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Archiv "Kinder körperlich kranker Eltern: Psychische Folgen und Möglichkeiten der Prävention" (24.09.1999)

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ie schwere körperliche Er- krankung einer Mutter oder eines Vaters greift auf vielfa- che Weise in die Beziehung zwischen Eltern und Kind ein und kann die psychische und soziale Entwicklung des Kindes nicht nur erschweren, sondern auch nachhaltig beschädi- gen. Kinder von körperlich kranken Eltern werden seit der Untersu- chung von Rutter (1966) als Risiko- gruppe für die Entwicklung einer kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankung eingestuft.

Genaue Zahlen über die Präva- lenz der betroffenen Kinder und Ju- gendlichen sind bislang nicht be- kannt, analog zu Schätzungen in den Vereinigten Staaten kann jedoch da- von ausgegangen werden, daß auch in Deutschland 5 bis 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen einer sol- chen gravierenden Belastung ein- mal, mehrfach oder chronisch ausge- liefert sind.

Es handelt sich also um ein millio- nenfach auftretendes Phänomen, das

in unserem Versorgungssystem bis- lang weder klinisch oder wissenschaft- lich, noch im Hinblick auf präventi- ve Konzepte ausreichend berück- sichtigt worden ist und als ein Quer- schnittsthema für die gesamte klini- sche Medizin erhöhter Aufmerksam- keit bedarf.

Schon die frühe Beschäftigung mit schädigenden und protektiven Faktoren in der kinder- und jugend- psychiatrischen Forschung (bei- spielsweise in der Kauai-Studie) hat gezeigt, daß elterliche Erkrankungen einen Risiko- oder Belastungsfaktor für die Ausbildung einer kinder- und jugendpsychiatrischen Störung be- deuten (56).

Über die Beschäftigung mit Kin- dern sterbender Eltern (18, 19) hat das Thema vereinzelt Eingang in die empirische Forschung gefunden.

Neuere Überblicksarbeiten über die noch spärliche, erst in langsamer Entwicklung befindliche Forschung auf diesem Gebiet (2, 40, 59) kom- men zu dem Ergebnis, daß die Aus- wirkungen elterlicher körperlicher Erkrankungen auf Kinder entschei- dend abhängen von der Art der Er- krankung (akuter oder schleichen- der Beginn, kontinuierlicher oder re- zidivierender Verlauf, gute oder schlechte Prognose) und ihrem Ein- fluß auf die elterliche Beziehungs- fähigkeit zum Kind (unter anderem reale und emotionale Verfügbar- keit).

Von zentraler Bedeutung ist außerdem der kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsstand des Kindes und das Vorhandensein oder Fehlen protektiver Faktoren.

Unsere Kenntnisse über die spe- zifischen Reaktionen von Kindern kranker Eltern sind bislang unzurei- chend. Unter wissenschaftlichen Ge- sichtspunkten wird in Zukunft zu klären sein, ob die elterliche Erkran-

Kinder körperlich kranker Eltern

Psychische Folgen und Möglichkeiten der Prävention Peter Riedesser

Michael Schulte-Markwort

Eine schwere körperliche Erkrankung einer Mutter oder ei- nes Vaters greift auf vielfache Weise in die Beziehung zwi- schen Eltern und Kind ein und kann die weitere Entwick- lung des Kindes nachhaltig beeinträchtigen. Kinder körper- lich kranker Eltern sind als eine Risikopopulation im Hin- blick auf die Entwicklung psychiatrischer Störungen zu be- trachten. Man kann spezifische Belastungen dieser Kinder und Jugendlichen nach entwicklungsspychologischen Ge- sichtspunkten, Art und Verlauf der Erkrankung der Eltern (akut, chronisch, letal) und dem Fehlen oder Vorhandensein

protektiver Faktoren (zum Beispiel kompensatorische Bezugsperson) dif-

ferenzieren. Unter präventiven Gesichtspunkten ist es er- forderlich, die alters- und krankheitstypischen Belastungen der Kinder körperlich kranker Eltern weiter zu erforschen und in ein familienorientiertes Behandlungskonzept zu inte- grieren.

Schlüsselwörter: Elterliche Erkrankung, Coping, Prävention, psychische Störung im Kindes- und Jugend- alter, Risikogruppe

ZUSAMMENFASSUNG

Children of Physically Ill Parents: Mental Health Development and Prevention

Severe physical illness in a mother or father influences the relationship between parents and child in many ways and may profoundly affect the development of the child. Child- ren of physically ill parents have to be classified as a risk group since they are susceptible for the development of psychiatric disorders. Specific stress factors can be differ- entiated according to aspects of developmental psychol- ogy, type and course of the parents’ disease (acute, chronic,

lethal) and the absence or presence of protec- tive factors (such as a compensatory reference

person). Considering preventive aspects, it is essential to further investigate the age- und disease-related stress fac- tors to which children of physically ill parents are exposed and to integrate them into a family-oriented therapeutic plan.

Key words: Parental disease, coping, mental health prevention, child and adolescent psychiatric disorder, risc population

SUMMARY

D

Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (Direktor: Prof.

Dr. med. Peter Riedesser), Universitäts-Kran- kenhaus, Hamburg-Eppendorf

(2)

kung eine spezifische oder unspezifi- sche Belastung darstellt und mit wel- chen individuellen Bedingungen auf Seiten des Kindes und seiner psycho- sozialen Umwelt Wirkzusammenhän- ge bestehen.

Sinnvoll ist eine Unterteilung nach der Art der körperlichen Er- krankung. Bislang liegen Ergebnisse zu den nachfolgenden somatischen Störungen von Eltern vor.

Krankheitsbild der Eltern

Krebserkrankung

Untersuchungen von Kindern brustkrebskranker Mütter zeigen, daß sich die Beziehungen zwischen Müt- tern und Kindern in 25 Prozent der Fälle verschlechtern (30). Die Kinder krebskranker Eltern, die sich im Prä- terminalstadium befinden,

sind signifikant depressi- ver, ängstlicher und zeigen mehr Verhaltensauffällig- keiten (45).

Selbstwert und soziale Kompetenz sind ernied- rigt. Töchter krebskranker Mütter sind belasteter als Söhne oder Töchter krebs- kranker Väter (21), wahr- scheinlich weil sie familiä- re Pflichten stärker über- nehmen und in besonderer Weise identifiziert sind (6).

Dadurch werden oft- mals Probleme der Ver- selbständigung deutlich (54). Jugendlichen gelingt

es besser als Kindern, ein angemesse- nes Coping zu leisten (10), wobei El- tern häufig die Belastung ihrer Kin- der unterschätzen (53).

Dialysepatient

Kinder von dialysepflichtigen Eltern reagieren häufig mit einem Leistungsabfall in der Schule (26), mißlungenem Coping (57) im Sinne von Aggressionsbildungen (16), Es- kapismus oder Somatisierungsten- denzen, depressiven und hypochon- drischen Verhaltensmustern (5, 50).

Innerhalb der Familien kommt es vermehrt zu Verleugnung und massi-

ven Spannungen (48), Kommunika- tionsstörungen (32) mit Verschie- bungen von Aggression und Empa- thiemangel (31).

Neurologische Erkrankung Kinder von Eltern, die an mul- tipler Sklerose erkrankt sind, zeigen signifikant mehr Ängste als Kon- trollgruppen mit Kindern gesunder Eltern (3) und eine Tendenz zu ver- mehrten Körperbildstörungen (34, 48). Die Familien halten weniger zusammen als Familien aus nicht kli- nischen Kontrollgruppen (35), zei- gen weniger Außeninteressen und bewältigen die Erkrankung eines Elternteils zu 50 Prozent maladap- tiv (37).

Kinder von epilepsiekranken Eltern entwickeln etwa zu einem Drittel psychische Störungen (38).

Zwei Drittel der Kinder von Eltern

mit Chorea Huntington reagieren maladaptiv auf die Krankheit, indem sie von der Angst besetzt sind, die- selbe Krankheit zu bekommen und daher depressive und hypochondri- sche Symptome entwickeln (36).

Diabetiker

Bei Kindern diabetischer El- tern wurden Tendenzen der Ratio- nalisierung und Verleugnung gefun- den, bei gleichzeitiger Angst, sie könnten auch eines Tages an Diabe- tes erkranken (27). Die Eltern baga- tellisierten psychische Probleme ih- rer Kinder.

Koronarpatient

Übermäßige Besorgtheit bezüg- lich der eigenen körperlichen Unver- sehrtheit bis hin zu starken hypo- chondrischen Ängsten finden sich bei Kindern von koronarkranken Eltern (25). Nach einem Herzinfarkt eines Elternteils reagieren besonders die sechs- bis zwölfjährigen Kinder mit Irritationen, während die Jugendli- chen verständnisvoll handeln kön- nen. Nach drei Monaten hat sich auch bei den Familien mit jüngeren Kin- dern das Familienleben wieder nor- malisiert (12), wobei es positive Kor- relationen zwischen der sozialen Inte- gration der Familie und dem intrafa- miliären Zusammenhalt gibt (13).

Rheumatoide Arthritis

Analog zu einer Kontrollgruppe mit Kindern depressiver Eltern zeigen die Kinder von Eltern mit rheumatoi- der Arthritis signifikant schlechtere Selbstwertgefühle und mehr psychi- sche Symptome (24). Später kann es bei einem Drittel der Familien zu Ab- lösungsproblemen der Jugendlichen aus dem „kranken Elternhaus“ kom- men (55).

Schmerzpatient

Der Familienzusammenhalt bei Schmerzfamilien ist signifikant ge- ringer als bei gesunden Familien bei gleichzeitig gesteigerter Konflikthaf- tigkeit (14); die Kinder zeigen signi- fikant häufiger Somatisierungsten- denzen (33).

Körperlich behindert und/oder verunfallt

Obwohl in der Bundesrepublik Deutschland fast acht Prozent der Bevölkerung als schwerbehindert anerkannt sind, findet die Situation körperbehinderter Eltern kaum Nie- derschlag in der Literatur. Einzelne Arbeiten hierzu zeigen, daß behin- derte Menschen sich gut in der Lage fühlen, Eltern zu werden und Kinder zu erziehen (4).

Auch Hypothesen bezüglich schlechterer Anpassung von Kindern querschnittsgelähmter Väter ließen sich nicht in allen Untersuchungen

M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG

(3)

bestätigen (8, 9). Andere Arbeiten zeigen, daß diese Familien von den Rollenwechseln ihrer Eltern gekenn- zeichnet sind, die nicht mehr in allen Bereichen aktiv am Leben teilneh- men können und dadurch die Familie belasten (11). Einzelne Kasuistiken beschreiben schwere Selbstver- letzungen im Rahmen identifika- torischer Prozesse (23). Kinder kopf- verletzter Eltern sind in vielen Fällen Kindern psychisch kranker Eltern gleichzusetzen, da die psychischen Veränderungen der Eltern zumindest passager oft erheblich sind (51).

Verstorben

Die Berichte über verwaiste Kinder zeigen ein breites Spektrum an möglichen Störungen. Die Ergeb- nisse reichen von unspezifischen Verhaltensauffälligkeiten (58), De- linquenz (22), Schulleistungsstörun-

gen (1, 15, 42), Depressionen (28, 52), bis zu Somatisierungsstörungen (58). Die Belastungen der Kinder entstehen durch unterschiedliche Be- lastungsgefüge im Verlauf elterlicher Erkrankungen (Tabelle).

Im Verlauf der akuten oder chro- nischen elterlichen Erkrankung spielt das Erleben der betroffenen Kinder eine zentrale Rolle und sollte auch bei der Planung und Durchführung der Behandlung der Eltern berücksichtigt werden (Textkasten Belastungen).

Bei Kindern aller Altersstufen erfordern die durch eine schwere Er- krankung eines Elternteils hervorge- rufenen Veränderungen eine große Anpassungsleistung; je nach kogniti- vem Entwicklungsstand reagiert das Kind mit alters- und persönlichkeits- spezifischen Überlegungen zur Ätio- logie, zur Therapie und zur Gestal- tung von gegenwärtigem Alltag und Zukunft (Textkasten Reaktionen).

Entwicklungspsycho- pathologische Aspekte

Je nach Entwicklungsstand und eventuell schon vor Krankheitsbe- ginn bestehender individueller und familiärer Problematik und bei Feh- len protektiver Faktoren (zum Bei- spiel konstant verfügbare zusätzliche Bezugspersonen) können massive Interferenzen mit Entwicklungsauf- gaben erfolgen, von der Störung des Bindungsaufbaus in der frühen Kind- heit bis hin zum Ablösungsprozeß in der Adoleszenz. Als klinisch und wis- senschaftlich fruchtbarer Bezugsrah- men für das Verständnis der Proble- me der Kinder kranker Eltern soll hier eine entwicklungspsychopatho- logische Betrachtungsweise der El- tern-Kind-Beziehung am Beispiel tu- morkranker Mütter dargestellt wer- den.

Erkrankt eine Mutter schon wäh- rend der Schwangerschaft an einem Tumor, kann die vorgeburtliche Be- ziehung auf empfindliche Weise ge- stört werden, indem die erforderliche psychische Akzeptierung und „Beset- zung“ des Ungeborenen durch schwe- re depressive Zustände und Zu- kunftsängste erschwert wird. Ebenso, wenn eine Chemotherapie und/oder Strahlentherapie aus Rücksicht auf den Fetus nicht sofort und in der hin- reichenden Dosierung erfolgen kann.

So kann sich ein tragischer Zielkon- flikt zwischen dem Recht der Mutter auf Überleben und dem Recht des Ungeborenen auf körperliche Unver- sehrtheit ergeben, mit ausgesproche- ner oder unausgesprochener Vor- wurfshaltung der Mutter gegenüber dem Kind und beim Kind in einer be- wußten oder unbewußten „Überle- bensschuld“ gegenüber der Mutter.

In der Säuglings- und Kleinkind- zeit kann der frühe Beziehungsauf- bau zwischen Mutter und Kind durch die schwere psychische Belastung der Mutter und häufige Trennungen in- folge von Krankenhausaufenthalten empfindlich gestört werden. Ältere Kinder beginnen, realistische Vor- stellungen von der Irreversibilität des Todes zu entwickeln und erleben da- durch ein verstärktes Gefühl für die Bedrohung des Lebens der Mutter, zumal, wenn sie Krankheitssympto- me und Nebenwirkungen der Thera- Tabelle

Bedingungsfaktoren

Elterliche Psychosoziale Kindliche

Erkrankung Bedingungen Faktoren

Art: Reale elterliche Alter

akut Verfügbarkeit

schleichend Entwicklungsstand

chronisch Emotionale elterliche

Verfügbarkeit Kognition

Verlauf: Verfügbarkeit des Psychosoziale

kontinuierlich gesunden Elternteils Kompetenz rezidivierend

nicht vorhersagbar Kompensierende Anpassungsniveau Beziehungen

Beziehungen zur Einbeziehung in die Peer Group Prognose: elterliche Behandlung

gut Bewältigungs-

schlecht Materielle Bedingungen strategien infaust

Residuen Vorbestehende Stressoren Geschwister- beziehungen Andere Lebensereignisse

Vererblichkeit (Groß-)familiäre Beziehungsstruktur Alter des betroffenen

Elternteils Gesundheit des anderen Elternteils Coping-Strategien

Eigene Berechnungen nach (1)

(4)

pie, wie Haarausfall, Erbrechen, Am- putationen und anderes miterleben.

Weil sie keine realistischen Erklärun- gen erhalten, bilden sie zum Teil noch bedrohlichere Phantasien aus als es der medizinischen Realität im Hin- blick auf Diagnose, Ätiologie und Prognose entspricht.

Jugendliche, deren normale Ent- wicklungsaufgabe darin besteht, sich vom Elternhaus zu lösen, können ei- ne schwere Ausbruchsschuld ent- wickeln, zumal, wenn sie parentifi- ziert worden sind, das heißt „elterli- che“ Verantwortung für die eigenen, schwerkranken Eltern übernehmen mußten.

Von besonderer Belastung ist die Brustkrebserkrankung einer Mutter für ihre heranwachsende Tochter, wenn deren Pubertät (mit einem „be- nignen Brustwachstum“) mit der Krankheit der Mutter (einem „malig- nen Brustwachstum“) zusammen- fällt. Adoleszente Mädchen können in dieser krisenhaften Entwicklungs- phase, in der ihre Ängste, Wünsche und Phantasien um die sich ent- wickelnde Weiblichkeit, um Sexua- lität und Mutterschaft kreisen, erheb- lich belastet sein und mit vielfältigen Symptomen reagieren (6).

Klinische Aspekte

Kinder und Jugendliche können bei der Bewältigung der schweren Erkrankung eines Elternteils schei- tern und ein breites Spektrum von Symptomen entwickeln, von vor-

übergehenden Anpassungsstörungen bis hin zu posttraumatischen Streß- symptomen. Im Textkasten Symptome sind häufig gefundene Symptome aufgelistet (2, 19, 40, 44, 59).

Eltern, die selbst schwer er- krankt sind, erleiden oft eine Er- schöpfung ihrer empathischen Kom- petenz gegenüber ihren Kindern, können daher Signale der Not, die von Kindern ausgesendet werden, nicht wahrnehmen und neigen zur Unterschätzung der Belastung ihrer Kinder (53). Häufig leiden sie an Schuldgefühlen, weil sie ihren elter- lichen Funktionen nicht mehr hinrei- chend nachkommen können. Beson- dere Gefährdungen, die aus kasuisti- schen Beobachtungen und auch er- sten empirischen Untersuchungen (29) deutlich geworden sind, erge- ben sich für besondere Risikogrup- pen.

Präventive Ansätze

Kinder kranker Eltern benöti- gen eine – altersgemäß formulierte, individuell dosierte – kognitive Ori- entierung, und zwar über das Krank- heitsbild, seine Ätiologie, die mögli- che Ansteckbarkeit und Vererbbar- keit und über die geplante Therapie.

Eine Schweigespirale zwischen El- tern, Kind und Arzt erschwert adap- tative Vorgänge. Erst vor dem Hin-

tergrund einer hinreichend vermit- telten medizinischen Realität lassen sich mögliche realitätsverzerrende Phantasien von Schuld, Bedrohung und anderem erkennen und bearbei- ten. Einzelne Monographien zeigen inzwischen Wege der Bewältigung für alle Betroffenen auf und verwei- sen auf elaborierte Konzepte der professionellen Betreuung der be- troffenen Familien (43).

Bislang beschriebene Interven- tionsprogramme für Kinder tumor- kranker Eltern zeitigen positive Er- gebnisse: Jüngere Kinder können ih- re Schuldgefühle bewältigen, ältere sind entlastet durch die Möglichkeit, Probleme besprechen und lösen zu können (10, 45, 49) .

Eine Einbeziehung Jugendli- cher in die hämodialytische Behand- lung stärkt deren Selbstvertrauen und ist bei der Identitätsfindung hilf- reich (20), bei jüngeren Kindern ver- bessert sie die Auseinandersetzung mit der elterlichen Erkrankung (17) und damit die Adaptation (26).

Eine solche Orientierung sollte, wenn möglich, durch die Eltern selbst und die behandelnden Ärzte erfolgen. Da diese jedoch häufig aus verschiedenen Gründen sich nicht dazu imstande fühlen, sollten sie da- bei unterstützt werden. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten der präventiven Intervention (43), die individuell und in Absprache mit dem kranken Elternteil realisiert werden sollten. Der Textkasten Inter- vention zeigt ein paar Möglichkeiten auf.

M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG

Belastungen von Kindern körperlich kranker Eltern c Miterleben der körperlichen

Symptomatik durch Krankheit oder Unfall (inklusive Rückfäl- le, Chronifizierung, Terminal- stadium)

c Miterleben von eingreifenden medizinischen Maßnahmen (zum Beispiel operative Ein- griffe, Bestrahlungen, Chemo- therapie)

c Erleben der psychischen Reak- tionen der Eltern und Ge- schwister (zum Beispiel De- pressivität, Angstzustände) c Erleben von krankheits- oder

unfallbedingten Trennungen (zum Beispiel durch Klinikauf- enthalte)

Reaktionen von Kindern körperlich kranker Eltern c Phantasien zur Ätiologie (mit

oft magischer Schuldzuschrei- bung)

c Gedanken über die Therapie (mit oft irrationalen Vorstel- lungen)

c Überlegungen zur Zukunft der Familie und zur eigenen Le- bensperspektive

c Bemühungen um funktionale Alltagsbewältigung (beispiels- weise frühe Autonomie, Ver- antwortungsübernahme für an- dere Familienmitglieder)

Symptome dysfunktionaler Bewältigung c Regressive Symptome (zum

Beispiel Daumenlutschen, Trennungsangst, Enuresis) c depressive Symptome mit/ohne

Suizidalität c Angstsymptome

c Konzentrations- und Lern- störungen

c Zwangssymptome c Konversionssymptome c Verwahrlosung, Drogenabusus c Überanpassung („pathologi-

sche Unauffälligkeit“)

(5)

Angesichts des Ausmaßes der Problematik der Kinder körperlich kranker Eltern entsteht ein dringen- der Handlungsbedarf, der zum Bei- spiel zum Aufbau von kinder- und jugendpsychiatrischen Konsiliardien- sten in somatischen Kliniken führen sollte. Es gilt, auch in Deutschland systematisch weitere Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln und wissenschaftlich zu evaluieren. Es besteht also großer Forschungsbe- darf (Textkasten Forschungsbedarf) (40, 59).

Resümee

Zusammenfassend soll nochmals betont werden, daß das Bemühen, al- le Erkrankungen von Eltern auch aus der Sicht ihrer Kinder zu betrachten, in unser ärztliches Denken und Han-

deln eingehen muß, auch wenn dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher noch die Ausnahme ist.

Ziel muß es sein, durch einen präventiven Ansatz dafür Sorge zu tragen, daß Kinder an den Krankhei- ten ihrer Eltern psychisch nicht de- kompensieren und erkranken, son- dern durch Vermittlung geeigneter Hilfen diese Belastungen verarbei- ten können, und zwar möglichst kreativ und entwicklungsfördernd (2, 40). Wenn unser medizinisches Versorgungssystem und auch die Öf- fentlichkeit für die spezifischen Ge- fährdungen und Bedürfnisse der Kinder kranker Eltern ausreichend sensibilisiert werden können, ist zu hoffen, daß ein solches familienori-

entiertes Betreuungskonzept in na- her Zukunft zu einer Selbstverständ- lichkeit wird.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1999; 96: A-2353–2357 [Heft 38]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Son- derdruck beim Verfasser und über die Inter- netseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser

Prof. Dr. med. Peter Riedesser Universitätskrankenhaus Eppendorf

Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters

Martinistraße 52 20246 Hamburg Forschungsbedarf

c Weitere Herausarbeitung krankheits- und therapiespezifi- scher Belastungen von Kindern verschiedener Altersstufen c Identifizierung weiterer Risi-

kogruppen

c Identifizierung von protektiven Faktoren (Kind, Familie, sozia- les Umfeld)

c Entwicklung und Evaluierung von Interventionskonzepten c Erforschung der Implementie-

rung entsprechender Konzepte in das medizinische Versor- gungssystem

Möglichkeiten der präventiven Intervention c Rechtzeitige Abklärung der In-

dikation für eine weiterführen- de kinder- und jugendpsychia- trische Diagnostik/Therapie c Elternberatung

c Familiengespräche c Familientherapie

c Einzelgespräche mit dem Kind c Einzeltherapie für das Kind c Gruppengespräche mit betrof-

fenen Kindern/Eltern

Risikogruppen

c Kinder von Eltern ohne verläß- liches soziales Netz

c Kinder von Eltern, die zusätz- lich psychische Störungen auf- weisen

c Kinder von Eltern, die in schwe- ren Partnerkonflikten leben c Kinder von Eltern mit infau-

ster Prognose

c Kinder, die selbst körperlich und/oder psychisch erkrankt oder behindert sind

Die laterale interne Sphinkteroto- mie kann zu einer Stuhlinkontinenz führen. Um dies zu vermeiden, wird in zunehmendem Maße auch mit konser- vativen Maßnahmen versucht, eine chronische Analfissur zur Ausheilung zu bringen. In einer prospektiven Stu- die mit 50 Erwachsenen mit symptoma- tischer chronischer posteriorer Anal- fissur wurden entweder zweimal 20 Einheiten Botulinustoxin oder eine 0,2 prozentige Nitroglyzerinsalbe zwei- mal täglich über sechs Wochen appli-

ziert. Nach zwei Monaten waren die Fissuren bei 24 von 25 Patienten (96 Prozent) nach Gabe von Botulinus- toxin abgeheilt, in der Nitroglyzerin- gruppe nur in 15 von 25 Fällen (60 Pro- zent). Eine Stuhlinkontinenz hatte kei- ner der Patienten entwickelt. Fünf Pati- enten in der Nitroglyzeringruppe klag- ten über vorübergehende mäßig bis starke Kopfschmerzen, während in der Botulinusgruppe keine unerwünschten Wirkungen auftraten. Von den zehn Patienten, die initial nicht auf die vor-

gesehene Behandlung angesprochen hatten, konnten alle zehn nach Wechsel des Therapieprinzips geheilt werden.

Rezidive wurden während einer 15- monatigen Nachbeobachtungsperiode nicht beobachtet. Die Autoren folgern, daß die Injektion von Botulinustoxin unter den nichtoperativen Maßnahmen die besten Ergebnisse zeigt. w Brisinda G, Maria G, Bentivoglio AR et al.: A comparison of injections of botuli- num toxin and tropical nitroglycerin oint- ment for the treatment of chronic anal fis- sure. N Engl J Med 1999; 341: 65–69.

Istitutio di Clinica Chirurgica Generale, Policlinico Universitario Agostino Ge- melli, Largo Agostino Gemelli 8, 00168 Rom, Italien.

Botulinustoxin oder Nitroglyzerin

bei chronischer Analfissur?

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