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Archiv "„Produktive Verwirrung“ unter den Gesundheitserziehern" (15.01.1982)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

heraus: sie ist die Quelle geistiger Störungen." (5). Der Frage, wie gei- stige Störungen überhaupt entste- hen konnten, da deren vermeintli- che Ursache, die wissenschaftliche Psychiatrie, nicht zu allen Zeiten be- stand, schenkte Basaglia keine Auf- merksamkeit. Wie dem auch sei, überzeugte Marxisten lehnen Refor- men ab, da hierdurch nicht die ei- gentliche Krankheit, die kapitalisti- sche Gesellschaft, beseitigt, son- dern sie nach ihrer Meinung eher noch gestützt wird (6). Auch Basa- glia bildete da keine Ausnahme. Er führte in Triest in praxi eine Reform der Psychiatrie durch, die er in sei- ner marxistischen Theorie ablehnte.

Er bezeichnete seine Reformen des- halb als „widersprüchlich". (7). „Die Institution wird von uns gleichzeitig negiert und verwaltet; die Krankheit wird von uns gleichzeitig in Paren- these gesetzt und behandelt; der Therapeutische Akt wird von uns gleichzeitig abgelehnt und durchge- führt."

Hätte Basaglia nicht, folgerichtig ge- dacht, Reformen ohne revolutionäre Ziele gänzlich ablehnen müssen? In der Tat war das Ziel von Basaglia nicht eine moderne Psychiatrie, son- dern Gesellschaftsveränderung, Re- volution. Zwei Zitate von ihm bele- gen dies: „So können sich die hoch- kapitalistischen Länder dank der großen technischen Möglichkeiten, über die sie verfügen, den Luxus ei- ner modernen Psychiatrie leisten. Es handelt sich aber meist um bloße formale Veränderungen, die unter dem hochtrabenden Anspruch von Reformen lediglich die bestehenden Maßnahmen zur sozialen Kontrolle verstärken. Die praktischen Verän- derungen müssen sich auf gesamt- gesellschaftliche Veränderungen gründen." (8). „Nur eine Revolution kann dies ändern; aber diesen Weg können wir aus verschiedenen Gründen nicht gehen." (9). Dieses große Ziel Basaglias mag uns über den Widerspruch hinwegtrösten, daß er Menschen, die er als gesund und unterdrückt bezeichnete, mit Psychopharmaka behandelte (10).

Dieser paradoxe Sachverhalt, in der gängigen antipsychiatrischen Ter- minologie ausgedrückt, würde in et-

Psychiatrie in Italien

wa so klingen: „Der italienische Psychiatrie-Reformer Basaglia, Be- gründer des Therapieprinzips Frei- heit heilt, verwendete die klassi- schen Unterdrückungsinstrumente der Psychiatrie (,Pillenkeule` und ,chemische Zwangsjacke') bei ge- sunden Proletariern, um das Ver- trauen der Unterdrückten für ihre Befreiung zu gewinnen."

Basaglias vehementes Engagement führte ihn teilweise zu paradoxen Widersprüchen. Einige italienische Antipsychiater seiner Bewegung

„demokratische Psychiatrie" be- zeichneten dergleichen deshalb auch als Widerspruch „marxistische Diagnose — bürgerliche Therapie", und sie forderten konsequente mar- xistische Therapien wie Revolution und politische Agitationen (11, 12).

Die Widersprüche zwischen seiner Psychiatrie-Praxis und seiner Psych- iatrie-Ideologie blieben unauflösbar.

Basaglia war mehr ein Mann der Tat denn der Reflexion.

• Wird fortgesetzt

Quellenangaben beim Verfasser

Weiterführende Literatur

Originalliteratur von Prof. Franco Basaglia (3, 4, 5). Prof. Asmus Finzen verfaßte einen Nach-

ruf (27). Einen Überblick über die Antipsychia- trie vom antipsychiatrischen Standpunkt aus gibt Dr. J. Bopp (6), aus psychiatrischer Sicht Prof. Kisker (26). Der wissenschaftliche Stand der Psychiatrie wird sehr gut und allgemein- verständlich von Prof. K. Wing dargestellt (28);

zum Problem der Anstalten, ihrer Auflösung und der Psychiatrie-Reform empfiehlt sich die WHO-Tagung (22), ein Übersichtsartikel von Dr. H. Kunze (18) und der Tagungsbericht der

„Aktion Psychisch Kranke" zur Psychiatrie-En- quöte (25).

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Hans W. Moises Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Postfach 5970 6800 Mannheim 1

TAGUNGSBERICHT

„Produktive Verwirrung"

unter den Gesundheits- erziehern

Informationstagung zum Thema: „Gesundheitserziehung und Verhaltensprobleme bei Jugendlichen"

Erziehung als regulierende „Fuch- tel", das lehnten alle ab: Pädago- gen, Psychologen und Ärzte, die Mit- te Oktober in Bonn zu einer Tagung der Bundesvereinigung für Gesund- heitserziehung eingeladen waren.

Die Informationstagung lief unter dem Thema „Gesundheitserziehung und Verhaltensprobleme bei Ju- gendlichen". Auch waren sich die Teilnehmer einig, daß Erziehung be- reits in frühester Jugend die Wei- chen für die Persönlichkeitsentwick- lung eines Menschen stellt. Eine Verhaltensstörung wie beispielswei- se die Drogensucht sei Ergebnis ei- ner falschen Erziehung und anderer ungünstiger Umwelteinflüsse; dazu zähle auch eine falsche Gesund- heitserziehung. Folglich wurden die Experten nach den Verbesserungs- möglichkeiten der bestehenden Er- ziehungsbedingungen gefragt: Was kann der Staat, was können Multipli- katoren und was kann der einzelne Erzieher tun? Dabei zeigten sich al- lerdings Differenzen über Sinn und Zweck des Erziehens.

Frau Dr. Neumeister sah in erster Linie ein Informationsdefizit bei El- tern, Lehrern und Ärzten in Erzie- hungsfragen. Sie wünschte sich deshalb — als Ergänzung bereits be- währter Einrichtungen (beispiels- weise „Elternbriefe", Erziehungsbe- ratungsstellen und Selbstinitiativen)

— die Einrichtung eines neuen Beru- fes. Seine Aufgabe solle es sein, jun- ge Mütter und Väter bei allen Proble- men mit Kleinkindern — nicht nur in Ausgabe KB

DEUTSCHES ARZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 2 vom 15. Januar 1982

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Gesundheitserziehung

Ernährungsfragen — zu betreuen.

Die herkömmlichen Berufe, so führ- te sie weiter aus, hätten ihre soziale Komponente eingebüßt: Die Hebam- me habe beispielsweise früher eine enge Beziehung zu „ihren" Familien gepflegt und dabei auch eine Rolle in der Kleinkindererziehung ge- spielt; im Krankenhaus sei heute ein Kontakt in dieser Form unmöglich geworden. Ähnliches sei beim Arzt zu beobachten: Bei einer rein funk- tionalen Beziehung Arzt—Patient könne oft von „Sprech"-Zimmer des Arztes keine Rede sein. Unter ande- rem sei daran eine unzureichende Ausbildung des Arztes schuld. Ein Wochen-Seminar Sozialpsychologie im vorklinischen Bereich reiche nicht aus, um das erforderliche Ein- fühlungsvermögen in die psychi- sche Lage des Patienten zu gewin- nen. Frau Neumeister forderte daher eine Entrümpelung der ärztlichen Ausbildung von bloßer Wissensan- häufung zugunsten einer sorgfälti- geren psychologischen Vorberei- tung auf das Patientengespräch.

Dr. Heinz Hug, Psychologe an einem Züricher psychologischen Behand- lungszentrum, ergänzte, das psy- chologische Angebot werde meist auch zu spät genutzt. Viele Eltern würden sich erst dann an eine Erziehungsberatungsstelle wenden, wenn bereits schwerwiegende Ver- haltensstörungen beim Kind auftre- ten. Es gelte, die Öffentlichkeit bes- ser über die prophylaktischen Mög- lichkeiten aufzuklären und dadurch die Scheu vor einer Beratungsstelle zu nehmen. Allerdings dürfe dabei auch die Schichtenspezifität nicht vergessen werden, war der Einwand von Frau Dr. Parow-Souchon, Vor- standsmitglied der Bundesvereini- gung. In erster Linie würden die Be- ratungsstellen von Eltern aufge- sucht, deren Bildungsniveau eher über dem allgemeinen Durchschnitt liege.

Ganz im Gegensatz dazu meinte Dr.

Hubertus von Schoenebeck von der

„Kinderrechtsbewegung", daß Er- ziehung schädlich für die Entwick- lung eines Kindes sei. Statt Erzie- hungsanspruch forderte er geschwi- sterliche Solidarität mit dem Kind.

Dies gebe dem Kind die Chance, sei- ne eigene Potenz und Kreativität zu entwickeln. Was seine Analyse des Erziehungsmotives betraf, stimmte ihm Professor Dr. Hartwig Zander aus Gießen zu. Meist seien eher Machtgelüste im Spiel als selbstlo- ses Helfen-Wollen der Erwachsenen.

Eine der Ursachen für Verhaltens- störungen bei Jugendlichen liege daher im Machtmißbrauch der Ex- perten. Jugendliche könnten sich am besten selbst helfen durch Grün- dung einer Selbstinitiativgruppe.

Ohne die Mitwirkung eines Pädago- gen oder Psychologen bestünde im Gruppengespräch die Chance, durch den Vergleich unterschiedli- cher Symptome auf gemeinsame Ur- sachen zu stoßen und gemeinsam die Probleme anzugehen.

Die Tagung verlief in angeregter At- mosphäre; daran hatte die Bundes- vereinigung mit der sorgfältigen Auswahl der Referenten sicher ihren Anteil. Angesichts der großen Mei- nungspalette resümierte ein Teil- nehmer zufrieden: „Eine produktive Verwirrung der Standpunkte." ck

Keine Leberschäden durch Lebertran

Nach Pressemeldungen soll Leber- tran chlorierte Kohlenwasserstoffe (DDT, DDE und DDD) enthalten und deshalb, insbesondere bei Kindern, angeblich schwere Leberschäden verursachen.

Wie der parlamentarische Staatsse- kretär Karl Zander vom Bundesge- sundheitsministerium auf eine Frage des CSU-Bundestagsabgeordneten Klaus Hartmann im Bundestag mit- teilte, kann die Bundesregierung solche Pressemeldungen nicht be- stätigen. Den Pressemeldungen lie- ge nur ein einziger Befund aus dem Jahre 1976 zugrunde, wonach bei der Untersuchung einer einzelnen Probe Lebertran tatsächlich erhöhte Werte von chlorierten Kohlenwas- serstoffen nachgewiesen worden seien. HO

TAGUNGSBERICHT

Therapiestudien — ein Feld

interdisziplinärer Zusammenarbeit

26. Jahrestagung der

Gesellschaft für medizinische Dokumentation, Informatik und Statistik

Das Thema „Therapiestudien", das die GMDS auf ihrer Jahrestagung 1981 in Gießen behandelte, war durchaus nicht so speziell angelegt, wie es auf den ersten Blick er- scheint. Den allgemeinen Bezug er- hält es durch die Zielsetzung der Therapiestudien — die effiziente The- rapie —, welche unter dem Postulat der verbesserten Patientenversor- gung und Kostensenkung im Ge- sundheitswesen steht.

Für die Medizin war die GMDS-Ta- gung noch aus einem weiteren Grund bedeutsam. Zeigte sie doch ein beachtenswertes Gebiet interdis- ziplinärer Zusammenarbeit auf:

Pharmakologen, Kliniker, Biometri- ker, Biostatistiker bemühen sich gleichermaßen darum, in Langzeit- studien die Wirksamkeit von Arznei- mitteln festzustellen. Es sind gerade die (randomisierten) kontrollierten Therapiestudien, die den Biometri- ker, der sich mit ihrer Versuchspla- nung und Methodik auseinander- setzt, vor ethische und juristische Probleme stellen. Bei den genann- ten Studien erhält jeder Patient, der aus einer genau definierten Grund- gesamtheit stammt, die Chance, den Behandlungsverfahren nach Zufall (Randomisierung) zugeteilt zu wer- den (dazu H. J. Jesdinsky, Memoran- dum zur Planung und Durchführung kontrollierter klinischer Therapie- studien, Schriftenreihe der GMDS e. V. 1, Stuttgart/New York 1978).

Während der 26. Jahrestagung der Gesellschaft wurden in mehr als 80 Vorträgen deutscher und ausländi- scher Wissenschaftler methodische, 84 Heft 2 vom 15. Januar 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A/B

Referenzen

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