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Archiv "Zehn Jahre nach der Revolution der Nelken: Portugals Gesundheitswesen auf dem „Weg in eine neue Zeit“" (11.05.1984)

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Academic year: 2022

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Der Kontrast des medizinischen Alltags von gestern, heute und morgen ist in unserer schnellebigen Zeit im sonnigen Portugal besonders eindrucksvoll: Vor der Revolution (vor zehn Jahren) waren noch 45 Prozent der Bevölkerung Analphabeten, und heute finden wir in Insti- tuten und Kliniken computergesteuerte Kombinationsag- gregate als Rechenmaschinen, Computertomographen oder andere diagnostische Geräte. Vor zehn Jahren waren die Ärzte eine privilegierte Sonderschicht, kostbar vor allem, weil nicht sehr zahlreich, und sehr teuer. Diese Position haben sie bis heute noch bewahrt. Morgen jedoch wird es schon anders aussehen. Wie in Europas Norden strömten in den letzten Jahren unvergleichlich mehrJunge in die Universität, so daß der Konkurrenzkampf grö- ßer wurde und die Gewinnchancen kleiner werden.

W

er vor zehn Jahren dem kalten Norden kurz entflie- hen wollte und nach Por- tugal flog, um dort zu extrem billi- gen Preisen in gut geführten Ho- tels ein paar Tage zu verbringen, im warmen Meer zu baden, die heiße Sonne zu genießen, der sah den Bauern auf dem farbigen zweirädrigen Eselswagen, neben ihm, zu Fuß mit Sonnenschirm, die schwarzgekleidete Ehehälfte, in die Stadt ziehen. Die Kranken suchten die Polikliniken der vielen konfessionellen Spitäler auf, wenn sie nicht, wohlhabend genug, den Privatarzt konsultierten. Zum Arzt ging man stets im Sonntagsanzug, der sehr malerisch und schön war.

Mochte man noch so arm sein, nach außen — das war das erste Gebot und charakteristisch für den angeborenen Stolz des Volkes

— hat alles schön zu sein: die Klei- dung, der Anblick des Hauses mit seinen weißen, alljährlich frisch gekalkten Wänden und blauen Tür- und Fensterrahmen. Wie es drinnen aussah, geht niemanden was an: meist kein Wasser, die La- gerstätte auf ebener Erde, der Hausrat ärmlich, die Speicher we- nig gefüllt. Heute sind die Esels- karren schon fast verschwunden.

Den Betrieb einer solchen Polikli- nik kennenzulernen war ein Erleb-

Zehn Jahre nach der Revolution der Nelken

Portugals Gesundheitswesen auf dem „Weg in eine neue Zeit"

Fernando Brito da Mana

nis. Der Korridor war meist auch Warteraum. Hier spielte sich alles ab. Einen Zeitplan gab es nicht.

Alle waren um neun Uhr bestellt.

Dazu kamen die Notfälle. Zum Ste- hen war meist kein Platz mehr frei, ungeachtet, ob einer mit Krücken kam oder drei bis vier Kinder mit sich brachte. öffnete sich dann ei- ne der vielen Türen, wartete jeder mit hoffnungsvollem Blick, ob er nun, nach drei bis vier Stunden Wartezeit, an der Reihe sei. — Die- se geduldig wartende Menge, die- se fast fatalistische Ergebenheit in einer momentanen Lage ist ein

Revolution vor zehn Jahren: Fall- schirmspringer, Nelke im Knopfloch

Foto: Sven Simon

Kernmerkmal der portugiesischen Bevölkerung. Keine Nervosität, keine Gereiztheit. Wenn eine Fa- milie bei dem langen Warten den Kindern ein Butterbrot, Feigen oder Orangen serviert, und Sie sa- gen, vielleicht nur zum Scherz,

„guten Appetit", dann wird Ihnen gleich eine Orange oder ein Stück Wurst hingereicht: „Bitte, essen Sie mit!" Und welche Enttäu- schung, wenn Sie es abschlagen.

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1974 — Kinder vor Revolutionsparo- len. Das Foto (wie auch das auf Seite 1531) ist, mit freundlicher Genehmigung des Verlages, dem Buch: Cau- vin, Portugal, Hallwag-Verlag, entnommen

Neue Organisationsformen Das heutige Portugal gibt sich große Mühe, nach den 400 bis 500 durchträumten Jahren den An- schluß an das übrige Europa wie- derherzustellen. Es wurden neue Spitäler mit den modernsten Ein- richtungen gebaut. Natürlich vor- erst nur in großen Bezirken. Es ist klar, daß die kleinen konfessionel- len Häuser nur wenige Speziali- sten hatten, so daß die Kranken, wenn es sich nicht nur um banale Leiden handelte, meist in die Hauptstadt fahren mußten — und die Krankenkasse hat das bezahlt.

Diese uralte Gepflogenheit wird auch noch lange bleiben. Kommt man doch so billig und legitim nicht wieder einmal ins Zentrum des Landes. Was Paris einst in Frankreich, ist Lissabon für Portu- gal. Man fehlt dann nicht einen halben Tag, sondern zwei oder drei Tage am Arbeitsplatz. Man fährt auch nicht alleine, sondern mit einer Begleitperson, der Ehe- frau oder dem Mann.

Bis die neuen Spitäler reibungslos funktionieren, geht es oft lange.

Dennoch wurden heute, um Geld zu sparen, die kleinen Gemeinde- spitäler ungeachtet ob das neue Spital schon funktioniert, ge- schlossen, so daß an die geduldi- ge Landbevölkerung erneute An- forderungen gestellt werden. An solche Härtefälle sind sie jedoch mehr als gewöhnt.

Nach der „Revolution", die ohne Blutvergießen verlief, wurden zu selbstherrliche Chefärzte des öfte- ren abgesetzt, ohne daß ein Ersatz einsprang. Oder die alten Chefs weigerten sich, praktisch umsonst die Operationen, die ihnen so viel Reichtum eingebracht hatten, durchzuführen. Die kleine Chirur- gie in der Privatpraxis war für sie einträglicher, so daß sie weiterhin Häuser und Wohnblöcke bauen konnten.

Die menschliche Geduld des Vol- kes, seine Gastfreundlichkeit und den Stolz, etwelche Armut zu überdecken, verstehen wir besser,

wenn wir kurz die Geschichte Por- tugals überblicken.

Im 2. Jahrtausend vor Christus be- setzten Kelten und Iberer Portu- gal. Etwa 1800 vor Christus pas- sierten Phönizier, aus dem Liba- non kommend, den Felsen von Gi- braltar und zogen bis zur Nordsee.

Mittelmeer-Mischung

In Portugal eröffneten sie an der Atlantikküste Marktplätze. Im 5.

und 4. Jahrhundert vor Christus

wurden sie von den Griechen und Karthagern verjagt, um selbst 218 vor Christus den Römern Platz zu machen. Selbst unter Caesar 61-41 vor Christus war Portugal nicht vollständig unterworfen. Im 1. Jahrhundert nach Christus be- gann bereits die Evangelisation, im 8. Jahrhundert kam die Inva- sion der Araber, Berber und Inder.

1111 wurde Alfonso Henriques ge- boren, der Schöpfer des Königrei- ches Portugal und der Dynastie der Burgunder. 1131 sein totaler Sieg gegen die fünf maurischen Könige bei Queique. Noch zwei- mal (1189 und 1191) griffen die Araber an und eroberten den Sü- den Portugals. Erst ein Menschen-

alter später wurden sie endgültig vertrieben.

Zweimal überfielen die Spanier Portugal: 1385 Juan 1., 1580 Phil- ipp II. 1642 wurden sie endgültig hinausgeworfen.

Welche Besatzung hat nun die tiefsten Spuren hinterlassen? Be- züglich der Sprache ohne Zweifel die Römer: Portugiesisch ist eine romanische Sprache wie Spa- nisch, Französisch und Italienisch, allerdings ist es älter als die ge- nannten Sprachen, vergleichbar

eher dem Sardischen oder Ladini- schen. Es enthält viele arabische Wurzeln, man sagt etwa 10 Pro- zent, besonders in den Dialekten des Südens, der Algarve und des Alentejo. Viel ausgeprägter ist der arabische Einschlag in der Archi- tektonik alter Häuser, aber noch mehr im Wesen und Aussehen der Menschen, besonders im Süden.

Betrachtet man in Portimäo oder Faro eine Schar von Mädchen, die von der Schule kommen oder den Hafen entlang schlendern, heute alle in Blue Jeans, so daß die kur- zen Beine und die molligen Run- dungen noch deutlicher werden, dann fällt der langsame, erhabene Gang auf, genauso majestätisch

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wie eine Dromedarkarawane, die durch die Wüste zieht.

Sehr stark ist auch der Einschlag der Afrikaner. Zuerst waren es Sklaven, später die Mitarbeiter in den Kolonien, die sich in Portugal sehr schnell assimilierten. Typisch für Portugal und in scharfem Kon- trast zu Engländern und Hollän- dern: Rassismus kennt Portugal nicht! Auch nicht in den Kolonien.

Mischehen waren nie verboten. So finden wir krause Haare und wul- stige Lippen, beide dominant ver- erbt, im Norden so häufig wie im Süden. Genauso assimiliert sind die vielen Juden: Im 13. Jahrhun- dert mit den Arabern eingewan- dert, fanden sie besonders 1492, als sie in Spanien vertrieben wur- den, in Portugal zunächst gastli- che Aufnahme. Vier Jahre später wurden sie auch hier verjagt, wenn sie nicht konvertierten—was die meisten taten. Sehr häufig tra- gen sie noch heute als Christen den Judenstern am Halskettchen.

Übrigens gibt es im Zentrum auch eine ziemlich geschlossene Volks- gruppe, die auf hängengebliebene Westgoten zurückgeht, aber Schwaben genannt wird. Auffal- lend ist, daß jene Portugiesen, die aus den Kolonien zurückkehrten, wesentlich disziplinierter und diesbezüglich über ihr Mutterland enttäuscht sind. Am störendsten wirkt sich dieser zähe Gang in der Administration des Landes aus, auch im Gesundheitswesen. Ein kleines Beispiel:

Der gescheiterte Pathologe Die Algarve ist eines der verwöhn- testen Wintersonnenparadiese Eu- ropas. Kein Wunder, daß sich ver- wöhnte alte Leute aus England, Holland, Deutschland und Ameri- ka hier niederlassen. Böse Krank- heiten treten jedoch im Alter häufi- ger auf. Doch gibt es in der ganzen Algarve keinen Histopathologen.

Die Probeexzisionen müssen ins Krebszentrum nach Lissabon ge- schickt werden. Das Resultat ist nach drei bis vier Monaten noch nicht zurück. Da empfand vor ein

paar Jahren ein deutscher emeri- tierter Pathologe, der in Albufeira seine Villa hatte, Mitleid und war bereit, unentgeltlich ein kleines Histologielabor zu eröffnen. Alle Ärzte waren begeistert. Der Pro- fessor hielt strikt den Dienstweg inne, sandte seinen Vorschlag mit Kurrikulum, Diplomen und allen Unterlagen an das zuständige Mi- nisterium in Lissabon. Da nach sechs Monaten keine Antwort ein- traf, nochmalige Anfrage mit ein- geschriebenem Brief, der nach 12 Monaten wiederholt wurde. Nach anderthalb Jahren verlor er die Geduld, verkaufte das mitgebrach- te Mikrotom und Mikroskop mit- samt Zutaten und ward nicht mehr gesehen.

Saudade

Wenn man Portugal besser kennt, weiß man: Das hat vielleicht einen anderen Grund als nur administra- tive Nachlässigkeit. Jegliche Ad- ministration ist von Papierwerk überschwemmt, in Portugal insbe- sondere. Und was schlimmer ist:

Man hält mit mittelalterlicher Gläubigkeit am Wert dieser Papie- re fest. Der Pathologieprofessor wäre für die Algarve ein Geschenk Gottes gewesen, noch mehr für die vielen, die ihn gebraucht hät- ten. Aber da in den Reglementen ein solcher Fall nicht erwähnt ist, ein Präzedenzfall jedoch vermie- den werden muß, schweigt man lieber, leidet mit den Leidenden und trauert um die Toten. Denn daß die ganze Geschichte traurig war, sagte jeder .. .

Diese immanente Traurigkeit, fast an Fatalismus grenzende Erge- benheit in die Härten des Daseins, ist ein weiteres Merkmal der portu- giesischen Seele und tritt am be- sten in den typischen Volkslie- dern, den Fados, zu Tage. Halb wird man an arabische Gesänge, halb an die traurigen Melodien der heimwehkranken Sklaven erin- nert. Im Norden gibt es auch Melo- dien, die fast russisch anmuten — aber doch so ganz anders sind.

Die Fados werden von Männern

gesungen. In schwarzem Mantel, oft mit Kapuze, steht der Sänger im Säulengang eines alten Klo- sters oder auf der Treppe eines Portals bei Kerzenlicht, ihm zu Fü- ßen die beiden Gitarristen. Die Stimmung ist sehr feierlich, stets eindrucksvoll. Die Fados von Co- imbra sind besonders berühmt.

Zu dieser geheimen Trauer paßt auch die tiefe Religiosität im Vol- ke. Nirgendwo (außer in Polen) fühlte sich der Papst so von Glau- ben und Hoffnung umwogen wie hier in Portugal. Der Portugiese ist auch nicht gewalttätig (die „Revo- lution" bestand darin, daß zwei Regimenter auf der Avenida de Li- berdade aufeinander zumarschier- ten, deren Kommandeure begrüß- ten sich als alte Kriegsschulkame- raden; man beschloß, keinen Schuß abzufeuern, und die Solda- ten plünderten die Oleandersträu- cher, deren Blüten sie in die Ge- wehrläufe steckten — daher: die

„Revolution der Nelken"). Noch vor ein paar Jahren, als der Touris- mus noch nicht so anschwoll, wur- de hier kaum gestohlen, kaum ge- bettelt. Wieviel Feuer jedoch hin- ter dieser stillen und duldsamen

Fassade lodert, zeigt sich im Stier- kampf, dem Nationalspiel uralter Zeiten.

Man darf den Stierkampf in Portu- gal jedoch nicht mit dem in Spa- nien vergleichen, weil es ganz ver- schiedene Spiele sind. Da enthüllt sich, wie mit Schlaglichtern, der tiefe Unterschied dieser beiden Volksseelen: in Spanien die bruta- le Gewalt, als Ziel: töten. In Portu- gal zuerst das elegante, subtile Spiel des Reiters mit dem Stier.

Die portugiesischen Stiere sind kleiner, weniger bullig wie die spa- nischen, aber nicht minder wild.

Mit unerhörter Virtuosität und idealer Einheit von Reiter und Pferd setzt der Cavalliero seine Fähnchen, die Banderittes ober- flächlich zwischen die Schulter- blätter als Symbol seines Sieges, als Symbol des Todes. Als Ab- schluß in Spanien jene widerliche Szene, wo das todmatte Tier, des- sen Rückenmark mit Lanzen

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durchwühlt und die Lebenskräfte zu vier Fünfteln zerstört sind, von einem prahlenden Matador durch Nackenstoß getötet wird. In Portu- gal das Gegenteil: Dem leicht ver- letzten und gereizten Tier stellt sich zum Abschluß ein Mann ent- gegen und läßt sich vom Stier auf die Hörner nehmen. Dahinter ste- hen in einer Reihe fünf bis sechs Mann, die Forcados, die den Stier, nur mit Menschenkraft, an Hör- nern und Schwanz packen und zum Stillstand bringen. Diese Par- forceleistung gelingt nicht immer, und so mancher tapferer Kämpfer wurde schwer verletzt — nur der Stier bleibt immer heil!

Ist es verwunderlich, daß wir die- selben Unterschiede auch in den Volksliedern der beiden Länder wiederfinden: der Spanier mit sei- nem Flamenco, voller Spannung, mit Stampfen und Schrei; in Por- tugal der Fado, in Trauer und Sehnsucht. Beim Spanier klingt klar: Ich will! Beim Portugiesen:

Ich möchte! Auch im Alltag wirkt der Spanier willensbetont, ehrgei- zig, der Portugiese bescheiden.

Der Spanier geht in die Kirche, weil er Beistand fordert, der Portu- giese, weil er für erhaltenen Bei- stand dankt. Die Äcker in Spanien sind mit den neuesten techni- schen Mitteln glänzend gepflegt und der Verkauf der Ernte hervor- ragend organisiert unter weitge- hender Ausschaltung des Zwi- schenhandels, um den Gewinn des Bauern zu mehren. In Portugal pflegen viele Kleinbauern mühsam ihr Äckerchen und danken Gott für die magere Ernte. Die Modernisie- rung setzte erst in den letzten Jah- ren ein.

Planung — planlos

Das Gesundheitswesen ist stark zentralistisch von Lissabon aus di- rigiert. Mit jeder neuen Regierung wird zwar die Spitze des Appara- tes ausgewechselt, die unteren Chargen jedoch, an den alten Rhythmus gewohnt, sind oft der explosiv-raschen Entwicklung,

auch im Gesundheitswesen der letzten Jahre, kaum gewachsen.

So wurde jüngst die Sparte „Spitä- ler" von den Gesundheitsämtern („centro de Saude") der Distrikte abgetrennt und direkt von Lissa- bon geleitet. Da aus der Ferne manches Sandkorn im Getriebe der Klinik der Aufsicht entgeht, kommt es nicht selten zu grotes- ken Situationen. So geschah es jüngst in einem Distrikthospital

des Südens: Programmgemäß stand der Chirurg um neun Uhr mit seinem Operationsteam, ge- waschen und im sterilen Tenu, der Patient angeschnallt auf dem Tisch, aber der Anästhesist kam und kam nicht. Sie warteten 20, 30 Minuten, geduldig, überdeckten mit Späßen und mit gekünsteltem Lachen die wachsende Ungeduld.

Nach 40 Minuten platzte dem Chir- urgen der Kragen, er zog seinen Operationsmantel aus und gab Befehl, den Patienten ins Zimmer zurückzubringen. In dem Moment kam der junge Anästhesist, ganz erbost, daß er nun umsonst ge-

kommen sei. Er wollte die Wärter zwingen, den Patienten wieder auf den Operationstisch zu bringen.

Da auch der Patient, nach langer Wartezeit, ebenfalls wünschte, endlich operiert zu werden, unter- stützte der StationsWärter den An- ästhesisten: Die Zeit sei vorbei, daß nur der Chirurg entscheiden könne. Schließlich sei das Mit- spracherecht aller eine legitime Tatsache! Der gereizte Chirurg,

Auf dem Lande hat die Revolu- tion nur wenig an der traditionellen Rollenverteilung geändert: der Va- ter (mit Stamm- halter) auf dem Muli, die Frau zu Fuß ein paar Schritte hinterher durch das hämische Lachen des Wärters noch mehr irritiert, packte diesen am Arm und stellte ihn vor die Tür. Der Wärter verklagte den Arzt wegen Handgreiflichkeit. Das Gericht erteilte dem Wärter eine Verwarnung, er habe sich nicht in Anästhesiefragen einzumischen;

und der Arzt wurde wegen Tätlich- keit zu drei Tagen Haft verurteilt—

mit Bewährung.

Danach kamen zwei der drei Anäs- thesisten so oft zu spät, daß der Operationsplan durcheinander- kam und stark reduziert werden mußte. Am meisten litten die Kran-

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ken, denn die Wartezeiten wurden immer länger. Niemand hatte Lust, sich die Finger zu verbrennen.

Erst als zwei Journalisten diese la- mentable Situation ausführlich an die Öffentlichkeit brachten, rea- gierte die Regierung. Dies ge- schah dann schnell, gründlich und mit Autorität.

Gerade bei den aufwendigen Spi- talbauten mitsamt ihren Einrich- tungen ist klar ersichtlich, welche immensen Anstrengungen die Re- gierung nicht scheut, um den An- schluß an Europa zu ermöglichen.

Dies ist um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, daß Portugal zu den ärmsten Staaten des Konti- nents gehört.

Medizin nach der Revolution In welchem Kontrast ist diese Ar- mut mit der reichen Vergangen- heit, wie sie uns besonders deut- lich in Coimbra, der Stadt mit der ältesten Universität Portugals (1290), entgegentritt. Eindrucks- voll die Bauten und Kirchen, aus der Zeit der Römer bis zum Ba- rock, eindrucksvoll vor allem die Universitätsbibliothek mit ihren al- ten Manuskripten und Büchern mit Goldschnitt und Lederein- band, in einer Reichhaltigkeit, wie sie mehr noch ihn nur die Vati- kansbibliothek aufweist. Doch in Coimbra hat jedermann Zutritt — in Rom nicht. Während neun Monate im Jahr hört man seit dem 15.

Jahrhundert die große Glocke die

„Stunde des Wissens" einläuten.

Coimbra, diese schöne Stadt am Montega-Fluß, ist das glanzvollste Bindeglied zwischen alter und neuer Zeit. Auch medizinisch sind Coimbra, Porto und Lissabon seit Jahrhunderten die eigentlichen Zentren des Landes. Sie halten mit der Neuzeit Schritt. Ihre Leute ge- hen viel ins Ausland, sie laden Gä- ste ein. Es gibt regelmäßige Fort- bildungskurse, mit kalligraphi- schen Diplomen bescheinigt, die coram publico mit namentlichem Aufruf persönlich vom Ordinarius oder Präsidenten ausgehändigt werden. Die Programme lassen er-

kennen, wie Porto auch heute noch stark englisch orientiert ist, während Lissabon und Coimbra mehr den Weg der Mitte gehen.

Vor der Revolution war die Land- bevölkerung numerisch und quali- tativ medizinisch schwach ver- sorgt. Zwar gab es Krankenkas- sen, und die ärztliche Versorgung war kostenlos. Das war auch in den ersten Jahren nach der Revo- lution noch so. Der Staat sorgte für die Kranken mehr als etwa für die viel umfassendere (und wichti- gere) Schulausbildung der Bevöl- kerung. Für die Installation eines Telefons haben auch heute noch Kranke absolute Priorität, vor Ärz- ten, Handelsleuten oder Politi- kern. Dagegen müssen auch arme Leute die Schulhefte und Bücher selbst bezahlen, auch den kleinen Imbiß, wenn es einen gibt. Ärzte, Spital und Medikamente dagegen waren frei. Damit strömten die Leute auch wegen Kleinigkeiten zum Arzt, so daß dieser oft nicht dazu kam, gründlich zu untersu- chen. Er griff zum Rezeptblock, für jedes Symptom 1 bis 2 Medika- mente — der Staat zahlt es ja.

Seit ein paar Jahren ist das an- ders: Die Medikamentenauswahl wurde drastisch eingeschränkt; 20 Prozent des Preises hat der Pa- tient zu tragen, wenn es ausländi- sche Mittel sind, sogar mehr. Geht er in die Ambulanz, muß er eben- falls eine Selbstbeteiligung zah- len, die die Kasse nicht zurückver- gütet. Dennoch sind die Ambula- torien noch immer stark gefüllt, denn die Leute sind es gewohnt, schnell zum Arzt zu gehen. Bei den Medikamenten wird jedoch sichtlich gebremst. An vielerlei Arzneien ist der Patient nicht mehr interessiert, es kommt zu teuer!

Vor einer Ärzteschwemme Auf die junge Ärztegeneration warten vor allem zwei große Pro- bleme. Nach der Revolution strömten, ähnlich wie die letzten 10 Jahre in Deutschland, 2- bis 3fach zuviele junge Leute auf die

Universität. In Bälde wird ein Ärz- teüberschuß erwartet. In diesem Jahr werden allein in den beiden industriearmen Außenprovinzen Minho und Algarve je 60 junge Ärzte für das Pflichtjahr im öffent- lichen Gesundheitsdienst (Cen- tros de Saude) eingesetzt. Von den aus Angola und Mozambique zurückgekehrten Ärzten tauchen jetzt 2 bis 3 junge Ärzte in kleinen Ortschaften auf.

Schlimmer als die Konkurrenzsor- gen sind die Geldsorgen. Je mehr Ärzte, desto mehr Kranke, sagt man hier. Nun haben die Ärzte und Fachärzte morgens an staatlichen Ambulatorien oder Spitälern zu ar- beiten und werden dafür bezahlt.

Nachmittags, meist nach 16 Uhr, können sie sich ihrer Privatpraxis widmen. Doch jede Praxiseinrich- tung braucht Geld. Niemand schießt ihnen das vor. Die Banken nehmen dafür 20 bis 25 Prozent Zinsen. So kann es leicht gesche- hen, daß einmal ein EKG zuviel und eine Injektion zu oft gemacht werden. Nur intravenöse Injektio- nen werden in der Praxis erstaun- licherweise gemieden. Ob sie zu umständlich sind? Intravenöse Antibiotika für Notfälle sind in den Apotheken kaum zu haben.

Doch wie gut sich das Gesund- heitswesen in Portugal entwickelt, ist schon daraus zu sehen, daß die vielen Engländer und Amerikaner, die früher, wenn sie krank wurden, ins British Hospital in Lissabon gingen, jetzt meist den Facharzt ihres Bezirkes konsultieren, so daß das British Hospital schon über finanzielle Engpässe klagt.

Schlimmer, als in Portugal krank zu werden, ist, einen Unfall zu ha- ben, der gerichtliche Abklärung nach sich zieht. Denn im Gegen- satz zur Medizin ist das Gerichts- wesen noch sehr archaisch, so da- hinschleppend, daß selbst einfa- che Streitpunkte sich über Jahre hinziehen können. Also cave!

Anschrift des Verfassers:

Fernando Brito da Mana Apartado 44

P 4200 Almansil

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