Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 14⏐⏐6. April 2007 A921
P O L I T I K
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uletzt erschütterte der Fall ei- nes neugeborenen Mädchens, das in Hamburg aus dem zehnten Stock eines Hochhauses geworfen und nur noch tot geborgen werden konnte, die Gemüter. Statistisch ge- sehen, haben die Fälle von Kindes- misshandlung und -vernachlässi- gung nicht zugenommen – das The- ma ist aber verstärkt in die Öffent- lichkeit gerückt.Auch die Politik wird aktiv und will Kinder wirksamer vor Miss- handlung schützen. Ein gemeinsa- mer Antrag von Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD „Gesundes Aufwachsen ermöglichen, Kinder besser schützen, Risikofamilien hel- fen“ (Drucksache 16/4604) und ein fast deckungsgleicher Antrag der FDP (16/4415) wurden Ende März im Deutschen Bundestag diskutiert.
Die Abgeordneten fordern die Bundesregierung dazu auf, im Rah- men des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ dafür Sorge zu tragen, dass frühe, auf- suchende Hilfen für „Familien in Belastungssituationen“ entwickelt werden. Ziel dieses vom Bundes- familienministerium entwickelten Programms ist es, Risiken für Kin- der möglichst frühzeitig zu erken- nen und die Erziehungskompetenz der Eltern zu verbessern. Dazu sol- len das Gesundheitssystem und die Kinder- und Jugendhilfe systema- tisch miteinander verzahnt werden.
Der Bund stellt für das Programm zehn Millionen Euro bereit. Die ers- ten Modellprojekte in Kooperation mit den Ländern sind bereits gestar- tet und werden wissenschaftlich evaluiert. So zum Beispiel „Pro Kind“ in Niedersachsen: Erstge- bärende Schwangere mit sozialen Problemen, die minderjährig sind, keine Schul- oder Berufsausbildung haben oder Gewalt in der Familie
erleben mussten, werden zu Hause von Hebammen und Sozialpädago- ginnen begleitet.
Diana Golze, Abgeordnete der Linken, kritisierte in der Bundes- tagsdebatte „die massiven Kürzun- gen in der Kinder- und Jugendhilfe“.
Den Beratungsstellen fehlten die Mittel, um qualifizierte Hilfen an- zubieten. Länder und Kommunen müssten finanziell in die Lage ver- setzt werden, eine handlungsfähige Kinder- und Jugendhilfe vorzuhalten.
Weiter forderten die Abgeordne- ten Maßnahmen und Anreize, um die Teilnahme an den Kinder-Vor- sorgeuntersuchungen (U 1 bis U 9) zu verbessern. Verpflichtende „Us“, wie in Entschließungsanträgen der Länder Hessen und Saarland ver- langt, waren im November 2006
zunächst auf Eis gelegt worden.
Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) ist dagegen:
Pflichtvorsorge sei „kein Allheil- mittel“. Drei bis vier Prozent der Kinder, vor allem aus sozialen Brennpunkten, nehmen nicht daran teil. Die Abgeordneten verlangen von der Regierung, auf ein verbind- liches Einladungswesen zu den Vorsorgeuntersuchungen unter Nut- zung der kommunalen Meldedaten hinzuwirken. „Der Datenschutz darf kein Argument sein, um den Schutz von Kindern zu verhindern“, beton- te Kerstin Griese (SPD). Lägen In- formationen darüber vor, dass ein Kind wiederholt nicht an der Vor- sorge teilgenommen habe, solle der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) aufsuchend tätig werden und über- prüfen, ob das Kindeswohl gefähr- det sei. Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte hält ver- bindliche Vorsorgeuntersuchungen für notwendig. Der ÖGD und die Ju- gendhilfe müssten jedoch finanziell und personell in die Lage versetzt werden, die Familien, die sich ent- ziehen, aufzusuchen und Hilfe an- zubieten.
Für die zügige Anpassung der Kinder-Richtlinien des Gemeinsa- men Bundesausschusses (G-BA) sprachen sich die Abgeordneten ebenfalls aus. Der Unterausschuss Prävention des G-BA ist zurzeit da- bei, diese mit Blick auf ein Scree- ning auf Kindesmisshandlung so- wie hinsichtlich Frequenz und psy- chosozialer Inhalte in den Vorsorge- untersuchungen zu überarbeiten.
Schließlich soll die Regierung darauf hinwirken, dass in der Aus- bildung der beteiligten Berufsgrup- pen verankert wird, Kindesmiss- handlung zu erkennen und richtig zu reagieren. Die Deutsche Gesell- schaft gegen Kindesmisshandlung und Vernachlässigung beklagte bei einer Fortbildungsveranstaltung in Kassel, dass auch Ärzte Kindes- misshandlung häufig übersehen.
Verantwortlich dafür seien fehlende oder unzureichende medizinisch- diagnostische Inhalte im Studium und in der Weiterbildung. Dadurch werde die Effizienz von Vorsorge- untersuchungen infrage gestellt. I Petra Bühring
PRÄVENTION VON KINDESMISSHANDLUNG
Keine einfachen Lösungen
Regierungskoalition und FDP im Bundestag fordern in zwei Anträgen, Kinder besser zu schützen und Risikofamilien zu unterstützen.
Tod eines Neuge- borenen:Das Mäd- chen wurde aus dem zehnten Stock dieses Hochhauses geworfen.
Foto:KEYSTONE