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Archiv "Das Gesundheitswesen als „integrierter Bestandteil“ der sozialistischen Gesellschaftsordnung" (10.04.1975)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze Notizen

BLICK ÜBER DIE GRENZEN:

Das Gesundheitswesen als

„integrierter Bestandteil"

der sozialistischen Gesell- schaftsordnung

FORUM:

Gedanken zur ärztlichen Sterbehilfe,

Die Auswirkung der Aufhebung des Liquidationsrechts und die Einführung

des Pool-Systems

BRIEFE AN DIE REDAKTION

BEKANNTMACHUNGEN:

Kassenärztliche Bundes- vereinigung: Arzneimittel- richtlinien

Kassenarztsitze

PREISE

FEUILLETON:

Besuch auf dem Wildboden

In den letzten Jahren wurde in der Bundesrepublik Deutschland die Forderung nach „Planungsdaten"

für das Gesundheitswesen ver- ständlicherweise immer lauter, und zwar in dem Maße, in dem die Ko- sten der gesetzlichen Krankenkas- sen stiegen. Neue Organisations- modelle wurden und werden disku- tiert, Klassenlosigkeit, Zentralisie- rung der apparativen Medizin bei gleichmäßiger Verteilung der prak- tizierenden Ärzte werden ange- strebt. Sogar eine Verstaatlichung unseres Gesundheitswesens findet Sympathisanten.

Eine Verstaatlichung des Gesund- heitswesens lehnen wir Ärzte ab, weil bei diesem System viel Frei- heitsraum für Patienten und Ärzte geopfert werden müßte, ohne daß

die von den Verfechtern einer Ver- staatlichung erhoffte Kosteneinspa- rung realisiert werden könnte.

In diesem Zusammenhang wird in zunehmenden Maße von der „Krise der Medizin" gesprochen. Die Ver- treter dieses Schlagwortes „Krise der Medizin" haben sich allerdings die Definition dieses Begriffes ge- nauso erspart, wie seinerzeit dieje- nigen, die glaubten, mit dem Schlagwort „klassenloses Kran- kenhaus" eine Landtagswahl ge- winnen zu können. Es ist das Schicksal von Sachproblemen, wenn sie in einen parteipolitischen Diskussionskampf hineingezogen werden, in dem Maße an Sachlich- keit zu verlieren, wie der andere glaubt, daraus klingende Münze schlagen zu können.

Das Gesundheitswesen

als „integrierter Bestandteil"

der sozialistischen Gesellschaftsordnung

Eine Übersicht über die Gesundheitssysteme

in

östlichen Ländern

Horst Bourmer

Die Friedrich-Thieding-Stiftung des Verbandes der Ärzte Deutsch- lands (Hartmannbund) veranstaltete Ende vergangenen Jahres ein Symposium "Gesundheit in West und Ost", das vor allem dazu diente, die zahlreichen Einzelbeobachtungen und -erfahrungen, die durch Studienreisen in verschiedene Länder gewonnen worden waren, zu einem Gesamtbild zusammenzutragen. Der Vorsitzende des Hartmannbundes leitete das Symposium mit einem Überblick über die ärztliche Versorgung in den Ländern des Ostblocks und der Volksrepublik China ein, aus dem sich einige gemeinsame Kennzeichen dieser Systeme ableiten lassen.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 15 vom 10. April 1975 1053

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Ich habe mir einmal die Mühe ge- macht, den Begriff der „Krise der Medizin" zu definieren. Dabei erhe- be ich keinerlei Anspruch auf eine subtile Definition, aber ich glaube, daß eine ausgesprochene Diskre- panz zwischen dem heute Machba- ren und dem Wünschenswerten und dem Notwendigen liegt, und daß in der Auffassung dieser drei verschiedenen Dinge auf dem Ge- sundheitssektor und in der Diskre- panz der Anschauungen vielleicht die „Krise der Medizin" liegt. Da- mit läge sie nicht direkt in der Me- dizin selbst, sondern in den Köpfen derer, die heute darüber sprechen.

Wenn Sie sich zurückerinnern, zum Beispiel an das Symposium der Ciba-Foundation 1962 in London, da wurden schon vor zwölf Jahren über Gen-Forschung, Gen-Chirur- gie und Gen-Manipulationen Dinge vorgeführt, von denen Gladstone hinterher behauptete, es seien er- folgreiche Schritte in der künstli- chen Schöpfung von Genen getan.

Das ist immerhin zwölf Jahre her.

Die Spezialisten auf diesem Gebiet in den neuesten Forschungen müß- ten nachlesen können, was sich in dieser Zeit getan hat. Sie könnten dabei in diesem Symposium nach- lesen, daß immerhin ein Forscher von internationalem Rang, wie Craig, der auch Nobelpreisträger ist, mit dem Vorschlag kam, bei der problemreichen Frage der Bevölke- rungsexplosion von der immerhin nachweisbaren Möglichkeit Ge- brauch zu machen, über die Was- serleitungen und andere unver- dächtige Nahrungsmittel ganze Be- völkerungskreise zu sterilisieren und durch eine Antidot-Verabrei- chung nur noch diejenigen zur Fortpflanzung zuzulassen, deren Vermehrung von Vorteil für die Ge- meinschaft wäre.

In der Diskussion ging das soweit, daß man von Huxley sogar hören konnte, unter diesen Umständen sollte man die Entwicklungshilfe unter völlig neuen Aspekten be- trachten und diejenigen Länder, die man dafür eingeplant habe, auf ihre demokratische Substanz prü- fen, bevor man ihnen Geld in die Hand gäbe.

Ich führe das nur an, um an eini- gen, sicherlich sehr ausgefallenen Punkten zu zeigen, was heute schon alles machbar ist. Die Frage, ob das wünschenswert ist, glaube ich, kann man sehr schnell mit

„nein" beantworten. Wünschens- wert wäre zum Beispiei, daß wir nicht mehr rauchen, daß wir keinen Alkohol mehr zu uns nehmen, schon gar nicht in überdimensiona- ler Form, und daß jeder nach sei- nem Idealgewicht strebt. Das alles ist wünschenswert, vor allem wenn ich daran denke, daß die deutsche Bevölkerung im Jahre 1973 nur den Betrag von 45 Milliarden DM ver- raucht und vertrunken hat, und man mit nur zwei bis drei Milliar- den DM das gesamte Kranken- hauswesen Deutschlands wieder auf vernünftige Füße stellen könn-

te. Sicherlich ist das alles wün- schenswert, aber ich glaube, der Durchschnitt der Menschheit wird dies nicht für unbedingt notwendig halten. Das ist sicherlich durchaus ein Diskussionsstandpunkt. Not- wendig ist aber, daß in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaftsordnung ein jeder Mensch die gleichen Chancen hat.

Ich glaube, bei einer vernünftigen Betrachtung dieser drei verschie- denen Dinge sollte man endlich einmal aufhören, das polemische Wort von der „Krise der Medizin"

in den Mund zu nehmen; denn wenn man mit den Verfechtern der sogenannten Krise in der Medizin ernsthaft diskutiert, bringen die in der Regel nur Kasuistik, die Glo- balanschauung fehlt ihnen häufig.

Aus diesem Grunde machte sich der Hartmannbund die Mühe, sich eine eigene Anschauung über die Vor- und Nachteile staatlicher Gesund- heitssysteme zu schaffen.

Um aus eigener Anschauung über die Vor- und Nachteile verstaatlich- ter Gesundheitssysteme sprechen zu können, hat die Friedrich-Thie- ding-Stiftung diese ärztlichen Stu- dienreisen in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsministerien der besuchten Länder organisiert, wo- für wir sehr dankbar sind.

Wir haben bei unseren Reisen auch nicht nur Mitglieder des Hart-

mannbundes dabei gehabt, ver- ständlicherweise auch nicht nur Ärzte, weil wir uns nicht den Vor- wurf machen lassen wollten, daß hier Spezialisten mit berufspoliti- scher Betriebsblindheit versucht ha- ben, sich ein Bild zu verschaffen, das ihnen gerade so in ihr berufs- ständisches Kalkül paßt.

Der Fragenkatalog konzentrierte sich bei diesen Reisen auf die Struktur der Gesundheitsdienste, ihre Finanzierung und ihre Leistun- gen für die Bevölkerung sowie auf die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Ärzten und Angehörigen medi- zinischer Assistenzberufe. Dabei wurden überall ambulante und sta- tionäre Einrichtungen besichtigt, und zwar nicht nur in Städten, son- dern auch auf dem Lande, in den Ballungsrandgebieten. Unsere Ge- sprächspartner waren Ärzte aus der Verwaltung und allen Berei- chen ärztlicher Tätigkeit sowie ihre Mitarbeiter.

Statistisches Zahlenmaterial in un- serem Sinne hatten unsere Ge- sprächspartner zu den uns speziell interessierenden Fragen nicht im- mer zur Hand. Leider war es daher nicht möglich, statistische Über- sichten zu den Kosten der Gesund- heitsdienste pro Arbeitnehmer bzw.

pro Bürger, zur Morbidität, zu den Fehltagen pro Erwerbstätigen, zu den durchschnittlichen Verweilzei- ten am Krankenhaus oder zur all- gemeinen Lebenserwartung zu er- halten. Statistische Daten also, die von gleicher Basis ausgehend, not- wendig wären, um echte Verglei- che anstellen zu können, waren nur schwer oder überhaupt nicht zu erhalten. Die von den Reisen mitgebrachten Informationen sind in einer Broschüre über die „Ge- sundheitssysteme in Volksrepubli- ken" dokumentiert, die aus den eben genannten Gründen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhe- ben kann.

Einige Merkmale kehren trotz aller Verschiedenartigkeit in der Durch- führung der Gesundheitssysteme in allen Ländern wieder. Das sind

ein Sprengelarztsystem bei der Basisversorgung durch die Kreis-

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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ärzte. Kreisärzte könnte man hin- sichtlich ihres Wirkungskreises und von der Ausbildung her mit un- seren Allgemeinärzten vergleichen, aber mit Möglichkeiten, die derar- tig beschränkt sind, daß man das unseren Landärzten nicht zumuten könnte, geschweige denn der zu versorgenden Bevölkerung.

~ der definitorische Unterschied zwischen Werksärzten im Ostblock und auch in China und unseren Ar- beitsmedizinern. Die Werksärzte sind im Osten für die ärztliche Ver- sorgung der Arbeitnehmer ihrer Betriebe zuständig, manchmal auch ihrer Familien, und zwar prä- ventiv wie kurativ, ambulant wie auch manchmal stationär inklusive möglicher Maßnahmen zu Rehabili- tation. Die Arbeitsmedizin oder Ar- beitshygiene sind lediglich Teilauf- gaben.

~ Es gibt keine Einzelpraxen in unserem Sinne. Sie sind zusam- mengefaSt in Kollektiven.

~ Es herrscht eine strenge Diszi- plin an den Universitäten bei schein- barer Wahrung einer Mitbestim- mung. Von einer sogenannten Drit- telparität wagt man dort in keinem Land noch nicht einmal zu träu- men. Parteieinfluß und Jugendbe- wegung bestimmen Studiengang und Studieneffizienz. Die Disziplin an den Hochschulen und das Image bei den Professoren ist so ein- deutig, daß unsere Professoren mit einem Drittel des Einflusses zufrie- den wären, den Universitätslehrer in den Ostblockstaaten genießen.

~ Es besteht sogar eine Facharzt- prüfung.

~ Die Voraussetzungen zur Fort- bildung sind vielfach unzureichend.

Die Fortbildung sieht so aus, daß man Ärzte in fünfjährigem Turnus zur Pflichtfortbildung an Fortbil- dungszentren oder Kliniken heran- führt. Die Kapazität dieses Angebo- tes reicht dazu natürlich bei den Flächenstaaten in den teilweise noch agrarisch strukturierten Län- dern nirgendwo aus. Sie soll ver- ständlicherweise erweitert werden.

~ Planung auf allen Gebieten, ein- schließlich der pharmazeutischen Forschung, die sich aus diesem

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen

Gesundheitssysteme in östlichen Ländern

Grunde aus der Forschung sehr weitgehend herauszieht, auf einige Präparate konzentriert und lieber Lizenzpräparate aus dem Ausland einführt und versucht, sie im ei- genen Lande zu produzieren.

~ Intensive Bemühungen im die Gesundheitserziehung der Bevöl- kerung war etwas, was uns allent- halben in allen Ländern auffiel, und zwar im Hinblick auf Vorsorge, Krankheitsfrüherkennung, in ein- zelnen Ländern in einer Form, die ich schon wiederholt vorgeschla- gen habe, nämlich systematische Einbeziehung in den Schulunter- richt. Das hat zur Folge, daß zum Beispiel in Ungarn der Abschluß einer Mittelschule gleichbedeutend ist mit dem Abschluß (für den weiblichen Teil) eines Krankenpfle- geexamens. Es besteht aber kein Zwang, diesen Beruf auszuüben, aber die Motivation zur gesund- heitspolitischen Erziehung ist da, die sich dann zumindest, wenn man diesen Beruf nicht ergreift, im familiären Bereich segensreich auswirkt.

Die Kostenfreiheit der staatlichen Gesundheitsdienste bezieht sich nicht auf Arzneimittel. Medikamen- te müssen die Patienten im allge- meinen selbst bezahlen, es sei denn, sie gehören zu besonderen Personengruppen, wie Jugendli- chen, Rentnern, Schwangeren, oder sie leiden unter einer als chronisch anerkannten Krankheit.

Im stationären Bereich entfällt die Verpflichtung zur Eigenfinanzie- rung der Arzneimittel.

Die Zugänglichkeil zu den Leistun- gen der Gesundheitsdienste hat lange Zeit, mit Ausnahme von Chi- na, nicht für die Bauern gegolten.

Die Leistungen des Gesundheits- dienstes wurden hier erst nach und nach auf- und ausgebaut. Das hängt mit der unterschiedlichen Betrachtungsweise des Bauern- standes und dem verschiedenen Marxismus-Verständnis zwischen China und den anderen Ländern des Ostens zusammen. Selbständi- ge Gewerbetreibende oder frei- schaffende Künstler sind mit Ausnahme von Bulgarien - bis

heute nicht überall gegen Krank- heit staatlich geschützt.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die gesundheitliche Versor- gung der Bevölkerung in Osteuro- pa an denselben grundsätzlichen Schwierigkeiten leidet, wie wir sie bei uns feststellen müssen:

~ Ungleiche Verteilung der Ärzte, ländliche Gebiete sind auch in den besuchten Ländern mehr benach- teiligt als in den städtischen Berei- chen. Das läßt einen etwas auf- merksam werden, denn in zentrali- stischen Ländern könnte oder soll- te man davon ausgehen, daß diese Problematik leicht zu lösen wäre.

Unter diesem Aspekt stößt natür- lich das Geschrei nach einer Ver- planung des Ärztestandes in der Bundesrepublik auf verständliche Skepsis.

Die in einigen Ländern praktizierte Zwangsverpflichtung ist für den einzelnen Arzt zeitlich begrenzt, selbst in Rußland. Die jungen Ärzte bemühen sich anschließend sofort um eine Anstellung in der Stadt, was zur Folge hat, daß die Bevöl- kerung in den ländlichen Bezirken sich über den ständigen Wechsel von Ärzten im Rhythmus von drei bis fünf Jahren beklagt. Die ländli- che Bevölkerung bekommt in den fünf Jahren zwar nicht die erfah- rendsten Ärzte, aber Ärzte, die ei- nen theoretisch modernen Wissens- stand besitzen, aber ihre prakti- schen Erfahrungen gerade begon- nen haben.

Auch wird allgemein über die man- gelnde Kooperation zwischen der ambulant verabfolgten Medizin und der stationären Gesundheitspflege geklagt. Desgleichen ist in der Or- ganisation nicht alles so optimal, wie wir das mit unserem deutschen Perfektionismus natürlich gerne hätten. Die in den Ambulatorien und in den Polikliniken tätigen Ärz- te sind nur in diesem Bereich tätig.

Und es ist auch durch diese Orga- nisation bisher nicht gelungen, trotz staatlicher Lenkung die Ko- sten in den Griff zu bekommen.

ln Polen wird zum Beispiel ungefähr

DEUTSCHES ARZTEBLATT

Heft 15 vom 10.April1975

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ein Drittel der gesamten kommuna- len Haushalte — die Kommunen tragen dort die Verantwortung für das Gesundheitswesen — für das Gesundheitswesen aufgewandt. Die Probleme der Wartezeiten sind auch mit diesen poliklinischen Sy- stemen nirgendwo gelöst. Gezielt gefragt, wird von den Administrato- ren gesagt: Das ist kein Problem.

Macht man sich aber die Mühe, in den Ländern, in denen noch deutsch gesprochen wird, einen Patienten zu fragen, finden Sie dort durchaus, ohne daß es emotionelle Diskussionen gibt, Wartezeiten von einer bis sechs Stunden. Ich will damit nicht sagen, daß das wün- schenswert sei, ich will damit nur sagen: Diese Problematik ist weder in Amerika noch in China gelöst, und man sollte nicht so tun, als ob es dafür Patentlösungen gerade bei uns gäbe.

Spezifischer Nachteil dieser sozia- listischen zentral gelenkten Ge- sundheitssysteme ist nach meiner Meinung nicht nur das Kreisarztsy- stem in der ambulanten Versor- gung, das eine freie Arztwahl für den Patienten nicht ermöglicht. Die ganze fachärztliche Versorgung ist in Ambulatorien konzentriert, und der Kontakt zwischen der kreis- ärztlichen Versorgung und der Ver- sorgung in Ambulatorien kann kei- neswegs als befriedigend, ge- schweige denn als optimal be- zeichnet werden.

Die Behandlungen bei den Patien- ten sind in der Regel mit recht lan- gen Wegestrecken verbunden, die man versucht, durch ein Transport- system von Krankenwagen zu überbrücken. Der mangelnde Be- zug zwischen Arzt und Patient ist doch die Regel geworden, was zu einer ganz eigenartigen Entwick- lung geführt hat. Da die freie Arzt- wahl nicht besteht, der Patient aber natürlich das Bedürfnis auch in sozialistischen Staaten danach hat, versucht er, mit dem System zu leben, und auch die Ärzte versu- chen, mit dem System zu leben.

So hat sich eine Art „Grauzone" im Gesundheitsdienst entwickelt, die ich mit dem — verzeihen Sie, auch

wieder mit einem Schlagwort —

„Deputathonorarverfahren" be- zeichnen möchte. Der Patient geht in die Poliklinik und versorgt sich mit den notwendigen formalen Din- gen, die er zum Krankschreiben und für seine Arbeitsfähigkeit oder seine Arbeitsunfähigkeit braucht.

Er hat dann aber in der kurzen Zeit

— bei uns wird sie 3-Minuten-Me- dizin genannt — keine Möglichkeit, mit dem Arzt persönliche Dinge zu besprechen. Dabei wird ein Termin ausgemacht, um nach Dienstschluß in der Wohnung des Arztes das zu bekomfnen, was der Patient in dem Betrieb der Poliklinik vermissen mußte. Ich glaube kaum, daß diese Art des „Deputathonorarverfah- rens" mit Naturalien oder auf dem Wege der persönlichen Dienstlei- stung von unseren Systemgegnern gewünscht wird! Ich darf hier Bei- spiele nennen. Es sind Schilderun- gen von Kollegen, nicht nur von Patienten. Die Patienten würden wohl eher darüber schweigen, aber Kollegen, mit denen man persön- lich Kontakt bekommt, lassen dann mal das politische Kalkül etwas au- ßer acht. Der Arzt behandelt zum Beispiel seinen Taxifahrer oder seine Telefonistin vom Amt — Durchwahl gibt es noch nicht über- all — bevorzugt, damit er im Not- fall immer ein Taxi hat und auf sein Telefongespräch nicht stundenlang zu warten braucht. Es ist die einzi- ge Möglichkeit, bei der die kollekti- vierten Dienstleistungsberufe in ei- nem derartigen dirigistischen Sy- stem untereinander eine Kompen- sation erreichen, mit der sie dann auch unter diesem System einiger- maßen erträglich leben können. Die werksärztliche Versorgung, um ei- nen anderen Aspekt anzuspre- chen, mit Weiterleitung der Dia- gnosen an die Betriebsleitung, die ja immer über Partei und Kollektiv eine Einheit bildet, macht den Be- griff der ärztlichen Schweigepflicht illusorisch. Und so wundert einen die Antwort auf unsere Frage nach der ärztlichen Schweigepflicht nicht: „Wieso darf der Betriebslei- ter das nicht wissen? Wir alle ar- beiten ja für den gleichen Staat, und jeder hat sein Optimum einzu- setzen. Es ist ja eine Ehre, für den

Staat und für den Aufbau des So- zialismus zu arbeiten." Was hat da die Schweigepflicht eigentlich noch für eine Bedeutung?

Das Extrem erlebte ich in China, wo das Wort „Schweigepflicht"

kaum zu übersetzen war. Bei ei- nem Barfußarzt, der ja bekanntlich im medizinischen Bereich der Hy- giene, Prophylaxe und Familienpla- nung die Leitung hat (und mit Er- folg hat), sahen wir eine große Ta- fel an der Wand mit verschiedenen chinesischen Schriftzeichen. Auf meine Frage: „Was ist das?" sagte er mir ganz stolz: „Das sind alle Männer und Frauen meines Bezir- kes im zeugungs- und gebärfähi- gen Alter, und dahinter steht, was sie als Familienplanung betreiben (Spirale, Pille, und, und, und,)". Da ich darüber nicht ein fortschrittlich denkendes Gesicht gemacht habe, sondern etwas erstaunt nach der Schweigepflicht fragte, hat er mich ganz erstaunt angesehen und ge- fragt: „Was soll das, wir haben alle die gleiche Aufgabe. Es darf jeder wissen, wie wir an dieser Aufgabe speziell arbeiten."

Sicherlich, ein Extrembeispiel, mit dem man, wie das Beispiel China zeigt, gewisse Problemstellungen ad hoc zu lösen vermag. Frage: Ist es wünschenswert? Sicherlich ist die Methode nicht unbedingt not- wendig und nicht unbedingt emp- fehlenswert. Wenn man davon aus- geht, daß Gesundheit ein subjekti- ver Zustand ist, der objektiv beein- flußt wird durch die Umwelt, durch den Bürger selbst und im Krank- heitsfall durch Wissen und Können des Arztes und die dem Arzt zur Verfügung stehenden Mittel tech- nologischer und therapeutischer Art und wiederum ergänzt wird durch den Patienten selbst und die Umwelt, so muß man sagen, daß die Verfügbarkeit von Gütern und Leistungen im Gesundheitswesen der Volksrepubliken, wie auch der ganze Lebensstandard in diesen Ländern sicherlich geringer ist als bei uns. Das ist kein Vorwurf, das ist eine ganz lapidare Feststellung, deren Wertung mir fern liegt.

Man kann doch wohl behaupten,

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen Gesundheitssysteme in östlichen Ländern

daß der Gesundheitszustand eines Volkes, und zwar ist das jetzt für alle Nationen gemeint, nicht wirk- lich und exakt meßbar ist. Beweis ist der variable Krankenstand aller Länder infolge einer wirtschaftli- chen Rezession. Was einem Men- schen behandlungsbedürftig er- scheint, veranlaßt einen anderen nicht unbedingt, der gleichen Mei- nung zu sein. Diese Beobachtung erklärt sich aus der Verschiedenar- tigkeit des persönlichen Tempera- mentes, des Gesundheitsbewußt- seins, der Zugänglichkeit zur ärztli- chen Leistung, dem Bildungs- und Informationsgrad, möglicherweise auch durch religiöse oder philoso- phische Standpunkte.

Bei dieser Betrachtungsweise von Kosten und Nutzen ist ein Blick in die DDR nicht ohne Interesse. Es gibt dort zur Zeit ungefähr 28 500 Ärzte, die im gesamten poliklini- schen, ambulanten und stationären Bereich tätig sind, aber ca. 1765 Ärzte betreiben noch Einzelpraxis.

Dabei muß man feststellen, daß diese 6 Prozent der Ärzte 35 Pro- zent der ambulanten Leistungen erbringen.

Eine weitere Größenordnung, die die Frage nach Kosten und Nutzen gestattet: Ich bin mir darüber voll- kommen im klaren, daß, wenn man im Gesundheitswesen die Frage nach Kosten und Nutzen stellt, man von verschiedenen Leuten sofort in einer Weise angegriffen wird, die mit Sachlichkeit nichts mehr zu tun hat. Aber wenn man immer nur von Kostenexplosion redet, dann bleibt im Endeffekt nichts anderes übrig, als alles in einer Art zu messen, die sich notwendigerweise am Ziel zu orientieren hat. Da die Sterb- lichkeitsrate oder der Sterblichkeits- stand bis jetzt überall noch 100 Prozent ist, könnte man zum Bei- spiel die durchschnittliche Lebens- erwartung als Meßgröße für die Wirksamkeit eines Gesundheitssy- stems heranziehen. Dabei wird man wieder feststellen, daß sie nicht nur vom Gesundheitssystem, sondern von einer ganzen Reihe von anderen Umständen abhängig ist, zum Beispiel von der unter- schiedlichen statistischen Erfas-

sung der Berechnungsgrundlagen, am Beispiel der Säuglings- und Müttersterblichkeit. Diese Ergeb- nisse sind bei uns entschieden ver- besserungsbedürftig, aber die Sta- tistiken, die herangezogen werden, sind in ihrer Basis einfach nicht vergleichbar. Wenn man sich die Mühe macht, Frühgeburten, die frü- her zum Sterben verurteilt waren, aufzuziehen, weil die technischen Möglichkeiten heute vorhanden sind, dann muß man verständli- cherweise mit einer höheren Ster- berate rechnen. Wenn man zum Beispiel vom Geburtsgewicht aus- gehend die Risikokinder in der Säuglingssterblichkeitsstatistik dif- ferenziert, verschiebt sich die gan- ze Statistik. In einzelnen Ländern sollen nicht ausgereifte Kinder gar nicht unter die Säuglingssterblich- keit fallen, sondern unter Totgebur- ten, wenn sie innerhalb von 24 Stunden gestorben sind oder ge- wisse Mindestanforderungen bei der Geburt nicht erreichen. Dann wird die ganze Fragwürdigkeit der Diskussionen und Statistiken von Einzelfaktoren deutlich. Der Satz ist erlaubt: Statistiken lü

g

en nicht;

es gibt aber viele Leute, die mit Statistiken lügen.

Darüber hinaus spielt die Lebens- gewohnheit eines Volkes eine er- hebliche Rolle, die Ernährungswei- se, die körperliche Bewegung, der Bildungsstand. Das findet sich überall dort, wo die Entwicklung des Lebensstandards oder der Bil- dung einen gewissen Level erreicht haben. In diesen Ländern ist das Bevölkerungsproblem plötzlich faß- bar und die Bevölkerung ansprech- bar. Die Häufigkeit und Ursachen von Unfällen im Bereich der Arbeit, des Transports, beim Sport oder im Haushalt spielen eine Rolle. Die Krankheiten an sich und die Ereig- nisse höherer Gewalt, die Katastro- phen und Epidemien. Die ärztliche Versorgung eines Landes wird be- einflußt durch die Menge und Ver- teilung von Ärzten, wozu auch die Menge und Verteilung medizini- schen Assistenzpersonals über die Verteilung von Kliniken und Praxen zählen. Dabei spielt natürlich auch die Qualität der erbrachten Leistun- gen, aber im Verbund mit Maßnah-

men gesundheitserzieherischer Art eine Rolle. Hier sind wir bei der Frage, wie man die Dinge insge- samt verbessern könnte. Ich glau- be, daß wir Verbesserungen errei- chen könnten, wenn wir geeignete Maßnahmen zu einer gesundheits- bewußten Motivierung der Bevölke- rung heranzögen. Wir verfügen über diese Massenmedien. Hier be- steht jedoch bisher eine ausge- sprochen mangelhafte Kooperation mit der Ärzteschaft.

Darüber hinaus spielt natürlich die Bereitstellung von Mitteln für eine ausreichende Ausstattung eines Gesundheitssystems mit seinen Einrichtungen und Mitarbeitern eine Rolle, und hier haben wir in den letzten zwanzig Jahren erleben müssen, daß der Stellenwert des Gesundheitswesens recht Ietztran- gig war. Erst in den letzten drei Jahren, als der Stellenwert wuchs, bemühten sich denn auch die Poli- tiker, den langjährigen Wünschen der Ärzteschaft etwas aufgeschlos- sener gegenüber zu sein.

Um also eine gemeinsame Basis der Diskussion eines Gesundheits- wesens zu finden, sollte hier der Versuch gemacht werden, Kriterien zu erarbeiten, wie man die einzel- nen Gesundheitssysteme vergleich- bar machen könnte.

Gesundheitsprobleme sollten wert- neutral sein, weil sie sachbezogen sein müssen. Insoweit leiden alle sozialistischen Gesundheitssyste- me an mangelnder Wertneutralität, weil sie nach der Leninschen Maxi- me orientiert sind, die da sagt: Das Gesundheitssystem ist integrierter Bestandteil der sozialistischen Ge- sellschaftsordnung, womit die Wertneutralität des sachbezogenen Systems nicht nur ernsthaft in Fra- ge gestellt wird, sondern an erheb- lichen Entwicklungschancen leidet.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Horst Bourmer Chefarzt der

Chirurgischen Abteilung Städtisches Krankenhaus 5 Köln-Worringen

St.-Tönis-Straße 63

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