Vor einem Jahr gelang es dem Team um Dr. Jeffrey Friedman von der Rockefeller-Universität, das an der Entstehung der Fettleibigkeit be- teiligte ob-Gen zu identifizieren.
Sechs Monate später prüften drei For- schergruppen die Wirksamkeit des vom ob-Gen kodierten Pro-
teins. Dieses Protein mit dem Namen Leptin steuert die Nahrungsaufnahme und den Energieverbrauch.
In diesen Wochen iden- tifizierte nun ein Team von Forschern der amerikani- schen Firmen Millennium Pharmaceuticals (Cambridge) und Hoffmann-La Roche (Nutley) den Rezeptor für das Leptin. Die Entdek- kung des zum Leptin ge- hörenden Rezeptors bringt neue Einsicht in den Me- chanismus der genetisch bedingten Fettleibigkeit und ist gleichzeitig ein weiterer
Schritt im Wettlauf um einen der profitabelsten Pharma-Märkte der Zukunft.
Ihren Ursprung nahm die For- schung über Fettleibigkeit schon sehr viel früher. In den 60er Jahren unter- suchte Dr. Douglas Coleman von den Jackson Laboratories in Bar Harbour fettleibig geborene Mäuse. Sie wogen dreimal so viel wie normalgewichtige Mäuse. Er koppelte daraufhin den Blutkreislauf einer schlanken mit dem einer dicken Maus und notierte bei ihr einen rasanten Gewichtsver- lust. Es schien, als hätte die parabioti- sche Maus durch das Blut ihres „sia- mesischen Zwillings“ einen Boten- stoff zur Gewichtskontrolle erhalten.
Trotz aller Versuche gelang es nicht, diesen Faktor zu isolieren. Erst im Dezember 1994 gelang es dann dem Team um Friedman, ein Gen zu identi- fizieren, das in seiner mutierten Form bei Mäusen zu schwerer Fettleibigkeit und Typ-II-Diabetes führte. Auch
beim Menschen fand er ein dem Mäu- se-Gen beinahe identisches ob-Gen.
Darüber hinaus vermutete Friedman, daß das Produkt dieses Gens, das nun als Leptin bekannte Hormon, eine Rolle bei der natürlichen Balance des Körpergewichtes spielen könnte. Eine
gewichtige Entdeckung, denn bei je- dem vierten Westeuropäer und jedem dritten US-Bürger ist die Balance des Körpergewichts unausgewogen; sie überschreiten ihr Normalgewicht um mehr als 20 Prozent. Für die Summe von 20 Millionen US-Dollar erwarb das amerikanische Unternehmen Amgen im April 1994 die Rechte zur Entwicklung und Vermarktung von Medikamenten auf der Basis dieser Gensequenz.
Studien mit Leptin Im Juli desselben Jahres veröf- fentlichten drei amerikanische For- schergruppen im Wissenschaftsmaga- zin Science die Ergebnisse der ersten präklinischen Studien mit Leptin. Es waren Teams der Rockefeller Univer- sität und der Firmen Amgen und Hoffmann-La Roche aus Nutley. Ihre Studien zeigten, daß die Adipozyten
des weißen Fettgewebes von Mäusen dieses Hormon ins Blut abgeben. An- hand des Bluthormonspiegels wird das Gehirn über die bereits angesam- melten Fettpolster informiert und der Körper zur Reduktion der Nahrungs- aufnahme veranlaßt.
Gleichzeitig erhält der Organis- mus die Aufforderung, sich mehr zu bewegen und Energie zu verbrauchen.
Injektionen mit gentechnisch herge- stelltem, humanem Leptin führten zum Abbau des Fettpolsters. Die Mäuse verloren innerhalb weniger Wochen bis zu 40 Prozent ihres Gewichts. Beim Menschen geht man nun vom gleichen biologischen Mechanismus aus, da er ein beinahe identi- sches Gen besitzt. Nach der Entdeckung des Leptins stießen die Forscher bei Plasma-Untersuchungen an übergewichtigen Personen dann auf ein scheinbares Paradoxon: Manchen Über- gewichtigen mangelt es nicht an Leptin, sie weisen sogar einen erhöhten Blutspiegel dieses Hormons auf. Mögli- cherweise war hier ein de- fekter Hormonrezeptor die Ursache dafür, daß die aus- gesandten Botschaften nicht empfangen werden konnten.
Die Suche nach dem Schloß zum Schlüssel begann. Einen Kandida- ten für einen Leptin-Rezeptor ent- deckten die Forscher im Hirnplexus.
Louis Tartaglia, Leiter der Obe- sitas-Forschung bei Millennium, glaubt, daß dieser ob-Rezeptor quasi als Appetit-Antenne fungiert und es deshalb möglich sein müßte, oral ver- fügbare Medikamente zu entwickeln, die etwa durch Stimulation des Re- zeptors die Gewichtsregulation wie- der ins Lot bringen. Noch ist jedoch unklar, bei welchen Menschen die Fettleibigkeit auf einen Defekt des ob-Gens zurückzuführen ist oder auf einen anderen Gendefekt. Im Som- mer 1995 wurde noch ein zweites Obesitas-Gen mit dem Namen tub- Gen identifiziert. Vier weitere, aller- dings nur im Tiermodell isolierte Ge- ne sind das db-, das fat-, das carboxy- peptidase-E- und das agouti-Gen.
Erste klinische Studien mit Leptin plant die Firma Amgen noch in die- sem Jahr. Ingeborg Fürst A-738 (26) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 12, 22. März 1996
P O L I T I K MEDIZINREPORT