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Archiv "Priorisierung: „Für die Zukunft führt nichts an dieser Debatte vorbei“" (28.11.2008)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 48⏐⏐28. November 2008 A2553

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ngefähr zur Halbzeit des vom Deutschen Ärzteblatt veran- stalteten „Wortwechsels“ sah sich Dr. med. Jörg Carlsson, Chefarzt in Schweden, genötigt, unmissverständ- lich in die Podiumsdiskussion einzu- greifen. „Ich glaube, hier hat noch keiner so richtig verstanden, was wir in Schweden eigentlich machen“, stellte der Kardiologe fest. Es ging um Priorisierung im Gesundheits- wesen beim dritten Ärzteblatt-Wort- wechsel in Berlin. Auf dem promi- nent besetzten Podium war zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich geworden, mit welch unterschiedlichen Bewer- tungen und Sichtweisen man an das

Thema herangehen kann. Kaum hatte die Diskussion begonnen, setzte Klaus Theo Schröder, Staatssekretär im Bundesministerium für Gesund- heit, den ersten Kontrapunkt zum Diskussionsthema „Priorisierung?

Na endlich!“. Forderungen nach ei- ner Priorisierung lehne er entschie- den ab: „Mich wundert die Klein- mütigkeit der Debatte, die hier ge-

führt wird, vor dem Hintergrund des- sen, was das GKV-System geleistet hat.“ Das medizinisch Notwendige werde in Deutschland finanziert. „Ich halte das deutsche System für viel robuster, als die meisten derzeit an- nehmen“, betonte Schröder. Diejeni- gen, die eine Priorisierungsdiskus- sion anfingen, wollten doch strate- gisch nur den Boden bereiten für et- was anderes – und zwar für einen zweiten Gesundheitsmarkt und das Geschäft mit privaten Zusatzversi- cherungen. Hier und da gebe es si- cherlich Probleme bei der medizini- schen Versorgung. Doch eine Ratio- nierungsdebatte – für ihn das Gleiche wie eine Priorisierungsdebatte – hält Schröder für verfehlt.

Zuvor hatten Carlsson und der in Finnland lebende Gesundheitspub- lizist und -berater Dr. Uwe K. Preus- ker kurz umrissen, was Priorisierung in der skandinavischen Gesundheits- versorgung bedeutet. Preusker wies auf eine in Finnland längst verbreite- PRIORISIERUNG

„Für die Zukunft führt nichts an dieser Debatte vorbei“

Wie sinnvoll wäre es, auch in Deutschland medizinische Leistungen nach ihrer Vorrangigkeit zu klassifizieren und zu erbringen? Damit befasste sich der dritte „Wortwechsel“ des Deutschen Ärzteblattes.

NEUE SERIE

Der dritte „Wortwechsel“ des Deut- schen Ärzteblattes (DÄ) am 19. No- vember in Berlin war zugleich Auf- takt zu einer Artikelserie über Priori- sierung. Diese wird sich mit der Ter- minologie, den Erfahrungen im Aus- land, ethischen und juristischen Fra- gestellungen sowie der Beteiligung der Öffentlichkeit befassen. Zusätz- lich wird ein Diskussionsforum auf der Homepage des DÄ eingerichtet.

Fotos:Svea Pietschmann

Podiumsteilnehmer von links nach rechts:

Prof. Dr. Herbert Rebscher, Prof. Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel, Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder, Heinz Stüwe (DÄ-Chefredakteur),

Dr. med. Vera Zylka-Menhorn (DÄ-Ressortleiterin), Priv.-Doz. Dr. med. Jörg Carlsson,

Priv.-Doz. Dr. med. Ady Osterspey, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing

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te Einsicht hin: „Die Ressourcen rei- chen nie aus, um alle Wünsche zu be- friedigen.“ Die Priorisierung von Gesundheitsleistungen ermögliche es nach Ansicht vieler Finnen, „eine Rationierung so weit wie möglich hinauszuschieben und eine inter- personale Versorgungsgerechtigkeit herbeizuführen“. In Finnland seien die Priorisierungslisten für rund 200 Indikationen bei nicht akuten Ein- griffen von medizinischen Fachleu- ten erstellt worden; auch sei der Wunsch nach einer Priorisierung aus der medizinischen Profession an die Politik herangetragen worden.

In seinem Bereich, der Kardiolo- gie, habe die Einführung von Priori- sierungsleitlinien in Schweden seit dem Jahr 2004 keinesfalls zu einer Rationierung von Gesundheitsleis- tungen geführt, betonte Jörg Carls- son: „Ich habe noch niemals einem Patienten eine Leistung wegen der Listen verweigern müssen.“ Bislang habe die Priorisierung vielmehr eine gerechtere Verteilung der Mittel be- wirkt. Es bestehe aber immer die Gefahr, bereits vorhandene Priori- sierungslisten für Rationierungs- zwecke zu benutzen, etwa indem die nicht als vordringlich erachteten Maßnahmen nicht mehr bezahlt würden.

Aus der hiesigen Versorgungs- wirklichkeit einer kardiologischen Gemeinschaftspraxis berichtete Dr.

med. Ady Osterspey. „Das, was in Schweden ganz oben auf der Liste steht, etwa die Akutintervention beim Herzinfarkt, wird hierzulande fast überall gut realisiert“, sagte der Kölner Facharzt. Was einen wirkli- chen Nutzen habe, sei derzeit noch machbar. Aber weil der Bedarf an kardiologischen Maßnahmen in Zu- kunft unweigerlich zunehmen wer- de, müsse auch hierzulande über ein anderes Verfahren nachgedacht werden. Osterspey sieht in den skan- dinavischen Ländern einen starken Konsens, sich mit dem Thema der Zuteilungsgerechtigkeit auseinander- zusetzen, wohingegen bei der deut- schen Bevölkerung immer noch die Haltung vorherrsche, alles sei mach- bar und finanzierbar.

Für den Präsidenten der Bundes- ärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg- Dietrich Hoppe, gibt es in Deutsch- land inzwischen eine unterschwelli- ge, verdeckte Rationierung bei der Krankenversorgung. Zu enge Bud- gets führten zu Personalmangel oder etwa zum Aufschub von Investitio- nen in eigentlich notwendige Medi- zingeräte; Wartungsintervalle würden in die Länge gezogen. Die Versor- gungsprobleme würden in der hoch spezialisierten Medizin nicht so deut- lich; aber in der Breitenversorgung gebe es nicht zu überhörende Klagen aus der Ärzteschaft darüber, dass die Möglichkeiten der modernen Medi- zin nicht mehr allen Patientinnen und Patienten zugute kommen könnten.

Hoppe wies auf die stetig zuneh- menden staatlichen Einflüsse auf die medizinische Versorgung hin und warnte: „Damit wächst die Ge- fahr, dass das Notwendige immer mehr vom Finanzierbaren bestimmt wird.“ Es sei sinnvoll, öffentlich über Priorisierung zu diskutieren, um zu einer ehrlichen Bewertung der Lage zu kommen.

Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Angestellten-Kranken- kasse, Prof. Dr. Herbert Rebscher, bewertete den Sachverhalt etwas anders. „Wir machen doch schon heute in diesem System sehr subtil und hoch akzeptiert all das – priori- sieren, rationalisieren; ständig fal- len Entscheidungen, die Priorisie- rungsentscheidungen sind.“ Die ge- samte öffentliche Krankenhauspla- nung sei doch eine Priorisierungs- debatte. „Im Versorgungsalltag ma- chen wir doch nichts anderes, als das Prinzip Rationalisierung vor Rationierung mit Leben zu füllen.“

Nötig sei eine Diskussion über die Methoden, wie man Entscheidungs- kriterien findet, um das eine vom anderen zu unterscheiden.

Wiesing: Über implizite Rationierung reden

Konsens bestand allerdings bei den Beteiligten darüber, dass eine offe- ne, transparente Auseinandersetzung darüber nötig ist, was von der Soli- dargemeinschaft der Versicherten getragen werden soll. „Wir müssen doch der Realität ins Auge sehen. In dem Moment, in dem man budge- tiert, muss man sich der Diskussion um implizite Rationierung stellen“, betonte Prof. Dr. med. Dr. phil. Ur- ban Wiesing, Vorsitzender der „Zen- tralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten bei der Bundesärztekammer“ (ZEKO).

Man solle das bestehende System nicht kaputt reden, „aber für die Zu- kunft führt nichts an dieser Debatte vorbei“. Die ZEKO hat im Jahr 2007 eine Stellungnahme zur „Priorisie- rung ärztlicher Leistungen im System der gesetzlichen Krankenversiche- rung“ vorgelegt. Darin werden vier Stufen der medizinischen Bedürftig- keit vorgeschlagen. Wiesing verwies auf die zunehmenden Klagen vor al- Im Gespräch:Klaus Theo Schröder und Heinz Stüwe, Ady Osterspey

und Jörg-Dietrich Hoppe, Vera Zylka-Menhorn und Jörg Carlsson

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lem der niedergelassenen Ärzte über eine implizite Rationierung. Gleich- zeitig gebe es immer noch zahlreiche Bereiche, in die viel Geld fließe, ohne dass man überhaupt etwas über den daraus resultierenden Nutzen wisse.

Unterstützt wurde Wiesing in sei- ner Argumentation vom Kardiologen Osterspey: „Wenn ich mit einem Budget arbeite, bin ich in meinen Ar- beitsmöglichkeiten begrenzt.“ Die Zugangsmöglichkeiten zu seiner Praxis seien allein schon durch die langen Wartezeiten auf einen Termin beschränkt. Im Bereich seiner Kas- senärztlichen Vereinigung Nordrhein sei das Budget für die gesamte nicht invasive ambulante Kardiologie we- sentlich kleiner als das Budget für Akupunktur. „Was da besser ist, weiß ich nicht“, meinte Osterspey, „aber man muss darüber diskutieren.“

Die Bedeutung der Versorgungs- forschung für die Weiterentwick-

lung der Versorgungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen unterstrich Staatssekretär Schröder. „Ich habe nicht verstanden, dass auf dem Deutschen Ärztetag die in der Tat fehlende Versorgungsforschung als Vorbote der Rationierung darge- stellt wurde und nicht vielmehr als die Chance, die Effizienzreserven im System zu heben“, so Schröder.

Die Versorgungsforschung müsse gestärkt werden, um das gute Ge- sundheitssystem zu erhalten: „Wir müssen immer wachsam sein.“

Auf den Weg gebracht:

Forschung zur Priorisierung An diesem Punkt stimmte ihm Reb- scher zu. Für eine gute Versorgung benötige man systematische For- schung, sagte der DAK-Vorstand:

„Ich muss doch wissen, ob es auf Dauer sinnvoller ist, drei Stents zu zahlen oder einen Bypass.“ In Bezug

auf das Thema Priorisierung hält es Rebscher für falsch, dieses direkt mit Rationierung und Budgetierung zu verknüpfen. So werde von vornher- ein eine breite öffentliche Diskussion verhindert, die jedoch wichtig sei.

„Der Gesetzgeber hat bereits prio- risiert, hat Dinge in der Krankenver- sorgung ausgeschlossen, die nicht immer leicht zu verkraften sind, wie zum Beispiel OTC-Arzneimittel oder Krankentransportfahrten“, bemerkte Prof. Dr. med. Dr. phil. Eckhard Na- gel, Direktor des Instituts für Medi- zinmanagement und Gesundheits- wissenschaften der Universität Bay- reuth. Gemeinsam müsse die Gesell- schaft Wege finden, mit dem Mangel umzugehen. Vorarbeit soll dafür ge- leistet werden in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das sich derzeit mit Priorisierung im Gesundheitswesen befasst. n Thomas Gerst

PRIORISIERUNG: DAS BEISPIEL SCHWEDEN

In Schweden ist es Realität: Erkrankun- gen und ihre Behandlungsmöglichkei- ten werden im Rahmen von Priorisie- rungsleitlinien in eine Rangfolge ge- bracht; sie ist Basis für Versorgungs- entscheidungen.

Erfahrung damit hat „Wortwechsel“- Teilnehmer Dr. med. Jörg Carlsson.

Der Kardiologe verließ vor fünf Jahren Deutschland und ist heute Chefarzt ei- ner Klinik in Kalmar. Für sein Fachge- biet existiert eine Priorisierungsleitlinie, die allen medizinischen Maßnahmen von der Vorbeugung bis zur Rehabilita- tion eine Rangfolge von eins (hoch) bis

zehn (niedrig) zuordnet. Zusätzlich wer- den Maßnahmen gelistet, die man un- terlassen beziehungsweise nur im Rah- men eines Forschungsprojekts vorneh- men sollte.

Auftraggeber von Leitlinien ist die Regierung. Ausgearbeitet werden sie unter Leitung der obersten Gesund- heitsbehörde von einem multiprofessio- nellen Team nach wissenschaftlichen, ethischen und ökonomischen Erwägun- gen. Ziel sind Leitlinien für alle medizi- nischen Fachgebiete. Sie sollen zu ei- nem guten Gesundheitszustand der ge- samten Bevölkerung und zu gleichen

Versorgungsbedingungen führen. „Das Hauptgewicht liegt eher auf der geord- neten, landesweiten Einführung neuer Methoden als auf deren Begrenzung“, betont Carlsson.

Als ein Landtag vor Jahren versuch- te, eine echte Rationierungsliste durch- zusetzen und Ärzten bestimmte Maß- nahmen zu verbieten, scheiterte er da- mit. Andererseits würden inoffiziell stel- lenweise Altersgrenzen gezogen, weiß Carlsson. Er verweist aber auch darauf, dass sich durch die Priorisierung Be- handlungsstandards angeglichen und

verbessert hätten. Rie

Michael-Jürgen Polonius, Präsident des Berufs- verbands der Deutschen Chirurgen (vorne);

Hans-Peter Schuster, Generalsekretär der DGIM

Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, (links); Hartmut Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie

Klaus-Dirk Henke, Gesundheitsökonom an der Technischen Universität Berlin (links);

Uwe Preusker, Gesundheitsberater

Referenzen

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