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wei Wochen nach dem Hochwasser an Elbe, Müglitz,Weißeritz und Mul- de haben die Kassenärztlichen Verei- nigungen (KVen) eine Zwischenbilanz ge- zogen: Hunderte Arztpraxen vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt sind zer- stört, der Gesamtschaden ist noch nicht zu beziffern, die ambulante Versorgung der Patienten war immer sichergestellt, und viele Ärzte müssen jetzt ihre Praxis neu aufbauen.Die KV Sachsen resümierte vergange- ne Woche vorläufig: 300 Arztpraxen, vor allem im Bezirk Dresden, seien schwerst- beschädigt, 47 davon ganz zerstört. Die KV Sachsen-Anhalt berichtete von 47 Praxen mit Wassereinbruch in ihrer Regi- on, darunter 26 sehr schwer beschädigten:
„Bitterfeld, die Lutherstadt Wittenberg und einige Stadtteile von
Dessau sind noch evaku- iert.Wir haben viele Praxen dort bisher nicht erreicht und rechnen damit, dass die Anzahl der betroffenen Praxen noch steigt“, sagte eine Sprecherin der KV Sachsen-Anhalt in Magde- burg. Auch in Niedersach- sen ist es für eine ab- schließende Schadensbi-
lanz noch zu früh. In mindestens vier Pra- xen, drei davon im stark verwüsteten Hitzacker, habe es Wassereinbrüche gege- ben, sagte Carsten Florin, Leiter Sicher- stellung im KV-Bezirk Lüneburg. Für mindestens neun Praxen in Evaku- ierungsgebieten würden die Schäden noch ermittelt. In Brandenburg hat es
nach Angaben der KV vor- aussichtlich nur kleinere Hochwasserschäden in den Arztpraxen gegeben.Keine Schadensmeldungen gin- gen bisher bei den KVen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein ein.
In der Pirnaer Altstadt hat das Hoch- wasser die orthopädische Gemeinschafts- praxis von Dr. Lutz Enderlein und Sabine Maaß völlig zerstört. Vor zwölf Jahren hatte Enderlein die Praxis gegründet, Maaß war vor zwei Jahren eingestiegen.
Sie haben sieben Angestellte, darunter Enderleins Ehefrau als Praxismanagerin.
Den Sachschaden beziffern sie auf rund 250 000 Euro. Zwei Flutwellen sind in der vorvergangenen Woche über Pirna her-
eingebrochen. In den frühen Morgen- stunden des 13.August, ein Dienstag, war die Talsperre am Oberlauf des Gebirgs- flusses Gottleuba übergelaufen, der bei Pirna in die Elbe mündet.„Die Gottleuba ist normalerweise nur ein Bach. Durch das aus der übergelaufenen Talsperre strömende Wasser schwoll sie so an, dass
sie in ihr altes Bett zurückkehrte und durch Straßen und Häuser floss“, berich- tet Sabine Maaß. Die Ärztin hatte die Praxis am Dienstagabend bereits verlas- sen, eine halbe Stunde, bevor das Wasser kam. „Es kam zuerst durch die Gullys hoch. Dr. Enderlein und die Mitarbeite- rinnen konnten gerade noch die Daten von den PCs sichern und mussten dann flüchten“, erinnert sich die Orthopädin.
Als der Wasserstand am Mittwoch, dem
14.August, zunächst wieder sank, ließ der Bundesgrenzschutz Enderlein in die Pra- xis, obwohl die Altstadt noch gesperrt war. „Zu dem Zeitpunkt war dort nur der Fußboden nass“, schildert Maaß. Ihr Pra- xispartner habe die PCs und die medizini- schen Geräte auf die Tische gestellt, der zu erwartende Pegelhöchststand wurde P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 366. September 2002 AA2287
Zwischenbilanz nach dem Jahrhunderthochwasser
Flut zerstört auch Hunderte Arztpraxen
Die Orthopäden Dr. Lutz Enderlein und Sabine Maaß im sächsischen Pirna sowie der Radiologe Dr. Marc Amler in Dresden gehören zu denjenigen, die nach der Flutkata- strophe wieder ganz von vorn anfangen müssen.
Vor der Arztpraxis von Dr. Lutz Enderlein und Sabine Maaß stapelt sich der Müll.
Keine Zeit zum Lamentieren: die Orthopä- den Maaß und Enderlein
„Handwerksbetriebe am Ort waren bereit, schon am Sonntag zu helfen. Mit der Hilfe von Freunden stellten wir eine provisorische Praxisausstattung zusammen. Eine Computerfirma hat uns PCs geliehen.“
Fotos (2):Dr.Lutz Enderlein
noch mit 7,50 Meter angegeben. Maaß:
„Doch dann stieg das Wasser bis auf 9,40 Meter, in der Praxis stand es 1,80 Meter hoch.“ Schon am Freitag, dem 16.August, machten sich die beiden Orthopäden per Fahrrad auf die Suche nach neuen Praxis- räumen in Pirna und wurden fündig. Eine leer stehende frühere Nervenarztpraxis war sofort anmietbar. Bereits am Sonn- tag, dem 18. August, begannen Enderlein und Maaß, die neuen Praxisräume einzu- richten. „Handwerksbetriebe am Ort wa- ren bereit, schon am Sonntag zu helfen.
Mit der Hilfe von Freunden stellten wir eine provisorische Praxisausstattung zu- sammen. Eine Computerfirma hat uns PCs geliehen“, blickt Sabine Maaß zurück. In der neuen Praxis sei derzeit al- les gebraucht, von Freunden und Kolle- gen geschenkt oder geborgt.
Am Montag, dem 19. August, durften die beiden Ärzte dann erstmals wieder in die alten Praxisräume. Doch dort war kaum etwas zu retten: Röntgen-, Sono- graphie-, Arthroskopiegeräte und die Steuerung einer Säge für Fuß-OPs waren ebenso zerstört wie die teuren Liegen in den Behandlungszimmern, alle Möbel und die medizinische Bibliothek, die En- derlein in zwölf Jahren angesammelt hat- te. „Ich hatte davor immer gedacht, das Wort ‚Katastrophengebiet‘ sei eine Über- treibung“, sagt Sabine Maaß, „aber der Anblick war zutiefst deprimierend. Es sah aus wie auf dem Mond. Dabei hatten
wir noch das Riesenglück, ausschließlich materielle Werte verloren zu haben.“ Ge- blieben sind die Arbeitskraft, das Wissen und die Erfahrung. Seit Montag, dem 26.
August, praktizieren Enderlein und Maaß in den neuen Räumen.
Im Dresdener „Ärztehaus am Blauen Wunder“ haben mehr als 50 Ärzte ihre Praxen. Die ehemalige Poliklinik liegt in unmittelbarer Nähe der gleichnamigen Elbbrücke. Hier zerstörte das Elbhoch-
wasser unter anderem eine große radiolo- gische Gemeinschaftspraxis, in der fünf Ärzte und 26 Angestellte arbeiten. Dr.
Marc Amler, Facharzt für diagnostische Radiologie, berichtet: „Bis Donnerstag, den 15. August, hatten wir mit dem Tech- nischen Hilfswerk und der Feuerwehr
Sandsäcke gestapelt. Um drei Uhr in der Nacht auf Freitag mussten wir aufgeben.
Die Praxis betreten konnten wir erst wie- der am Montag, dem 19. August. Übers Wochenende hatte das Wasser 1,70 Meter hoch in den Räumen gestanden.“ Es zer- störte einen Computertomographen, zwei Kernspintomographen, ein kon- ventionelles Mammographiegerät, eine volldigitale Mammographiestation im Wert von rund 400 000 Euro, eine kom- plette konventionelle Röntgeneinrich- tung und eine nuklearmedizinische Ka- mera. 400 000 Archivtüten mit radiologi- schem Bildmaterial sind zum großen Teil Sondermüll. Die meisten PCs und das digitale Archiv konnten die Praxisinha- ber und ihre Mitarbeiter retten.
„Angehörige und freie Helfer haben hier in den Tagen nach der Flut bei 29 Grad im Schatten aufgeräumt. Länger als zehn Minuten konnte man keinen Helfer den beißenden Ausdünstungen in den ver- schlammten Archivräumen aussetzen“,er- innert sich Amler. Das Wasser und der Schlamm seien schmutzig gewesen, hätten beißend gerochen und könnten bei Haut- kontakt Ausschläge verursacht haben.
Den Sachschaden beziffert der Arzt auf fünf bis sechs Millionen Euro, etwa ein Viertel davon allein an nicht versicherten Ein- und Umbauten wie den Faraday- schen Käfigen für die Kernspintomogra- phen.Die Räume werde man auf absehba- re Zeit nicht mehr nutzen können.
Für ihre Angestellten mussten die Pra- xisinhaber am 14. August Kurzarbeit an- melden. „Aber wir hoffen, unsere Mitar- beiter nach und nach wieder zurückholen zu können“, sagt Amler. Seit einer Woche steht auf dem Parkplatz des Ärztehauses ein Truck mit einem mobilen Kernspinto- mographen zum Mietpreis von 50 000 Eu- ro im Monat. Schon am Dienstag, dem 20. August, wurden dort Patienten unter- sucht. Ein mobiler Computertomograph ist seit Mittwoch, dem 21.August, im Ein- satz. Amler hebt die Leistungen der frei- willigen Helfer während der Katastrophe hervor. Passanten und Patienten hätten sich in die Kette der Helfer eingereiht,um Sandsäcke zu stapeln.Bei den Organisati- onsstellen der Ortsämter und Krisenstä- be meldeten sich jetzt noch täglich Leute, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen.
„Es ist ein unglaubliches Zusammen- gehörigkeitsgefühl entstanden“, sagt Amler. Isolde Grabenmeier P O L I T I K
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A2288 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 366. September 2002
„Ich hatte davor immer gedacht, das Wort ‚Kata-
strophengebiet‘ sei eine Übertreibung, aber der Anblick war zutiefst depri- mierend. Es sah aus wie auf
dem Mond.“
„Angehörige und freie Helfer haben hier in den Tagen nach der Flut bei 29 Grad im Schatten auf- geräumt. Länger als zehn Minuten konnte man keinen Helfer den beißen- den Ausdünstungen in den
verschlammten Archiv- räumen aussetzen.“
1,70 Meter hoch stand das Wasser im
„Ärztehaus am Blauen Wunder“.
Schrottreif: die Tomographenröhre der Dresdner Radiologen
Fotos (2):Dr.Marc Amler