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Archiv "Was ist Gesundheit?: Fragen und Antworten" (11.11.1976)

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Was ist Gesundheit?

Fragen und Antworten

Gerhard Jungmann

Es wird heute viel von Gesundheit gesprochen — von dem Recht auf Gesundheit, von Gesundheitsgütern, Gesundheitsleistungen. Ge- sundheitssicherung und Gesundheitspolitik. Je länger man sich mit den Fragen der Gesundheit beschäftigt, umsomehr kommt einem zum Bewußtsein, wie wenig auch nur einigermaßen klar gesagt werden kann, was eigentlich unter Gesundheit zu verstehen ist.

Obwohl die Wechselbeziehungen zwischen gesund und krank den Menschen seit jeher bewußt sind, muß man immer wieder zu dem Ergebnis kommen, daß die Medizin als Wissenschaft und Praxis mit der Gesundheit begrifflich und praktisch wenig zu tun hat.

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Arzt und Medizin können viel für die Erhaltung und Wiederher- stellung der Gesundheit tun. Die Gesundheit ist aber keine Frage der Medizin, und es kann keine Rede davon sein, daß die Ge- sundheit in dem Mittelpunkt der Medizin stehen oder in den Mit- telpunkt des ärztlichen Denkens und Handelns gerückt werden müßte. Arzt und Medizin kön- nen und müssen dem Menschen bei der Erhaltung und Wieder- herstellung der Gesundheit hel- fen. Gesund sein und gesund werden kann nur der Mensch selbst.

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Die Frage nach Sinn und Wesen der Gesundheit ist eigentlich erst aktuell geworden, seit der Wert und die Bedeutung der Gesundheit sowohl für den einzelnen Men- schen wie auch für die menschli- che Gemeinschaft in das öffentli- che Bewußtsein getreten sind.

„Gesundheit ist das höchste Gut des Menschen" — „Gesundheit ist zwar nicht alles, ohne Gesundheit ist aber alles nichts" — allein die- se beiden Schlagworte zeigen, wie sehr die Gesundheit auch zu einem ökonomischen Begriff geworden ist. Nicht von ungefähr wird heute so viel von Gesundheitsgütern und von Gesundheitsleistungen gespro- chen. Die Gesundheit ist damit auch zu einem politisch-soziologi- schen Begriff geworden. Die Bedeu- tung der Gesundheit für das gesell- schaftliche Zusammenleben steht

heute im Vordergrund des öffentli- chen Interesses. Das Recht auf Ge- sundheit und die Gesundheitspoli- tik gehören sogar zu den vordring- lichen häufigsten Themen der poli- tischen Diskussion, wobei Medizin und Gesundheitswesen mehr und mehr als ein und dasselbe ver- standen werden, obwohl sich dafür weder aus der wissenschaftlichen noch aus der praktischen Medizin hinreichende oder zwingende Argu- mente ergeben.

Für gewöhnlich wird Gesundheit als Idealzustand oder als Norm verstanden, die Krankheit dagegen als eine Art von Betriebsstörung, vielfach auch als ein Irrtum der Na- tur, die mit Hilfe der immer perfek- ter werdenden naturwissenschaft- lich-technischen Medizin korrigiert oder repariert werden können. >

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So erstaunlich es für viele auch er- scheinen mag, die Frage nach dem Sinn und Wesen der Gesundheit ist für die Medizin und für den Arzt praktisch bedeutungslos, weil we- der die Medizin noch der Arzt dar- aus praktisch verwertbare Konse- quenzen ziehen können. Das ist auch der Grund dafür, daß die Fra- ge nach der Gesundheit in der ge- samten medizinischen Literatur praktisch keine Rolle spielt. Nur sehr wenige, zu erkenntnistheore- tischen Überlegungen neigende ärztlich-medizinische Autoren ha- ben sich überhaupt mit der Frage beschäftigt, was unter Gesundheit zu verstehen ist.

Die Unbrauchbarkeit zahlreicher Definitionen

Die Unbrauchbarkeit der verschie- denen Gesundheitsdefinitionen gilt nicht nur für so vordergründige De- finitionen wie die, daß Gesundheit als Freisein von Krankheiten oder als der Normalzustand des Orga- nismus zu verstehen sei. Das gilt erst recht für die Formulierung, daß die Gesundheit als die optima- le Gesamtfunktion des Organismus zu verstehen wäre. Wenn schon nicht zu definieren ist, was unter normal zu verstehen ist, so ist erst recht unklar, ob die Gesundheit als ein Zustand verstanden werden kann und ob unter dem Organismus nur der Körper oder auch die psy- chosomatischen Zusammenhänge der menschlichen Existenz zu ver- stehen sind. Wenn es aber schon unmöglich ist, das Normale zu defi- nieren, so gilt das erst recht für die Definition des Optimalen.

Nicht weniger problematisch ist die Gesundheitsdefinition der WHO (1946), nach der unter Gesundheit das vollständige körperliche, gei- stig-seelische und soziale Wohlbe- finden des Menschen zu verstehen ist. Selbst den verantwortlichen Leuten der WHO ist längst klarge- worden, daß diese Definition eine politische Definition ist — geeignet und auch dazu bestimmt, politische Ansprüche, Erwartungen und Re-

gelungen auszulösen, ungeeignet,

ja unbrauchbar jedoch für die wissenschaftliche und praktische Medizin. Auch der nach Erkenntnis strebende Mensch kann daraus kei- nen Nutzen ziehen, von den damit verbundenen bitteren Enttäuschun- gen ganz zu schweigen.

Unabhängig von der Frage, ob auf eine Definition der Gesundheit ver- zichtet werden kann, weil sie uns in der Erfüllung unserer ärztlichen Aufgaben nicht weiterbringt, wer- den wir doch auch als Ärzte täg- lich mit Fragen der Gesundheit kon- frontiert, und es wird von uns erwar- tet, daß wir die Gesundheit pflegen, erhalten, sichern, wiederherstel- len. Jeden Tag und überall wird von einem mehr oder weniger quan- tifizierbaren Bedarf an Gesund- heitsgütern oder Gesundheitslei- stungen gesprochen, dessen Befrie- digung von den Ärzten erwartet wird. Die Zahl der Menschen, die der Pflege, Erhaltung und Wieder- herstellung der Gesundheit dienen, wird von Jahr zu Jahr größer. Die Kosten, die für die Gesundheit auf- gewendet werden, steigen so schnell, daß die Stunde der Wahr-

heit abzusehen ist, wenn wir gefragt werden, warum und für was diese Unsummen ausgegeben werden, ob die Hilfe für die Kranken vielleicht doch wichtiger ist als die Jagd nach dem Phantom der Gesundheit und ob das politische Verständnis der Gesundheit tatsächlich der richtige Ansatzpunkt für so viel staatlichen und sozialen Aufwand ist. Diese Fragen werden heute noch nicht in aller Öffentlichkeit gestellt. Es ist aber abzusehen, daß sie schon bald auch öffentlich ge- stellt und beantwortet werden müs- sen.

Gesundheit als Gegenstand politischer Erwartungen

Nach seiner sprachlichen Herkunft bedeutet das Wort „gesund" so viel wie schnell, kräftig, stark, was in dem bayerischen „G'sund san ma" heute noch nachklingt. Ob- wohl das Substantiv Gesundheit auch schon im Mittelhochdeut- schen vorkommen soll, ist es doch

erst in neuerer Zeit in den allge- meinen Sprachgebrauch überge- gangen.

In der „Kunst, das menschliche Le- ben zu verlängern", der „Makro- biotik" von Christoph Wilhelm Hu- feland, dem wohl bedeutendsten Gesundheitsbuch der Zeit um 1800, ist von Gesundheit jedenfalls noch nicht die Rede, ja es ist bei der Lektüre dieses heute noch gut les- baren Buches geradezu auffallend, wie entbehrlich dieser abstrakte Begriff für die überzeugende Be- handlung konkreter Fragen der persönlichen Lebensführung ist.

Seit wann die Gesundheit in den Mittelpunkt des öffentlichen Inter- esses gerückt ist, ist aus der ein- schlägigen Literatur nicht zu ent- nehmen, doch sind dafür zweifellos eher politische als wissenschaftli- che Gründe maßgebend gewesen.

Dabei hat auch die Popularisierung der Medizin und ihrer außerordent- lichen Fortschritte eine wesentli- che Rolle gespielt, doch ist die Ge- sundheit tatsächlich erst dann in den Mittelpunkt des allgemeinen und öffentlichen Interesses ge- rückt, als sie zum Gegenstand poli- tischer Erwartungen und Verspre- chungen, Ansprüche und Hoffnun- gen geworden ist.

Obwohl die Meinung, daß die Ge- sundheit machbar und beliebig ma- nipulierbar wäre, irrig ist, ist das wachsende Interesse an der Ge- sundheit doch ebenso verständlich wie berechtigt, ja sogar begrüßens- wert. Es ist auch verständlich, wenn die Erhaltung und Wiederher- stellung der Gesundheit heute all- gemein als Sinn und Zweck der Medizin verstanden werden und mit dieser Vorstellung so viele Er- wartungen und Ansprüche verbun- den werden, obwohl die Ärzte und die Medizin diesen Hoffnungen nur insoweit gerecht werden können, wie die Möglichkeiten der Vorbeu- gung, Früherkennung und Heilung von Krankheiten verbessert werden

können.

Umso mehr müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob die Erhaltung und Wiederherstellung

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der menschlichen Gesundheit als der eigentliche Sinn und Zweck der Medizin zu verstehen ist und ob Medizin und Gesundheitswesen tatsächlich ein und dasselbe sind.

Wenn die Gesundheit für die wis- senschaftliche Medizin und für die Erfüllung der ärztlichen Aufgaben nicht die Bedeutung hat, die ihr für gewöhnlich zugeschrieben wird, so müssen wir als Ärzte erst recht Klarheit darüber gewinnen, was Gesundheit ist, schon weil wir uns sonst dem Verdacht oder sogar dem Vorwurf aussetzen, daß wir unsere ärztliche Aufgabe nicht er- kannt hätten oder daß wir ihr nicht gerecht werden wollten.

Nicht die Gesundheit — die Krankheit

ist Gegenstand der Medizin

Wenn heute vielfach kritisiert wird, daß sich die Medizin zu viel mit den Krankheiten und zu wenig mit der Gesundheit beschäftige, so geht diese Kritik an der Tat- sache vorbei, daß nicht die Ge- sundheit, sondern die Krankheit — ihre Heilung, Vorbeugung und Ver- hütung — Gegenstand der wissen- schaftlichen und der praktischen Medizin ist. Obwohl die Pathologie als die Wissenschaft von der Krankheit für gewöhnlich im begriff- lichen Kontext zu der Physiologie steht, ist doch auch sie nicht etwa als die Wissenschaft von der Ge- sundheit, sondern als die Wissen- schaft von den Lebensvorgängen zu verstehen. Wenn in neuerer Zeit versucht worden ist, die Hygiene als Teil der wissenschaftlichen Me- dizin als Gesundheitslehre zu inter- pretieren, so ist auch das unzutref- fend und irreführend. Schon der Vater der modernen Hygiene, Max von Pettenkofer, wollte die Hygiene ausdrücklich als Präventivmedizin verstanden wissen und nur so kann die wissenschaftliche Hygiene auch heute noch zutreffend ver- standen werden.

Wenn die Physiologie auch nicht als die Wissenschaft von der Ge- sundheit, sondern als Wissenschaft

der Lebensvorgänge zu verstehen ist, so spielt die Frage nach der Grenze zwischen Physiologie und Pathologie im wissenschaftlich-me- dizinischen Bereich doch eine nicht geringe Rolle. Wenn man daraus jedoch praktisch verwert- bare Kriterien für die Definition der Gesundheit ableiten will, stößt man auf unüberwindbare Schwie- rigkeiten. Das gilt um so mehr, als die Gesundheit nicht als eine Frage des Zustandes, sondern nur als eine Frage der Funktion oder der Leistungs- und Anpassungsfä- higkeit verstanden werden kann.

Ungleich wichtiger als bestimmte und abstrakte Normen oder Para- meter ist die als Homoestase bezeichnete Fähigkeit des Or- ganismus, die wesentlichen Le- bensvorgänge durch weitgehend autonome Mechanismen zu steu- ern. Dieser 1932 von Cannon ge- prägte und als „wisdom of the body" interpretierte Begriff eines schon längst bekannten Lebensge- setzes gehört zum Verständnis der Lebensvorgänge. Das Verständnis dieser immanenten Weisheit der Lebensvorgänge macht zugleich deutlich, wie sehr auch pathologi- sche Erscheinungen als Reaktio- nen, oft genug geradezu als Be- weis für ein „gesundes Reaktions- vermögen" des Organismus ver- standen werden müssen.

Aussagen über die Gesundheit:

Mehr Interpretationen als Definitionen

In der medizinisch-wissenschaftli- chen Literatur finden wir, wie schon gesagt, nur sehr wenige Aussagen über die Gesundheit — mehr Interpretationen als Definitio- nen. Dazu gehören z. B. auch die als Abgrenzung gegenüber der Ge- sundheit verstandene Definition der Krankheit von Rössle als der

„Gesamtheit abnorm gearteter Re- aktionen auf krankmachende Rei- ze", einer „verminderten Anpas- sungsfähigkeit" wie es Aschhoff ausgedrückt hat. Auch die von der Abweichung von der Gesundheit ausgehende Krankheitsdefinition

namhafter Kliniker, wie z. B. der, daß Krankheit als die „Gestaltung von Lebensvorgängen unter beson- deren Bedingungen" zu verstehen ist (Krehl), daß „krank ist, was des Arztes bedarf" (v. Weizsäcker) oder daß „Krankheit vom Menschen empfunden und vom Arzt erkannt wird" (Siebeck), führen uns hier nicht weiter.

Das gilt auch für das bekannte Wort von Richard Siebeck, daß.

„dem Gesunden ein Gefühl der Fri- sche und der Kraft eigen ist, er lebt, ohne zu wissen, oder eigent- lich zu wissen, wie es geht, ohne Empfindung von seinen Organen, im natürlichen Drang, sich zu ent- falten und sich auszuwirken" oder daß „wir nicht leben, um gesund zu sein, sondern daß wir gesund sind, gesund sein wollen, um zu leben und zu wirken" oder daß „Gesund- heit ein uns anvertrautes Gut ist — nicht Selbstzweck, sondern be- stimmt und begrenzt durch den Sinn des Lebens" oder daß „die Frage gesund oder krank nicht nur nach ‚Befunden', sondern wesent- lich auch nach der Frage der Per- sönlichkeit, ihrer Geschichte und ihrer Lage gestellt und beantwortet werden muß".

In einem 1967 in dieser Zeitschrift veröffentlichten Aufsatz mit der Überschrift „Was ist Gesundheit?"

kam Arthur Jores zu dem Ergebnis, daß der Mensch gesund ist, wenn er „im Vollbesitz seiner Entfaltungs- möglichkeit" ist und daß es nicht möglich ist, „Entscheidungen über gesund und krank von dem objek- tiven Befund abhängig zu machen".

Das

Normale ist nicht

gleichbedeutend mit Gesundheit Wir wollen diese Gedankengänge hier nicht weiterverfolgen, können aber festhalten, daß die Norm bzw.

das Normale nicht gleichbedeu- tend mit Gesundheit ist, sondern daß die Reaktionsfähigkeit des Or- ganismus wesentliches Merkmal der organischen Gesundheit ist.

Der Begriff der Homoestase bildet die Brücke zum Verständnis dafür,

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daß Gesundheit nicht als Zustand, sondern als aktive Leistung des Organismus zu verstehen ist.

Außer unseren immer noch unvoll- kommenen Kenntnissen über die biologischen Zusammenhänge gibt es aber auch soziale und ethische Gesichtspunkte zur Definition der menschlichen Gesundheit, die In- halt und Gegenstand der soziolo- gisch-politischen Interpretation der Gesundheit und damit zugleich auch eine starke Antriebskraft für die Gesundheitspolitik geworden sind. Auch die Verfechter dieser In- terpretation berufen sich mit Vor- liebe auf die Griechen, wobei je- doch regelmäßig übersehen wird, daß die frühen Erkenntnisse über Hygiene und Diät zwar ideale Ein- sichten gewesen sind, die aber ebensowenig und wahrscheinlich noch sehr viel weniger befolgt wur- den, als es heute üblich ist. Was für die griechische Gesundheits- lehre gilt, das gilt auch für die Vor- schriften des Plutarch zum Schutze der Gesundheit „ut sit mens sana in corpore sano".

Die Behauptung, daß alle diese überlieferten Erfahrungen von dem angeblich leibfeindlichen Christen- tum vergessen oder in den Wind geschlagen worden seien, gehört zum Standard derartiger Darstel- lungen, wobei aber regelmäßig übersehen wird, daß z. B. das Ba- dewesen schon in frühen christli- chen Zeiten und erst recht im ho- hen Mittelalter eine Blüte erlebt hat wie nie zuvor und nie danach.

Regelmäßig übersehen wird auch, daß die Verbindung von antiker Überlieferung und arabischen Ein- flüssen in den mittelalterlichen Städten zu einem beachtlichen hy- gienischen Standard geführt hat, der — soweit wir das heute noch feststellen können — allerdings weitgehend auf bestimmte Schich- ten beschränkt gewesen ist. Das dürfte aber auch in den vorherge- henden Zeiten kaum anders gewe- sen sein und genauso auch für die angeblich so „machtvolle Gesund- heitsbewegung" des 18. Jahrhun- derts gelten, in dem die Populari-

sierung der Gesundheitspflege nicht zuletzt auch als eine Folge der allgemeinen sozialen Eman- zipation anzusehen ist.

Soziale Medizin —

sozialisiertes Gesundheitswesen ...

Die im 18. Jahrhundert erschiene- nen gesundheitserzieherischen Schriften von John Locke

„Throughts concerning education"

(1693), Rousseau („Emile" 1762), Peter Franke „System der vollstän- digen medizinischen Polizey", der

„Gesundheitskatechismus" von Bernhard Christoph Faust (1794) bis hin zu der schon erwähnten

„Makrobiotik" von Christoph Wil- helm Hufeland (1796-1823), sind trotz ihrer Resonanz in den gebildeten Kreisen in ihrer Wir- kung auf die breiten Schichten ebenso beschränkt geblieben wie der mit dem Namen Virchow ver- bundene Versuch einer „medizini- schen Reform" im Jahre 1848. Von Virchow stammt der Satz, daß die „Medizin eine soziale Wissen- schaft ist und die Politik nichts weiter als Medizin im Großen".

Die Arbeitskraft dürfe nicht länger in der Knechtschaft des Ka- pitals stehen. Der Staat habe die Pflicht, für das körperliche Wohler- gehen aller seiner Bürger und da- mit auch für die Pflege und Erhal- tung ihrer Gesundheit zu sorgen.

Von da bis zu der These Lenins, daß „die Sozialisierung des Ge- sundheitswesens die Vorausset- zung für die Sozialisierung der Ge- sellschaft" ist, ist kein sehr weiter Weg.

Die Sozialisierung des schwedi- schen und englischen Gesund- heitswesens hat gezeigt, wie weit dieser Prozeß auch in gemäßigt sozialistischen Ländern schon vor- gedrungen ist, und auch die Inten- sität und der Stellenwert der ge- sundheitspolitischen Diskussion in unserem eigenen Lande sind allen- falls ein Beweis für die Notwendig- keit, Klarheit über die hier zur Dis- kussion stehenden Fragen zu ge- winnen.

Keinerlei Identität

zwischen Medizin und Gesundheit Die Früherkennung von Krankhei- ten ist ein von niemandem ange- zweifeltes Gebot der Vernunft und der Menschlichkeit. Das gilt eben- so auch für eine vernünftige Erzie- hung zu gesundheitsgemäßer Ver- haltens- und Lebensweise und für die Aufklärung über die Vermei- dung gesundheitlicher Schäden durch gesundheitswidriges Verhal- ten, eine Aufgabe, die zwar nicht allein von den Ärzten, aber auch nicht ohne die Mitwirkung der Ärz- te gelöst werden kann.

Wenn man davon ausgeht, daß das Gesundheitsbewußtsein der Men- schen gestärkt und ständig weiter- entwickelt werden muß, so ist da- mit keineswegs gesagt, daß die Ge- sundheit in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen und praktischen Medizin rücken müßte, und es be- steht auch kein vernünftiger Grund dafür, daß der Gesundheitspoli- tik ein maßgebender Einfluß auf die Medizin eingeräumt werden müßte.

Es wäre verfehlt, daraus eine Zu- stimmung zu der von Iwan Illich maßlos übertriebenen These ablei- ten zu wollen, daß „die Medizin zu einer Hauptgefahr für die Gesund- heit geworden" sei. Auch in seinem Buch über die „Enteignung der Ge- sundheit" sucht man vergebens nach einer auch nur halbwegs brauchbaren oder befriedigenden Definition der Gesundheit. Im Ge- genteil: Iwan Illichs Buch ist ein er- neuter Beweis dafür, wie viel Un- nützes über die Gesundheit ge- schrieben werden kann, ohne daß der Leser auch nur ein Jota mehr an Klarheit darüber gewinnen kann, was unter Gesundheit zu verstehen ist — außer einer erneuten Bestäti- gung dafür, daß von einer Identität von Gesundheit und Medizin keine Rede sein kann.

Es ist immer dieselbe Feststellung, die wir bei der Suche nach einer

Definition der Gesundheit treffen

müssen: Es gibt keine klare und überzeugende Definition für diesen

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auch von uns selbst so oft ge- brauchten Begriff.

Wenn Gesundheit so schwer oder überhaupt nicht zu definieren ist, so liegt das schon in der sprach- lichen Eigenheit dieses Begriffes.

Alle mit dem früher einmal selb- ständigen Wortteil -heit gebilde- ten Begriffe, wie Freiheit, Schön- heit, Sicherheit, bringen mit der Ab- straktion bestimmter Eigenschaften über die äußerliche Beschreibung hinaus auch die Bedeutung und den Rang des Begriffs zum Aus- druck. Alle diese Begriffe sind schon von ihrer sprachlichen Her- kunft her eng mit der Person des Menschen verbunden. Ihre Bedeu- tung liegt nicht zuletzt darin, daß sie zugleich abstrakt und personen- bezogen sind.

Nach allen Vorbehalten:

Versuch einer Definition

Die Gesundheit ist als eine Eigen- schaft des Menschen zu verstehen.

Das entspricht insoweit auch dem Verständnis der Anthropologie, als sie den Menschen als eine den bio- logischen Naturgesetzen unterwor- fene personale Individualität ver- steht.

Gesundheit ist nicht vorstellbar ohne Leben. Die Gesundheit ist ein Prinzip des Lebens von seiner Ent- stehung bis zum Tode, aber keine Alternative zur Krankheit. Direkt oder indirekt ist die Krankheit zwar als eine Bedrohung oder Schädi- gung der Gesundheit zu verstehen, nicht aber als das Gegenteil von Gesundheit.

Gesundheit ist die Fähigkeit, den vielfältigen Anforderungen des Le- bens zu entsprechen: Leistungsfä- higkeit, Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft.

Über ihre biologischen Maßstäbe hinaus ist die Gesundheit etwas spezifisch Menschliches — Glück und Gabe ebenso wie Aufgabe und Verpflichtung, nicht nur Veranla- gung, aber auch nicht nur das Er- gebnis von äußeren Einflüssen,

ebenso auch das Ergebnis von Er- ziehung, Wissen, Verhalten, von persönlicher Leistung jedes einzel- nen Menschen.

Zur Gesundheit gehören nicht nur körperliche, sondern auch geistig- seelische Kräfte, die gepflegt und geübt werden müssen.

Als Ausdruck des Lebens ist Ge- sundheit auch Lebensfreude und Lebensgenuß, beides allerdings nicht im Sinne eines Rechts, auf das man einen Anspruch erheben könnte.

Gesundheit ist kein Gut, das man kaufen kann — schon gar nicht

„von der Stange". Gesundheit ist ein ganz persönlicher Wert, den man pflegen, erhalten, erwerben, aber auch verlieren kann. Jeder ist für seine eigene Gesundheit ver- antwortlich, selbstverständlich auch für die Gesundheit seiner Mit- menschen, vor allem seiner eige- nen Kinder.

Arzt und Medizin können viel für die Erhaltung und Wiederherstel- lung der Gesundheit tun. Die Ge- sundheit ist aber keine Frage der Medizin, und es kann keine Rede davon sein, daß die Gesundheit in dem Mittelpunkt der Medizin ste- hen oder in den Mittelpunkt des ärztlichen Denkens und Handelns gerückt werden müßte. Arzt und Medizin können und müssen dem Menschen bei der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit helfen. Gesund sein und gesund werden kann nur der Mensch selbst.

Die Gesunden

bedürfen des Arztes nicht ...

Es wäre nicht nötig, sich so einge- hend mit dem Verhältnis zwischen Medizin und Gesundheit zu be- schäftigen, wenn der Medizin und den Ärzten nicht immer wieder der Vorwurf gemacht würde, daß es beiden — der Medizin und den Ärzten — an dem nötigen Ver- ständnis für die Gesundheit und an der Bereitschaft fehle, die Bedeu-

tung der Gesundheit für die Men- schen zu erkennen und entspre- chend zu handeln.

Es wird den Ärzten vorgeworfen, daß sie ihre eigentliche Aufgabe, der Gesundheit der auf ihre Hilfe angewiesenen Menschen zu die- nen, aus traditioneller oder profes- sioneller Engstirnigkeit verkennen und statt dessen an dem überhol- ten therapeutischen Privileg fest- halten würden, Kranke oder Krank- heiten zu behandeln.

Dieser Vorwurf würde keine weite- re Beachtung verdienen, wenn er nicht gerade von denen erhoben würde, die den Ärzten und der Öf- fentlichkeit ein neues Verständnis für das Wesen und die Aufgaben der Medizin vermitteln wollen. Die- se Vorstellungen werden vor allem von Soziologen vertreten. Diese Thesen finden vor allem bei den Journalisten Gehör, die ja immer bereit sind, auf kritische Stimmen zu hören. Sie finden aber auch bei jungen Ärzten Gehör, die die skep- tische Nüchternheit der Medizin nur allzuleicht mit einem Mangel an Idealismus, wenn nicht sogar mit inhumaner Gesinnung verwech- seln.

Aber selbst dann, wenn dieser Ein- druck hier und da gerechtfertigt er- scheinen mag, wäre es doch ein falscher, weil unfruchtbarer Ansatz, ein Mehr an humaner Gesinnung von einer Abwendung der Medizin von der Krankheit und ihrer Hin- wendung zur Gesundheit zu erwar- ten. Für die Annahme, daß ein sol- cher Wandel ganz im Gegenteil so- gar zu einem weiteren Verlust an Humanität führen würde, sprechen sehr ernst zu nehmende Erfahrun- gen und Gründe.

„Die Gesunden bedürfen des Arz- tes nicht, sondern die Kranken"

(Lucas, 5,31).

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Gerhard Jungmann 3354 Dassel-Markoldendorf

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