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Archiv "Das alkoholische Delirium tremens" (29.04.1983)

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Das alkoholische Delirium tremens

Pathogenese und Therapie

Walter Thomas Kanzow

Aus der Abteilung Psychiatrie

im Zentrum Nervenheilkunde der Universität Kiel

(Direktor: Professor Dr. med. Gustav W. Schimmelpenning)

Die Vielfalt

pathogenetischer Ansätze Die Aussage, daß der dem Deli- rium tremens zugrundeliegende Mechanismus nur unzureichend bekannt sei, wiederholt sich zuver- lässig in der Mehrzahl der Arbei- ten, die diese metalkoholische Psychose zum Gegenstand haben.

Die angewandte Behandlung je- doch demonstriert über das Empi- risch-Pragmatische hinaus eine theoretische Position zu der Frage der Pathogenese und der Patho- physiologie des Delirium tremens.

So stehen sedierende Maßnah- men, wie die Gabe von Paralde- hyd, Barbituraten oder Chlorme- thiazol als zu Alkohol kreuzabhän- giger Wirkstoffe, in einer Reihe mit der im vorigen Jahrhundert ange- wandten Praxis, bekannten Alko- holikern bei der Klinikaufnahme zur Vermeidung eines Entzuges und eines möglichen Delirs Alko- hol zu verabreichen.

Anders als diese auf den Hirn- stamm zielenden und das allge- meine Erregungsniveau herabset- zende Mittel richten sich die in Va- riationen benutzten Therapieemp- fehlungen von Seilers und Kalant (21 )*)gegen klinisch und faktoren- analytisch unterscheidbare funk- tionelle Strukturen, die das Deli- rium tremens ausmachen: Sie empfehlen Benzodiazepine (Va-

lium®, Librium®) gegen die Sym- ptome Agitation, Ängstlichkeit und Tremor, Diphenylhydantoin (Zentropil®, Phenhydan®) gegen die erhöhte Anfallsbereitschaft und hochpotente Neuroleptika . (wie z. B. Haldol®) gegen das hal-

luzinatorische Erleben.

Die theoretische Einordnung des alkoholischen Delirium tremens als ein Epilepsieäquivalent (14) hat in therapeutischer Konsequenz dazu geführt, daß bei leichteren Entzugssyndromen den Antiepi- leptika wie Carbamazepam (Te- gretal®) oder Dipropylacetat (Orfi- ril®, Ergenyl®) ein Vorrang einge- räumt wurde. ln gleicher Linie lie- gen die Empfehlungen für eine Elektrokonvu lsionstherapie.

Weniger an klinischen Symptom- gruppen als vielmehr an biochemi- schen Befunden orientieren sich Therapievorschläge für noch nicht psychotische Entzugsbilder, die sich aus dem vorläufigen Wissen gestörter Neu rotransmitterbalan- ce ableiten: So wird Bromocryptin (Pravidel®) empfohlen, das auf die verminderte dopaminerge Funk- tion zielt (8), oder Dipropylacetat mit seinem Einfluß auf die Gam- ma-Aminobuttersäure (Gaba) (6).

Das Delirium tremens ist mit sei- nen verschiedenen Symptomgrup- pen ein zeitlich sehr fest struktu-

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ

Die Unklarheit über die Ent- stehung und die Grundlage des Delirium tremens hat zu unterschiedlichen Behand- lungsansätzen geführt. Die teilweise hohen Letalitätszif- fern dieses Krankheitsbildes, das sich an sich in wenigen Tagen spontan zurückbildet, zeigen die Notwendigkeit auf, die pathogenetischen Voraussetzungen zu berück- sichtigen. Nach neuesten Er- kenntnissen müssen Vorbe- halte gegenüber Neurolepti- ka ausgesprochen werden.

riertes Krankheitsbild: Die vege- tative Symptomatik, die Grands maux, das syndromkinetisch sich wandelnde und im Terminalschlaf endende psychopathalogische Bild treten in zuverlässiger zeitli- cher Ordnung zueinander und mit bestimmter Dauer auf. Das Deli- rium tremens zeigt sich als ..". Epiphänomen festgefügter, synchronisierter und rhythmisier- ter, zentralnervöser Abläufe.

Bei der Frage nach der Entste- hung des Krankheitsbildes darf über solche neurophysiologi- schen Abläufe nicht hinwegge- gangen werden.

Früher erfolgten die pathogeneti- schen Erklärungsversuche zum Beispiel mit der deliriumspezifi- schen alkoholischen Leberschädi- gung, mit Elektrolytstörungen - die im übrigen Delirfolgen darstel- len- oder mit den oft nahezu welt- anschaulich vertretenen Magne- sium-Mangel-Theorien, wobei übersehen wurde, daß eine Hypo- magnesiämie noch kein Magne- siummangelsyndrom bedeutet und dieses sich darüber hinaus neurologisch und psyctiopatholo- gisch erheblich von unserem Krankheitsbild unterscheidet (12). [>

•) Oie in Klammern stehenden Ziffern bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks.

Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 17 vom 29. April 1983 57

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Delirium tremens

Die klinischen Untersuchungen über den Zusammenhang zwi- schen der Art des Alkoholismus und des Delirium tremens stellen sich im Schrifttum recht einhellig dar: Der alkoholdelirante Patient hat in der Regel mehr als zehn Jahre, meist 15 bis 25 Jahre vom jungen Erwachsenenalter an ge- trunken. Er trinkt regelmäßig, eher nicht in Gesellschaft und ist in sei- nem beruflichen und sonstigen Sozialverhalten integrierter und weniger auffällig als ein gleich lang trinkender, aber nicht-deli- ranter Alkoholiker. Seine Tages- menge beträgt als Mindestmaß et- wa 150 g reinen Alkohols, bei Frauen liegt sie etwas niedriger.

Dieses zur Delirentstehung not- wendige Produkt aus Trinkdaueer und -menge vermindert sich bei jüngeren oder sogar kindlichen deliranten Patienten.

Das Abstinenzproblem

Zur Frage der Auslösung des De- lirs ist in der frühen medizinisch- wissenschaftlichen Literatur, so bei John Coakley Lettsom (1787) oder bei Pearson (1801) eine Ab- stinenzthese formuliert worden.

So sah letzterer das Auftreten des Delirs, „wenn die Menge des Schnapses über den Tag unzurei- chend gewesen ist" (18). Die Ab- stinenzthese, die in der Forderung gipfelt, daß es ein Kunstfehler sei, einem bekannten Trinker in einem Krankenhaus keinen Alkohol zu geben (19), mußte Ende des vori- gen Jahrhunderts einer Sichtwei- se weichen, die das Delir aus der ununterbrochenen toxischen Wir- kung des Alkohols oder sogar als Exzeßfolge verstanden wissen wollte.

Dieses wissenschaftlich verbräm- te, moralische Vorurteil läßt sich zum Beispiel in dem Zögern er- kennen, mit dem Bonhoeffer 1901 in seiner Monographie zur Kennt- nis nahm, daß zahlreiche straffälli- ge Alkoholiker ein bis drei Tage nach Haftantritt — und damit er- zwungener Abstinenz — delirant wurden (7).

Ein weiterer gedanklicher Ansatz zur Delirauslösung findet sich un- ter der Überschrift des durch Gele- genheitsursachen provozierten Delirs. Der Begriff der Gelegen- heitsursache meint körperliche Er- krankungen bei Alkoholikern, in deren Verlauf das Delir auftritt, oh- ne daß für diesen Zusammenhang eine spezifische Begründung ge- geben werden konnte, in welcher Weise körperliche Erkrankungen (z. B. eine Psoriasis oder ein Kno- chenbruch!) das Delir fördern.

Späterhin wurde klargestellt, daß das wesentliche Gemeinsame der Gelegenheitsursachen die durch die Erkrankung erzwungene Absti- nenz ist. Eine eigene delirfördern- de Kraft kommt wohl nur solchen Erkrankungen zu, die ihrerseits er- hebliche zentrale vegetative Dys- regulationen bewirken, die z. B.

mit hohem Fieber einhergehen.

Seitdem experimentell durch Ent- zug nach mehrwöchiger hochdo- sierter Alkoholgabe Delirien er- zeugt werden konnten (15, 17), hat die pathogenetische Annahme des Delirs als schwerster Form mögli- cher Abstinenzsymptomatik zu- nehmend an Raum gewonnen und ist weitgehend zur Selbstverständ- lichkeit geworden. Dennoch kann die so oder so bestehende Aus- schließlichkeit einer Abstinenz- oder einer Kontinuitätstheorie nicht befriedigen und scheint eine solche Alternativentscheidung falsch. Denn auch ohne wesentli- chen Entzug entwickelt der ge- fährdete Trinker schon Jahre vor dem Delirausbruch eine stetig zu- nehmende, morgenbetonte vege- tative Symptomatik, und es finden sich im Vorfeld besonders nachts traumartige, optisch-halluzinato- risch bestimmte Episoden, die ru- dimentär das psychopathologi- sche Bild des Delirs vorwegzuneh- men scheinen.

Neurophysiologische Regulationen

Der Begriff der Kontinuität des Trinkens lenkt davon ab, daß eine Trinkkontinuität bei genauer Be-

trachtung nie vorliegt. Entspre- chend seinem Trinkverhalten, ins- besondere durch die nächtlich verminderte Alkoholzufuhr setzt jeder Trinker Reize zunehmender und abnehmender Alkoholwir- kung, auf die das Zentralnervensy- stem reagiert. Ballenger und Post haben gezeigt, daß mit der zuneh- menden Trinkdauer, also auch der zunehmenden Zahl der Entzüge, eine stärker werdende Abstinenz- symptomatik bis hin zum Delir kor- reliert (4). Biologisch vergleichen- de Untersuchungen zeigen, daß zentralnervöse Adaptationsvor- gänge Begrenzungen unterliegen und bei weiterer Reizeinwirkung über eine bestimmte Grenze eine Schwelle überschritten wird, bei der keine Homöostase autonomer Regulationen mehr aufrechterhal- ten werden kann (20). Angewandt auf das Delir bedeutet dies: Im Laufe regelmäßigen, oft recht hochdosierten Alkoholkonsums kommt es zu einer zunehmenden und synchronisierten Symptoma- tik, die vegetativ-motorische, epi- leptische und psychopathologi- sche Symptome als Ausdruck ver- schiedener funktioneller Struktu- ren beinhaltet. In dem Grenzgebiet der Adaptationsmöglichkeiten des Zentralnervensystems sind die in den Morgenstunden absinkenden Blutspiegel schon ein Reiz, der trotz fehlender eigentlicher Ent- haltsamkeit des Trinkers, den Weg des fest rhythmisierten Ablaufes der Entzugssymptomatik und des Delirs bestimmen kann. Das soge- nannte Kontinuitätsdelir entstün- de somit am Ende eines Adapta- tionsprozesses durch einen gerin- gen Abstinenzreiz, während das Entzugsdelir durch massiveren Reiz noch vor der Grenzsetzung zentralnervöser Regulationsme- chanismen ausgelöst würde. Die klinische Erfahrung unterstreicht diese Differenzierung: Sogenann- te Kontinuitätsdelirien treten nach kurzer Latenz auf und verlaufen schwerer, d. h. länger und mit ei- nem größeren Medikamentenver- brauch, während Abstinenzdeli- rien erst nach ein- bis viertägiger Latenz einsetzen und öfters abor- tiv gestaltet und kurzdauernd sind.>

58 Heft 17 vom 29. April 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Delirium tremens

Der „point of no return", d. h. der- jenige Zeitpunkt, bis zu dem durch Alkoholzufuhr oder entsprechend wirkende Medikamente ein sonst zum Delir laufender Prozeß noch abgewendet werden kann, dürfte bei dem Abstinenzdelir in einem Zeitraum von weniger als 24 Stun- den nach Trinkende liegen; bei dem drohenden Kontinuitätsdelir vermindert sich diese Frist, wenn sie überhaupt noch gegeben ist.

Später, nach diesem „point of no return" gegebene Medikamente können ebenso wie Alkohol nur noch symptomatisch wirken, ein sich anbahnendes Delir aber nicht mehr verhindern.

Biochemische Grundlagen Diesem neurophysiologischen Modell der Delirentstehung lassen sich auf der biochemischen Ebene der Neurotransmitter weitere Kenntnisse hinzufügen. Die sich langfristig wiederholenden, tägli- chen Alkohol- und Alkoholent- zugsreize führen zu Veränderun- gen, die an verschiedenen Neuro- transmittern nachweisbar sind.

Dies gilt sicher für den Katechol- aminstoffwechsel, für Serotonin und seine Metabolite und für das Acetylcholinsystem. Ackenheil kam summarisch zu dem Schluß, daß der delirante Zustand durch eine Dysbalance der ZNS-Trans- mitter mit Übergewicht des akti- vierenden, noradrenergen Sy- stems hervorgerufen werde. Diese bestimmende noradrenerge Wir- kung läßt sich auch an der klini- schen Symptomatik — insbesonde- re der des Vegetativums mit er- höhter Körpertemperatur, Tachy- kardie, Mydriasis und Bluthoch- druck — erkennen (1).

Delirien entstehen nicht nur als Folge des Alkoholismus oder nach Mißbrauch verwandter Stoffe wie Barbiturate, Paraldehyd, Distra- neurin oder Bromsalze (deren zu schnelle Ausschwemmung mittels Kochsalz Delirien provozieren kann!) im relativen Entzug. sie sind auch durch direkte, einmalige Intoxikation mit Anticholinergika

(z. B. mittels Ditran®) oder durch Medikamente mit erheblicher anti- cholinerger Begleitwirkung wie Antidepressiva, Neuroleptika oder die Mehrzahl der Antiparkinson- mittel hervorzurufen. Bei zeitlich anderem, von der Pharmakokine- tik des betreffenden Medikamen- tes bestimmten Verlauf, entspricht das psychopathologische und auch das vegetative Bild im Quer- schnitt dem des Delirium tremens.

Es liegt nahe, auch hier eine durch die anticholinerge Wirkung her- vorgerufene „Dysbalance der Neu- rotransmitter mit Überwiegen des aktivierenden, noradrenergen Sy- stems" anzunehmen, womit sich ein gemeinsames pathogeneti- sches und auch therapeutisches Prinzip deliranter Zustände her- auskristallisiert.

Prinzipien der

medikamentösen Therapie Bevor Folgerungen aus den pa- thogenetischen Erläuterungen für die Behandlung abgeleitet wer- den, sei etwas zum Stand der heu- tigen Therapie angeführt. Unter den Prinzipien der Rehydrierung, des vorsichtigen Elektrolytaus- gleichs, einer knappen Sedierung bei möglichst geringer körperli- cher Einschränkung liegen die Le- talitätsziffern der in psychiatri- schen Krankenhäusern behandel- ten deliranten Patienten, wenn Chlormethiazol verwandt wurde, durchweg bei 0 bis 1,5 Prozent. (In der Universitäts-Nervenklinik Kiel starben 1975 bis 1978 von 143 be- handelten Delirien zwei Patien- ten an den Komplikationen einer Schockniere bzw. einer anfallsver- ursachten Hirnblutung). Gering ungünstigere Ergebnisse im Hin- blick auf die Letalität werden von Behandlungen mit Paraldehyd und Benzodiazepinen berichtet.

Da Magnan bereits 1862 unter An- wendung obiger Richtlinien eine ähnlich geringe Letalität in seiner Veröffentlichung nannte (9), könn- ten die therapeutischen Erkennt- nisse ruhig und zufrieden stim, men, wenn nicht in der Zwischen- zeit durchweg höhere Sterbezif-

fern — bis zu 45 Prozent — ange- führt wären, die allein auf unge- eignete therapeutische Maßnah- men, insbesondere eine exzessive Medikation, zurückgeführt werden müssen.

Angesichts der Todesursachen scheint es zum einen bedeutsam, das Delirium tremens von deliran- ten Zuständen, die eine Wernicke- Enzephalopathie begleiten, zu dif- ferenzieren. Diese treten in der Re- gel ohne abstinente Latenz auf, dauern länger als vier Tage, und das psychopathologische Bild ist durch Bewußtseinsstörungen und eine entsprechende Gestaltarmut psychotischer Produktionen ge- prägt, die sich meist auf den Hand- Mund-Bereich als Erlebnisfeld be- schränken. Die an sich zugehörige neurologische Symptomatik kann flüchtig sein oder sogar ganz feh- len. Zum anderen läßt die häufige Todesursache des Herzversagens auf die Bedeutung vegetativer Re- gulationen schließen. Dies wird durch das faktorenanalytische Er- gebnis unterstützt, wonach die Schwere und Dauer des Delirs mit den Faktoren „maximale Pulsfre- quenz" und .,Blutdruckschwan- kung" korreliert (2).

Für die Therapie bedeutet dies.

daß das Augenmerk nicht auf das halluzinatorisch Augenfälligere (an den .,weißen Mäusen" stirbt der Patient nicht!), sondern auf die autonomen Regulationen und de- ren Erregungsniveau gerichtet sein muß. D. h., daß ein allgemein sedierendes Mittel angewandt werden sollte, das die verschiede- nen zentralnervösen Strukturen des Vegetativums, der Motorik, der Anfälle und des im Terminal- schlaf endenden psychopatholo- gischen Geschehens in ihrem zu- grundeliegenden Aktivitätsniveau beeinflußt.

Medikamentenwahl

Medikamente wie Chlormethiazol, Benzodiazepine und Paraldehyd genügen diesen Ansprüchen.

Chlormethiazol (Distraneurin®) Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 17 vom 29. April 1983 61

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Delirium tremens

stellt heute das Mittel erster Wahl dar. Benzodiazepine werden be- sonders in den USA, wo Chlorme- thiazol nicht zugelassen ist, er- folgreich eingesetzt, wobei Diaze- pam (Valium®) oder Chlordiazep- oxid (Librium®) bevorzugt werden.

Vergleichende Untersuchungen sind selten und kranken in der Re- gel daran, daß sie zwischen einfa- chen Entzugssyndromen und voll ausgeprägten deliranten Krank- heitsbildern, die als psychopatho- logische Kernsymptome Falsch- orientiertheit und optische Hallu- zinationen zeigen, nicht weiter dif- ferenzieren. Durch die Spontan- heilung und eine weitere „Basis- medikation" wird die Beurteilung zusätzlich erschwert.

Festzuhalten bleibt, daß mit Chlor- methiazol — und in zweiter Linie mit Benzodiazepinen — hervorra- gende Medikamente zur Verfü- gung stehen, die nicht ohne Grund ersetzt werden sollten. Daß Chlormethiazol selbst ein hohes Abhängigkeitspotential besitzt kann für die befristete klinische Situation der Delirbehandlung kein negatives Argument sein.

Vorbehalte gegen dieses Medika- ment wegen seiner atemsuppres- siven und bronchialsekretfördern- den Wirkung werden selten aus psychiatrischen, öfter aus interni- stischen Kreisen geäußert, und deshalb sind dort häufig Neuro- leptika, oft in Verbindung mit Ben- zodiazepinen, bevorzugt.

Diese unterschiedliche Beurtei- lung der Begleitwirkungen ent- steht wohl, weil einerseits Delirien mit Erkrankungen der Atemwege eher in internistischen Kliniken er- scheinen. Darüber hinaus meine ich, daß das psychiatrisch-thera- peutische Milieu großzügiger mit deliranten Patienten umgehen kann, als es die Bedingungen ei- ner heterogen belegten internisti- schen Intensivstation zulassen, und daß der Patient dort deshalb mit dem Ziel größerer Sedierung höher dosiert behandelt und damit das Auftreten atemsuppressiver und bronchialsekretfördernder Begleitwirkungen wahrscheinli- cher wird.

Zu diskutieren bleibt die Indika- tion der erwähnten Neuroleptika beim Delirium tremens. Neurolep- tika sind besonders unter dem

Eindruck des Suchtpotentials und der Begleitwirkungen von Chlor- methiazol sehr propagiert und als Alternative gesehen worden. Die positive Entscheidung Neurolepti- ka zu verwenden, folgt zwei Ge- danken: Einen allgemein sedie- renden Effekt zu erzielen und die psychopathologische Symptoma- tik — meist reduziert auf das Hallu- zinatorische — zu bessern. Hierbei muß geklärt werden. daß die in eine Bewußtseinstrübung und Falschorientiertheit eingebette- ten, rezeptornahen, vorrangig mi- kroptischen und taktilen Halluzi- nationen nicht mit den überwie- gend akustischen Halluzinationen der schizophrenen Psychosen gleichgestellt werden dürfen. Das psychopathologische Bild des De- lirs, das in enger Beziehung zum Traumschlaf steht (10), ist struk- turell einer anthropologisch tiefe- ren Seelenschicht zuzuordnen.

Die Andersartigkeit seines halluzi- natorischen Syndroms zeigt sich auch in der Erfahrung, daß die er- forderlichen Neu roleptikamengen bei Delirien ein Mehrfaches der bei endogenen Psychosen benö- tigten betragen, womit die allge- mein sedierende Wirkung der Neuroleptika und die Beeinflus- sung der zentralen autonomen Re- gulationen in den Vordergrund tritt.

Im Hinblick auf die zentralen auto- nomen Regulationen zeigen Neu- roleptika eine überwiegend anti- cholinerge Wirkung. Daß die anti- cholinerge Wirkung selbst deliro- gene Potenz besitzt, ist aus der Erfahrung, daß bei der Behand- lung mit Neuroleptika Delirien ent- stehen können, bekannt. Bedenk- lich erscheint nun, ein Delirium tremens mit einem Mittel hochdo- siert zu behandeln, das direkt-to- xisch selbst ein Delir bewirken kann. So wird m. E. durch die Neu- roleptika eine zusätzliche Dysba- lance der Neurotransmitter mit Überwiegen des aktivierenden noradrenergen Systems zu erwar-

ten sein. Klinische Erfahrungen bestätigen diese Befürchtungen:

So liegen Berichte über zentrale Störungen der Thermoregulation (16), einen letalen Ausgang bei Hy- perthermie (11) und schwere Zwi- schenfälle (13) neuroleptikabe- handelter Delirien vor. Erinnert sei zudem daran, daß Neuroleptika die Krampfschwelle senken und damit die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten generalisierter to- nisch-klonischer Anfälle mit ihren zentralregulatorischen Auswir-

kungen erhöhen. Auch im kat- amnestischen Vergleich haben Untersuchungen den Zusammen- hang höherer Letalität neurolepti- kabehandelter gegenüber chlor- methiazolbehandelten Delirien aufgezeigt (3, 5).

Für die therapeutische Praxis läßt sich somit folgern, daß neben ei- nem möglichst großzügigen und restriktionsfreien Milieu, reichli- cher Flüssigkeitszufuhr und aus- reichender Ernährung eine vor- sichtige sedierende Medikamen- tengabe, die eine Schläfrigkeit an- strebt, angewandt werden sollte, wobei Chlormethiazol als das ge- eignetste Mittel erscheint. Es muß weiterhin darauf hingewiesen wer- den, daß bei letal verlaufenen Deli- rien nicht nur nach krankheitsbe- dingten Komplikationen ge- forscht, sondern vordringlich die angewandte Behandlung geprüft werden muß.

Literatur

Ackenheil, M.; Athen, D.; Beckmann. H.: Pa- thophysiology of Delirious States. J. Neur.

Transmission 14 (1978) 167-175 — Athen, D.;

Hippius, H.: Meyendorf, R.; Riemer, Ch.; Stei- ner, Ch.: Ein Vergleich der Wirksamkeit von Neuroleptika und Chlormethiazol bei der Be- handlung des Alkoholdelirs. Nervenarzt 48 (1977) 528-532 — Ballenger, J. C.; Post, R. M.:

Kindling as a Model for Alkohol Withdrawal Syndromes, Brit. J. Psychiatr. 133 (1978) 1-14 — Bischof. H. L.: Zur Pathogenese des Alkohol- delirs. Nervenarzt 40 (1969) 318-325 — Holz- bach, E.; Bühler, K. E.: Die Behandlung des Delirium tremens mit Haldol. Nervenarzt 49 (1978) 405-409

Dr. med. Walter Thomas Kanzow Klinikum der

Christian-Albrechts-Universität Universitäts-Nervenklinik Abteilung Psychiatrie Niemannsweg 147, 2300 Kiel 62 Heft 17 vom 29. April 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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