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25. März 2011M E D I Z I N
DISKUSSION
Sport und Gesundheit: Nil nocere!
Die Autoren interpretieren Ergebnisse einer sich ekla- tant mit zunehmendem Alter (ab 45 Jahren) spontan selbst selektierenden Stichprobe von n = 46 800 auf n = 105. Sie setzen diese auch in den Zusammenhang mit Gesundheitsinitiativen, Risikofaktoren, Präventi- onskampagnen sowie gesundheitsrelevanten Bewe- gungs- und Verhaltensmaßnahmen. Zu Kontraindika- tionen sowie zu kardiovaskulären und orthopädischen Nebenwirkungen des Langlaufens fand der Leserbrief- autor jedoch keine Hinweise. Hoffentlich haben inte- ressierte Leser auch die letzte Einbandseite des Hefts 46 mit Buchwerbungen des Deutschen Ärzte-Verlags bemerkt: Zwei der drei beworbenen Buchtitel lauten:
„Sportverletzt, was jetzt?“ und „Laufnebenwirkungen“.
Wie sagten doch die Altvorderen: Nil nocere (der Arzt möge in seinem Tun dem Patienten nicht schaden).
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0206a
LITERATUR
1. Leyk D, Rüther Th, Wunderlich M, et al.: Physical performance in middle age and old age: Good news for our sedentary and aging so- ciety. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(46): 809–16.
Prof. em. Dr. med. Hans-Volkhart Ulmer Institut für Sportwissenschaft
der Johannes Gutenberg-Universität Saarstraße 21
55099 Mainz
E-Mail: ulmer@uni-mainz.de
Biologische Alterung und Leistungsfähigkeit
Zweifellos kann ein aktiver Lebensstil den Alterungs- prozess verzögern und die Abnahme der Leistungsfä- higkeit minimieren. Zweifel sind aber angebracht, wenn aufgrund von Leistungsanalysen bei 20- bis 79jährigen Marathonläufer/innen angenommen wird, dass vor dem 55. Lebensjahr die Ausdauerleistungsfä- higkeit nicht relevant beeinflusst wird (1). Allerdings fällt die maximale Sauerstoffaufnahme im mittleren Lebensalter weniger stark ab als im höheren Lebensal- ter (2). Die Autoren widersprechen eigenen früheren Befunden, nach denen die mittleren Marathonlaufzei- ten bei den zehn Besten einer jeden Lebensdekade oberhalb des 35. Lebensjahres signifikant zunahmen(3), ohne diese Diskrepanz in der aktuellen Publikation zu kommentieren. Bei den verglichenen Kohorten han- delt es sich um Breiten-und Freizeitsportler mit Mara- thonzeiten zwischen vier bis fünf Stunden und altersab- hängig unterschiedlich vielen Trainingsjahren. Hinge- gen ist unter den Top 10 weltweit besten Marathonläu- fern (Weltjahresbestenliste 2009) keiner 40 Jahre oder älter (mittleres Lebensalter 28,1 Jahre; Streubreite 22 bis 37 Jahre). Eine solche homogene Gruppe reflektiert besser die altersphysiologischen Veränderungen, weil im Grenzbereich der menschlichen Leistungsfähigkeit die Alterung der verschiedenen Organsysteme beson- ders deutlich wird. Es besteht daher kein Grund, die Lehrbücher umzuschreiben und den Beginn des Leis- tungsabfalls, speziell der Ausdauer, in ein späteres Le- bensalter zu verlegen.
Den Autoren ist beizupflichten, dass Trainingsanpas- sungen und eindrucksvolle Leistungen auch im höhe- ren Lebensalter möglich sind. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass ein umfangreiches Ausdauertrai- ning auch bei älteren vorher sportlich inaktiven Perso- nen zu einer physiologischen Herzhypertrophie, das heißt zu einer Sportherzvergrößerung führen kann (4).
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0206b
LITERATUR
1. Leyk D, Rüther Th, Wunderlich M, et al.: Physical performance in middle age and old age: Good news for our sedentary and aging so- ciety. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(46): 809–16.
2. Fleg JL, Morrell CH, Bos AG, et al.: Accelerated longitudinal decline of aerobic capacity in healthy older adults. Circulation 2005; 112:
674–82.
3. Leyk D, Erley O, Ridder D, et al.: Age-related changes in marathon and half-marathon performances. Int J Sports Med 2007; 28:
513–7.
4. Walter R, Schmitt W, Kindermann W: Differenzialdiagnose der Herz- vergrößerung – Bedeutung der Sportanamnese zur Abgrenzung der physiologischen und der pathologischen Herzvergrößerung. In: Franz IW, Mellerowicz H, Noack W (Hrsg): Training und Sport zur Prävention und Rehabilitation in der technisierten Umwelt. Springer Berlin, Hei- delberg; 1985; 716–21.
Prof. em. Dr. med. Wilfried Kindermann Institut für Sport-und Präventivmedizin Universität des Saarlandes Campus Saarbrücken Postfach 151150 66041 Saarbrücken
E-Mail: w.kindermann@mx.uni-saarland.de
Studiengruppe nicht repräsentativ
Mit Interesse habe ich die sehr gut fundierte Analyse über die Marathonlaufzeiten gelesen. Die Hauptaussa- ge der Autoren – „gute Nachrichten für eine inaktive und alternde Gesellschaft“ – kann ich nicht teilen: Nie- mand stellt die wissenschaftlich gut abgesicherte Tatsa- che in Abrede, dass körperliches Training auch im 6.
und 7. Dezennium eine erhebliche Leistungssteigerung zu dem Beitrag
Leistungsfähigkeit im mittleren und höheren Lebensalter: Gute Nachrichten für eine inaktive und alternde Gesellschaft
von Prof. Dr. med. Dr. Sportwiss. Dieter Leyk, Dr. Sportwiss. Thomas Rüther, Dr. rer. medic. Max Wunderlich, Dipl.-Sportl. Alexander Sievert,
Prof. Dr. med. Dr. Sportwiss. Dieter Eßfeld, Dr. phil. Alexander Witzki, Dr. med. Oliver Erley in Heft 46/2010
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bewirken kann. Die Autoren beschreiben in ihrer Arbeit aber in erster Linie ein soziologisches Phänomen: Sie analysieren einen kleinen bildungsnahen, gesundheits- bewussten, sportaffinen und mit zunehmendem Alter überwiegend männlichen Bevölkerungsanteil. Nach Eintritt in den Beruf und Familiengründung nimmt der Anteil der sporttreibenden Menschen einer Altersdeka- de an der jeweiligen Alterskohorte in der Gesamtbevöl- kerung stetig ab. Die Zahl der über 60jährigen Mara- thonläufer (n = 12 558 + x) an der Gesamtzahl über 60jähriger in der Bevölkerung (n = 21 186 785 im Jahre 2009 [1]) beträgt circa 0,6 Promille, also einem Mara- thonläufer stehen 1 600 inaktive Altersgenossen gegen- über. Besonders eklatant stellt sich das in dieser Studie bei den Frauen dar (Alter > 70 Jahre mit n = 62!). Dem- gegenüber werden die Bundesbürger kontinuierlich übergewichtiger (Statistisches Bundesamt, Mikrozen- sus 2005 [2]) und die Patienten in den unfallchirur- gisch-orthopädischen Kliniken ständig älter und multi- morbider (Bayerische Qualitätssicherung [3]). Eine laufende Studie zur Versorgungsqualität in Senioren- heimen kann aufgrund eines zu niedrigen Mini-Mental- State-Testergebnisses nur ein Drittel der Bewohner va- lide wissenschaftlich auswerten.
Die Beschreibung der Marathonfähigkeiten einer winzigen Untergruppe der Gesamtbevölkerung zeigt erstaunliche Leistungsdaten, erlaubt aber nicht den ge- ringsten positiven Rückschluss auf die Gesamtbevölke- rung. Hier sehen alle Daten eher düster aus. Enormes Verbesserungspotenzial liegt hier bei der Sportförde- rung von Frauen, bildungsferner Bevölkerungsschich- ten und Beschäftigten des primären und sekundären Sektors („blue collar workers“).
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0206c
LITERATUR
1. www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Con tent/Statistiken/Zeitreihen/LangeReihen/Bevoelkerung/Con- tent100/lrbev01ga,templateId=renderPrint.psml
2. www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/
Presse/pk/2006/Mikrozensus/Pressebroschuere,property=file.pdf 3. www.baq-bayern.de/downloads/files/2009_172_gesamt_online.pdf 4. Leyk D, Rüther Th, Wunderlich M, et al.: Physical performance in
middle age and old age: Good news for our sedentary and aging so- ciety. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(46): 809–16.
Prof. Dr. med. Michael A. Scherer
Amperkliniken – Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädie Krankenhausstraße 15
85221 Dachau
E-Mail: michael.scherer@amperkliniken.de
Schlusswort
Während Professor Scherer das untersuchte Kollektiv von über 500 000 Langstreckenläufern als „winzige Untergruppe der Gesamtbevölkerung“ einstuft, genü- gen Professor Kindermann die „Top 10 der weltbes- ten Marathonläufer“ zur Bewertung der altersassozi- ierten Leistungsentwicklung. Wie in unserer – von
Kindermann zitierten – Studie (1) explizit ausgeführt, ist eine Generalisierung/Übertragung der „Top- 10-Leistungscharakteristika“ aus verschiedenen Gründen problematisch und nicht sinnvoll. Studien belegen beispielsweise, dass das extreme Hochleis- tungstraining von Weltklasseathleten – unabhängig vom Lebensalter – nur selten länger als zehn Jahre absolviert werden kann (1). Hinzu kommen bei Redu- zierung auf die „Top-10“ enorme Selektionseffekte, genetische Besonderheiten, potenzielle Dopingpro- blematik etc. Leistungsvergleiche zwischen jüngeren Profisportlern und Amateuren im Seniorenalter mö- gen einfach und schnell durchführbar sein, sie reflek- tieren aber sicherlich nicht die bevölkerungsrelevan- ten altersphysiologischen Veränderungen im Ausdau- erbereich.
Generelles Problem bei der Ermittlung altersbeding- ter Leistungsänderungen ist die schwierige Abgren- zung von physiologischen Alterungsprozessen und Ef- fekten, die durch veränderte Alltagsgewohnheiten (zum Beispiel inaktiverer Lebensstil) verursacht werden.
Dies wurde in vielen sportmedizinischen Studien, die sich häufig auf kleine Populationen stützten, nicht be- rücksichtigt und hat letztlich zur Annahme geführt, dass es bereits ab dem 30. Lebensjahr zu „schicksalhaf- ten“ Leistungsverlusten kommt. Diese These ist ange- sichts der vorliegenden Daten nicht länger aufrecht zu halten.
Die Ausführungen von Kollegen Scherer machen es erforderlich, erneut auf die Zielsetzung der PACE-Stu- die hinzuweisen. Über die Analyse einer Subpopulation der Bevölkerung, die erfolgreich und selbstmotiviert gesundheitsrelevante Bewegungs- und Verhaltensmaß- nahmen praktiziert, sollte unter anderem das Potenzial von regelmäßigem Training für eine inaktive und al- ternde Gesellschaft deutlich gemacht werden. Ziel un- serer Studie war es aber nicht, ein repräsentatives Ab- bild des Ist-Zustandes in der Gesellschaft darzulegen.
Insofern sind das Zahlenverhältnis von Marathonläu- fern zur Allgemeinbevölkerung und die Frage, ob es sich um ein soziologisches Phänomen handelt, hier nicht von Belang. Wir teilen die Auffassung von Pro- fessor Scherer, dass die von ihm zitierten Statistiken ein düsteres Bild des Ist-Zustandes zeigen und es ein
„enormes Verbesserungspotenzial bei der Sportförde- rung“ der Bevölkerung gibt.
Zu dem Leserbrief von Herrn Prof. Dr. med. Ulmer:
Es ist unstrittig, dass Kenntnisse über „Sport-Kontrain- dikationen“ und „Sport-Nebenwirkungen“ in der sport- ärztlichen und allgemeinmedizinischen Praxis hohe Relevanz besitzen. Dies ist in den DGSP-Empfehlun- gen und in zahlreichen Monographien, wie auch in ei- genen Publikationen immer wieder thematisiert worden (2, 3). Zudem werden aufmerksame Leser im Artikel (Diskussion) entsprechende Hinweise finden.
Ebenso unstrittig ist allerdings die große Bedeu- tung regelmäßiger körperlicher Aktivitäten in Prä- vention und Therapie (4). Offenbar hat sich Kollege Ulmer – obwohl im Artikel mit eigener Überschrift („Marathon als leistungsphysiologisches Untersu-