Therapie kritisch kranker Tumorpatienten. Intensivmed 2007; 44:
416–28.
9. Wiesing U: Stellungnahme der zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihrer Grenz- gebiete, Zentrale Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer zur Priorisierung me- dizinischer Leistungen im System der ge- setzlichen Krankenversicherung (GKV).
Dtsch Arztebl 2007, 104(40): A 2750.
10. Günter P: Moral in Zeiten der Rationierung.
Rote Revue 3/2002: 5–11.