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Archiv "Erfahrungen mit dem Struwwelpeter" (08.06.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

V

ersweise konnte ein älte- rer Herr, der sich daran gemacht hatte, Kinder- ängste aufzuspüren, den Struw- welpeter zitieren. Besonders die Geschichte vom Daumenlut- scher hatte ihn ungeheuer be- eindruckt.

... sei hübsch ordentlich und fromm,

bis nach Haus ich wieder komm'.

Lutsche nicht am Daumen mehr, denn der Schneider mit der Scher

haut dir alle Finger ab.

Als 76jähriger sagte er, er könne sich heute noch sehen, wie sei- ne Mutter weggegangen sei, wie er sich verlassen gefühlt habe, in seiner Suche nach Geborgen- heit den Daumen in den Mund genommen habe und dann in panischer Angst auf die Türe ge- starrt und gewartet habe, daß der benachbarte Schneider her- einstürze, ihm den Daumen und gleich auch alle andern Finger abschneide, damit er ja nicht in Versuchung komme, wieder zu lutschen. Er sei sich bedroht und furchtbar allein vorgekom- men, und diese Verse hätten ihn ständig bombardiert.

Sehr viel später habe er seiner Mutter Vorwürfe gemacht, daß sie ihm dieses Kinderbuch, das in ihm so viele Ängste und eine Grundunsicherheit dem Leben gegenüber mit ausgelöst habe, überhaupt gegeben habe und ihm immer wieder daraus vorge- lesen habe. Die Antwort der Mutter war: „Dieses Buch hat doch ein Arzt geschrieben, der muß doch wissen, was für Kin- der gut ist." Die Mutter hat nicht die emotionelle Reaktion des Kindes aufgenommen, sondern vertrauensvoll weitergegeben,

Triumph eines Antihelden: Wüß- te der selige Hoff- mann, daß heute die Haarmode bis hoch nach Stockholm sei- ner brutalen Di- daktik contra bietet, würden ihm wohl nicht minder die Haa- re zu Berge ste- hen Foto: dpa

was eine Autorität ihr angeboten hat. Vielleicht stand diese Mut- ter nicht allein mit ihrem Verhal- ten. Möglicherweise zeigt sich

hier ein erster Grund für das Struwwelpeter-Phänomen: Nicht nur gehen die Reime so gut ins Gedächtnis ein, auch sind sie Verena Kast

Erfahrungen

mit dem Struwwelpeter

Heinrich Hoffmann, dessen Geburtstag am 13. Juni genau 175 Jahre zurückliegen wird, kann sich rühmen, das nach der Bi- bel in Deutschland erfolgreichste Buch verfaßt und gezeich- net zu haben. Ruhm wird ihm auch von seiten der Medizin zu- teil. Von 1851 bis 1888 leitete er die Irrenanstalt Frankfurt am

Main und richtete dort erstmals eine Abteilung für seelisch gestörte Kinder ein. Der Titel eines Begründers der Jugend- psychiatrie, den Meyers Lexikon hieraus folgert, wird jedoch hart geprüft von den Ängsten, die Hoffmanns „Struwwelpe- ter"-Buch seit 1847 bei Kindern verursacht. que

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 23 vom 8. Juni 1984 (79) 1875

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Struwwelpeter

von einem Arzt geschrieben, und der muß es ja wissen ...

Furcht statt Vorsicht

Aber nicht nur der Daumenlut- scher löst Ängste aus: „Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug" beeindruckt kleine- re Kinder ungeheuer; daß we- gen eines angebrannten Streichholzes gleich das ganze Mädchen verbrennt, ist von ei- ner ungeheuren Brutalität, die im Bilde noch dadurch unter- strichen wird, daß außer den Tränenbächen der Katzen — un- versengt und wie neu — die ro- ten Schuhe des Mädchens üb- rig geblieben sind. Sicher, Kin- der müssen vor dem Feuer ge- warnt werden, aber gleich so?

Zwei Frauen sprachen im Laufe der Therapie im Zusammen- hang mit Ängsten vom Paulin- chen. Die eine erzählte, daß sie immer schon geschrien habe, wenn sich bloß eine Katze nä- herte, weil sie die Katze mit Feuer und dem Verbrennen des Paulinchens in Zusammenhang brachte; die andere erzählte, sie hätte immer einmal mit Zündhölzern gespielt, um zu er- fahren, ob wirklich stimme, was in dem Buch steht. Entweder wirkt die beabsichtigte Er- schreckung so, daß die Kinder in Angst erstarren, oder das Ge- genteil tritt ein: Das Kind pro- biert aus, wovon es abgehalten werden sollte.

Unterdessen hat sich ja die Wertung des Struwwelpeters sehr gewandelt: Wird heute je- mand Struwwelpeter genannt, dann tönt meistens etwas Lie- bevolles mit, keineswegs das verachtende Bloßstellen, wie wir es im Original-Struwwelpe- ter noch haben.

Ein Mann, der immer krause Haare hatte — und auch viele krause Phantasien unter diesem Haarschopf —, erinnerte sich im Zusammenhang mit einem Er-

lebnis, als er sich bloßgestellt fühlte, daran, wie immer wieder während seiner Schulzeit Mit- schüler im Chor ihm gegenüber den Struwwelpeter rezitierten:

Sieh einmal, hier steht er, Pfui der Struwwelpeter!

An den Händen beiden Ließ er sich nicht schneiden Seine Nägel fast ein Jahr;

Kämmen ließ er nicht sein Haar.

Pfui! ruft da ein jeder, Garst'ger Struwwelpeter!

Er fühlte sich ausgelacht, bloß- gestellt, verkannt und zog sich dann mit einigen Schulkamera- den zurück, versuchte, ein neu- es Gedicht zu machen, das ebenso eingängig sein sollte, — schaffte es natürlich nicht. 40 Jahre nach diesem Erlebnis denkt er noch an den Struwwel- peter, wenn er bloßgestellt wird.

Natürlich ließ und läßt sich nicht jedes Kind so sehr beeindruk- ken von diesen Versen und Bil- dern. So werden die Fingernä- gel des Struwwelpeters von Kin- dern schon längst als „unreali- stisch" abgelehnt. Dennoch fra- ge ich mich, ob eine Generation sich die Haare unter anderem auch deshalb wachsen lassen mußte, um diesem Ideal der im- mer geschnittenen Haare, der freien Hälse — und symbolisch wohl auch der geraden, saube- ren Gedankengänge, die eben nichts Krauses an sich haben sollten —, das in Hoffmanns Kin- derbuch dargestellt ist, eine neue Lebensanschauung ent- gegenzusetzen?

Das ideale Kind

Das Bild des Ideal-Kindes, das uns Hoffmann vermittelt, ist doch erschreckend: Suppe es- sen soll es, leise sein beim Spielen, sich nicht von Mutters Hand wegreißen, Haare käm- men, Nägel schneiden, nicht wüten und nicht sadistisch sein, nicht mit Feuer spielen, nicht

auslachen, nicht Daumen lut- schen, nicht zappeln, essen, was vorgesetzt wird, nicht in die Luft schauen und nicht bei stür- mischem Wetter spazierenge- hen. Was da in lustigen sich fast von selbst einprägenden Ver- sen und in durchaus lebendigen Abbildungen ans Kind herange- tragen wird, ist ein Idealbild des eingeschränkten Kindes, des- sen Autonomie gebremst, des- sen Bewegungsdrang gelähmt wird. Gehorsam ist die größte Tugend, wenn man nicht gehor- sam ist, dann wird man dra- stisch bestraft. Wenn man aber gehorsam ist und diese Idealfor- derungen erfüllt, wird man ein ängstliches, unfrohes Kind.

Das kann wohl nicht ein Ziel der Erziehung sein.

Sadistische Strafen

Der Struwwelpeter ist auch noch doppelbödig: So wird das Kind am Beispiel des bösen Friede- richs durchaus gewarnt davor, selber sadistisch und zerstöre-

risch zu sein, wenige Seiten dar- auf erweist sich der Schneider beim Daumenlutscher durchaus als sadistisch, auch das Ver- brennen des Paulinchens bei le- bendigem Leibe kann nicht an- ders als sadistisch genannt wer- den. Grausam sein dürfen die Erwachsenen — zum Wohle des Kindes —, die Kinder nicht. Die Verse weisen auf einen sadisti- schen Erziehungsstil hin, die Kinder haben masochistisch zu ertragen und sich einschränken zu lassen. Statt daß wilde Triebe etwa beschnitten werden — und darum kommt keine Erziehung herum —, wird hier Anleitung da- zu gegeben, wie die guten Trie- be zu schneiden sind.

So stellt sich denn die Frage:

Haben wir alle ein Bedürfnis nach sadistischem Beherrschen der Kinder, fühlen wir uns von ihnen so bedroht, daß wir zu so brutalen Geschichten greifen, die Erziehungshilfe sein soll-

1876 (801 Heft 23 vom 8. Juni 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Struwwelpeter

ten? Haben wir vielleicht sogar so sehr Angst, daß unsere Kin- der uns eines Tages entthronen werden, daß wir sie beizeiten klein halten? (Es wird nichts nüt- zen, die Zukunft gehört doch den Kindern.)

Da gilt es nun allerdings einzu- schränken: Der Struwwelpeter ist nicht mehr in vielen Kinder- stuben anzutreffen, schon gar nicht bei Kleinkindern, für die er geschrieben ist. Wo er gelesen wird, wird er auch nicht mehr einfach als „Autorität" erkannt, Eltern sprechen mit den Kindern über diese Geschichte, und das tun sie sicher nicht nur heute, das haben sie bestimmt auch schon früher getan.

Und doch wird er gelesen ...

Soweit ich es übersehen kann, findet heute eher eine Ausein- andersetzung der Generation mit dem Struwwelpeter statt, de- ren schönstes und oft auch fast einziges Kinderbuch der Struw- welpeter war. In der Auseinan- dersetzung mit dem Struwwel- peter geht eine Auseinanderset- zung mit diesem darin vertrete- nen Erziehungsstil einher, der die Ängste des Kindes über- haupt nicht ernst nimmt, etwa dann, wenn das Kind verlassen wird, auch noch von ihm erwar- tet, daß es eben keine Zeichen der Verlassenheit zeigt (Dau- menlutschen), sondern sich zu- sammenreißt und kontrolliert.

Nicht alle Geschichten im Struwwelpeter sind sadistisch, ein etwas abgemilderter Sadis- mus kann uns ja durchaus auch erheitern. Hier mag ein weiterer Grund für die große Bekanntheit dieses Buches sein: Hoffmann hat natürlich mit großer Treffsi- cherheit einige wesentliche Konfliktpunkte zwischen Eltern und Kindern herausgegriffen und zum Teil für Situationen ei- nen Namen geschaffen, die heu- te in unseren alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen

sind: So kennen wir alle den Suppen-Kaspar, wobei heute je- des Kind weiß, daß man in fünf Tagen noch lange nicht tot ist, wenn man keine Suppe ißt; der Zappel-Philipp ist uns auch zu einem Begriff geworden und dem Hans-guck-in-die-Luft hat Hoffmann auch neues Leben eingehaucht.

Hoffmanns Vergeltungsschlag Hoffmann hat es verstanden, die Seiten von Kindern aufzuzeigen, die wir lieber verbergen. Wenn

Jahrestagung

der Schriftsteller-Ärzte

Im Rahmen der Jahresta- gung des Bundesverban- des Deutscher Schriftstel- ler-Ärzte (20. bis 24. Juni 1984 im Hotel am Hoch- wald in Bad Nauheim) wird am 23. Juni der Literatur- preis der Bundesärztekam- mer durch deren Präsiden- ten Dr. Karsten Vilmar ver- liehen. Auskunft erteilt die Geschäftsstelle des Ver- bandes: Cretzschmarstra- ße 4, 6000 Frankfurt, Tele- fon: 06 11/7 94 81 47.

sie dann, schön aufgezeichnet und kommentiert, in einem Buch schwarz auf weiß und far- big gedruckt sind, sind wir ganz froh: einerseits haben wir dann das Bewußtsein, uns mit diesen Seiten doch auseinanderzuset- zen, andererseits können wir sie auch von uns weg auf die Bilder- buchgestalten projizieren. An ihnen können wir probehalber durchspielen, was passiert, wenn. Hoffmann tat das in witzi- ger Form, in Versen, die uns ganz leicht eingehen. Nur die Moral von der Geschicht paßt mir nicht.

Wenn ein Kind dieses Bilder- buch sieht, dann fühlt es sich in die verschiedenen Kinder ein.

Mit ihnen wird es ungehorsam,

mit ihnen wird es bestraft — und wie, und dadurch wird es abge- schreckt. Das zu erreichen, war die Absicht von Hoffmann, wie im Nachwort zu lesen ist. Die Chance, daß ein Kind sich freut darüber, daß es nicht so ist wie die Kinder im Bilderbuch, ist eher klein. Und möchten wir die- se Art des Sich-Absetzens von den Ungehorsamen kultivieren?

Gerade da frage ich mich aber, ob das ein Grund für das Wie- derauflegen dieses Kinderbu- ches ist: Freuen wir uns dar- über, daß wir Heutigen nicht mehr so sadistische Bestra- fungsphantasien in die Kinder- erziehung tragen? Freuen wir uns darüber, daß wir doch etwas

„besser" geworden sind? Oder sind wir klammheimlich doch immer noch so gefangen in die- ser Straf- und Vergeltungsmen- talität, daß es uns ganz gut paßt, wenn wir in so lockerer Form diese Mentalität wieder einmal befriedigen müssen? Denn ei- nes scheint mir klar zu sein: Wer selber solche Ängste ausgestan- den hat, wer mit so rigorosen Strafen bedroht worden ist, wird es schwer haben, ein anderes als ein Vergeltungsverhalten ge- genüber Schwächeren einzu- nehmen.

Ich hoffe aber doch sehr, daß andere Gründe noch maßgeb- licher am Struwwelpeter-Phäno- men beteiligt sind: Etwa der ein- fache Grund, daß ein Buch, das schon bekannt ist, große Chan- cen hat, noch bekannter zu wer- den, besonders wenn man auch mit etwas Nostalgie rechnen kann. Auch wird ersichtlich, daß Hoffmann als liebevoller Vater mit größter Mühe für einen Sohn das Weihnachtsgeschenk (das war der Struwwelpeter ur- sprünglich) geschrieben und gezeichnet hat — bloß aus seiner Vergeltungsmentalität konnte er nicht heraus.

Anschrift der Verfasserin:

Priv.-Doz. Dr. phil. Verena Kast Hirtenstraße 15

CH-9010 St. Gallen 1878 (82) Heft 23 vom 8. Juni 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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