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Archiv "Die Puppen und wir" (17.04.1980)

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Hans Bellmer: Die Puppe (Konstruktionsdokument), abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Frau Gerhardt aus: Hans Bellmer, „Die Puppe'', Gerhardt Verlag, Berlin, 1962

FEUILLETON

Die Puppe ist ein Archetypus*), also eine leitbildgebende Urerfahrung des Menschlichen mit sich selbst.

Außerdem erlebt sie derzeit eine Re- naissance an Zuneigung, vornehm- lich bei nostalgisch gestimmten An- tiquitäten sammelnden Erwachse- nen. Das mag Anlaß genug sein, über die Beziehungen zwischen ihr und uns ein wenig zu reflektieren.

Von der Docke zur Puppe

Die Puppe, Lehnwort vom französi- schen „la poupöe", das sich seiner- seits von lateinisch „pupa", kleines Mädchen, ableitet, hieß bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum „Docke", was soviel wie Bündel bedeutete.

Das Wort hat sich als Bezeichnung für ein Garnmaß, regional für Getrei- degarbe und in der Kunstgeschichte für das Säulchen einer Balustrade bis heute erhalten. Namengebend war wohl das Bündel eines Wickel- kindes.

Erste Assoziationen

Was hat man also unter einer Puppe zu verstehen? Wir assoziieren so- gleich dazu das bekannte Spielzeug des kleinen Mädchens, mit dem müt- terlich-fürsorgliche Mechanismen, das geschlechtsspezifische Rollen- verhalten mitdeterminierend, einge- übt werden. Ohne der Versuchung nachzugeben, einen historisch-so- ziologischen Ausflug über die hinter dieser Mensch-Puppen-Beziehung stehende und mittlerweile etwas fragwürdig gewordene pädagogi-

*) Der Begriff des Archetypus ist hier vom Ver- fasser nicht in streng Jungkschem Sinne verwendet worden.

sche Tendenz zu unternehmen, wol- len wir uns zunächst einmal vor Au- gen führen, wie artenreich die Pup- pengattung ist.

Zahlreiche Puppenarten

Neben der Spielpuppe fällt uns die Mode- oder Dekorationspuppe ein, die nach dem Willen der Konfektio- näre unser Kaufverhalten bestim-

men soll. Knapp unter dieser Ebene rangiert der berüchtigte „Pappka- merad" aller Armeen dieser Erde, der als Zielscheibe unserer Aggres- sivität das jeweils gewünschte Feindbild repräsentiert. Verlassen wir aber sofort diesen ungeratenen Wechselbalg unserer an sich durch- wegs liebenswürdigen Puppengat- tung, allerdings nicht ohne einen nachdenklich-zwiespältigen Blick auf die aus Holz, Zinn oder Plastik-

Die Puppen und wir

Christian Müller

1074 Heft 16 vom 17. April 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Die Puppen und wir

masse mit wenigstens zum Teil ho- hem kunsthandwerklichen Können und erlesenem Geschmack gefertig- ten Spielzeugheere der Knaben zu werfen, wobei wiederum die durch- scheinende pädagogische Absicht uns nun ganz unerträglich gewor- den ist.

Über Handspielpuppen und Mario- netten, diese verwirrend faszinieren- den Akteure eines miniaturisierten Theaters, ist soviel Geistvolles schon geäußert worden, allem voran in Heinrich von Kleists berühmten Aufsatz, daß wir sie hier nur eben erwähnen wollen.

Automatenpuppen:

das Künstlichste vom Künstlichen Ganz sonderbar sind die Automaten- puppen, denen ein eingebauter Me- chanismus Eigenbeweglichkeit und damit' den Anschein von Lebendig- keit verleiht. Damit entstand jedoch genau das Gegenteil, nämlich das Künstlichste vom Künstlichen; be- lebt sich eine Puppe ohnehin doch nur durch die Libido des mit ihr Spielenden.

Die abgezirkelte, roboterhafte Mobi- lität einer mechanischen Puppe, man denke an die Olympia E. Th. A.

Hoffmanns und Jacques Offen- bachs, erweckt hingegen ein ambi- valentes Gefühl von Staunen und Grauen. Ihre komisch-vulgäre Aus- prägung findet man noch auf Jahr- märkten in Schaubuden und Gei- sterbahnen.

Dann gibt es die von mir so genann- te Identifikationspuppe, ein Erwach- senenimitat als Spielzeug, das dem Kind erlaubt, seine eigene Kindhaf- tigkeit per identificationem zu über- steigen und damit seine erfahrene Ohnmacht wenigstens halluzinato- risch zu überwinden. Dies ist sicher- lich nützlich in Anbetracht der viel- fältigen Kindertraumatisierungen, und die „Barbies" und „Big Jims"

unserer Tage sind von diesem Schlag, obwohl sie unserem goüt nicht gerade liegen.

Befriedigung von Spiel- und Dekorationsbedürfnissen Bevor wir uns aber den unmittelbar nützlichen Puppen zuwenden, sei noch einer eigentümlichen Spezies gedacht, der sogenannten Tee- oder Halb- oder Nadelkästchenpuppen.

Sie befriedigten Spiel- und Dekora- tionsbedürfnisse von Erwachsenen während einer relativ knappen Zeit- spanne von etwa dreißig Jahren ab Ende des vorigen Jahrhunderts und fehlten in kaum einem bürgerlichen Haushalt.

Verglichen mit der bis in die Anfän- ge der Menschheit reichenden Ge- schichte der Puppen nicht mehr als eine modische Eintagsfliege, wider- spiegeln sie in vielleicht reinster Weise die spielerische Überflüssig- keit puren Dekors. Geschmacklich an der Grenze des Kitschs entlang- balancierend, zeigen sie in ihren be- sten Stücken einen bezaubernden theatralischen Gestus und entwaff- nenden Charme. Sie sind die lie- benswert nichtigen Kleinplastiken des Frisier- und Kaffeetischs eines Bürgertums im ersten Viertel unse- res Jahrhunderts.

Karl Heidelbach: „Ain't she pretty", Öl auf Holz, 105 x 77 cm, 1965

Foto: Galerie Brusberg, Hannover

1076 Heft 16 vom 17. April 1980

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Die Puppen und wir

Nützliche Puppen

für Forschung und Technik

Wirklich nützliche Puppen finden wir in den Künstlerateliers als Mo- dellpuppen (mannequins), in medizi- nischer Forschung und Lehre als anatomisch-topographische oder geburtshilfliche Demonstrationsob- jekte und in der Technologie überall da, wo Menschen einzusetzen zu ris- kant wäre. Die Psychodiagnostik kä- me ohne ihr Arsenal von testpsycho- logischen Puppenfigurinen, mit de- nen der kindliche oder erwachsene Klient seine Umweltbeziehungen nachstellt, umstellt und auf jeden Fall projektiv besetzt, gar nicht mehr aus.

Von der Adorationspuppe bis zu puppenhaften Dämonen und Totems

Ohne in der Aufreihung der Puppen- arten Vollständigkeit anstreben zu wollen, müssen noch die Adora- tionspuppen des religiösen Bereichs erwähnt werden. Bildhafte Wachs- stöcke, sogenannte Fatschenkinder, das sind Darstellungen des Wickel- kindes Jesus, Krippenfiguren des Erzgebirges, des Alpengebietes und die in barockem Realismus weit aus- ufernden Straßen- und Genreszenen der neapolitanischen Krippenschnit- zerei leiten über zu den puppenhaf- ten Dämonen und echten Totems animistischer Naturreligionen.

Der Archetypus

Womit wir beim Magischen ange- langt wären und damit unversehens, wenn auch sehr im Galopp und ohne wissenschaftliche Akribie, wieder den Ausgangspunkt unseres Pup- penexkurses erreicht haben: den Ar- chetypus.

Die Puppe begleitet den Weg des Menschen seit Urzeiten. Prähistori- sche Puppenfunde beweisen es. Das Entstehen menschlichen Bewußt- seins und ihr Auftreten scheinen zeitlich nicht weit auseinanderzulie- gen. Gibt es da womöglich ei- nen kausalen Zusammenhang, der

Peter Sorge: „8 x 4", Radierung, 39,8 x

diese verblüffende Koinzidenz er- hellt? Man kann darüber psycholo- gisch spekulieren. Wenn der ent- wicklungsgeschichtlich essentielle Sprung in die Bewußtheit aus der unbewußten, instinktgeregelten ökologischen Angepaßtheit der vor-

24,5 cm, 1966

menschlichen Existenz das spezifi- sche Humanum ist, und dafür gibt es genug Anhaltspunkte, so ist von An- fang an auch die Angst da, aus den natürlichen Gegebenheiten heraus- zufallen, die Angst vor den existenz- bedrohenden Dämonen inner- und

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 16 vorn 17. April 1980 1077

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Die Puppen und wir

Paul Wunderlich: „Chasing girls", Farbli- thographie, 65 x 49,5 cm auf Rives 76 x 56 cm, 1975

außerhalb, die Angst vor der biolo- gisch-evolutionär verkehrten Frei- heit. Das Wissen um die Möglichkeit des Chaos und des Absurden ist mit dem Bewußtsein apriorisch in die Welt gekommen.

Was Wunder, daß der Mensch unver- züglich wieder Ordnung in seine Verhältnisse bringen wollte, sie überschaubar zu machen versuchte.

So gehört die Reproduktion seines Selbst, das Erschaffen eines Ho- munculus, eines von ihm hergestell- ten und daher von ihm überblickba- ren Ebenbildes zu den frühesten Wurzeln der Kultur. In das kann er sich hineindenken, dessen Grenzen bleiben ihm immer erkennbar.

Projektion von Gefühlen

Nichts anderes charakterisiert unse- ren Umgang mit den Puppen, denn unser psychischer Entwicklungs- stand ist artspezifisch derselbe ge- blieben. Wir können uns in sie „hin- eindenken", Erfahrungen mit ande- ren auf sie übertragen, jene an ihnen eventuell korrigieren, sowie Gefüh- le, Wünsche und Hoffnungen auf diese erzgeduldigen Wesen projizie- ren, was uns guttut.

Die gegenwärtige Puppennostalgie braucht daher nicht als spätzivili- satorische Kreativitätserschöpfung diskreditiert zu werden, sondern sollte sich vielmehr als seelische Ba- lance gegen moderne Selbstent- fremdung verstehen.

Wer mit Puppen gut spielt, geht in erster Linie mit sich selbst gut um.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Christian Müller Gartenstraße 22

8000 München 40

Karin Szekässy: „Puppe zu verkaufen", Lichtdruck, vierfarbig, 65 x 50 cm, 1973

1078 Heft 16 vom 17. April 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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