D
as Jahr 1999 bedeutet für Ungarn: 1 000 Jahre nationale Unabhängig- keit und zehn Jahre der Rede- mokratisierung. Eine glänzen- de Gelegenheit, Europa vor- zuführen, welche Kulturtradi- tion in seiner Mit-te aufzuspüren ist.
So legt sich der un- garische Staat sein Sonntagskleid an und führt im Spie- gel herausragen- der Persönlichkei- ten vor, daß der Geist der Künste
und Wissenschaften immer auch Ungarisch verstand.
Vom Staatsgründer, König Stephan, über den Renais- sancefürsten Mátyás Hunya- di und seine legendäre Biblio- thek Corvina, von Sándor Petöfi, dem Dichter der ge- scheiterten bürgerlichen Re- volution bis zum musikali- schen Genie Liszts und Bar- tóks: immer spielt das Be- mühen um den Anschluß an Europa eine Rolle.
Bemühter Eindruck In Frankfurt am Main be- steht in diesem Jahr Gelegen- heit der Nachprüfung. Ter- mingerecht zum „Magyar Mil- lennium“, der Tausendjahrfei- er Ungarns, präsentieren sich Literatur und Kultur dieses Mittellandes als Schwerpunkt- thema der diesjährigen Buch- messe. Die zu diesem Anlaß in Umlauf gesetzten Selbstdar- stellungen der jungen Repu- blik hinterlassen einen sehr bemühten, aber eigenartig un- sicheren Eindruck, als sei der Anspruch auf Eingliederung in die europäische Gemein- schaft nur zulässig vor dem Hintergrund herausragender
kultureller Leistungen, und der Nachweis der Zugehörig- keit gebunden an die Zahl der Nobelpreise. Verunsichert auch die Literatur. Wie in an- deren Staaten des früheren Ostblocks hat sie ihr para- doxes Privileg, Sta- chel im Fleisch zu sein, verloren. Das Publikum ver- schließt sich, und es ist allergisch gegen Larmoyanz. Den- noch lohnt sich der Weg nach Frankfurt wegen der Ent- deckungen, die dort neu oder erneut zu machen sind.
Wegen Péter Nádas´ „Buch der Erinnerung“, in dem die ideelle Opposition von We- sten und Osten zum Aus- gangspunkt eines Entwick- lungsromans gemacht wor- den ist (in Deutsch erschie- nen 1991). Wegen Madga Szabó, Imre Kertész und György Konrád, deren Werke für viele deutschsprachige Leser Synonym der ungari- schen Literatur überhaupt geworden sind. Einer Litera- tur, die sich der Wirklichkeit ausliefert, ohne realistisch zu sein: mit dem Gespür für das Menschenverachtende der Lebensentwürfe, die das Wirkliche definieren und ihm ihre Sprache überwerfen möchten.
Konrád, Friedenspreisträ- ger von 1991, hat den wohl bekanntesten Roman über das kommunistische Ungarn geschrieben, „Steinuhr“, in dem sich der programmati- sche Satz findet: „Die Erinne- rung ist eine ebensolche Aus- nahme wie das Aufflackern eines Streichholzes in der Nacht.“
Hanns-Marcus Müller
A-2523 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 40, 8. Oktober 1999 (63)
Frankfurter Buchmesse
In der Mitte,
nicht mittelmäßig
Literatur und Kultur Ungarns präsentieren sich als Schwerpunktthema der diesjährigen Buchmesse.
V A R I A FEUILLETON