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Archiv "Alma-Ata – Zehn Jahre danach" (30.03.1989)

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a_Ata Erfahrungen mit dem Konzept der Basisgesundheitsdienste

Am 12. September 1978 stimmten im sowjetischen Alma-Ata die Reprä- sentanten von 134 Nationen unter der Schirmherrschaft der Weltgesund- heitsorganisation (WHO) für eine Deklaration, in der alle Regierungen und Völker aufgerufen werden, die Gesundheit aller Menschen auf der Welt zu schützen, zu fördern und dafür Sorge zu tragen, allen Menschen den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Gedacht ist in erster Linie an die bereits 4000 Millionen Menschen in den heutigen Entwicklungsländern. Dort werden gegenwärtig nur zwei von zehn Menschen von einem funktionstüchtigen Gesundheitswesen erreicht.

Z ehn Jahre danach

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

D

ie Alma-Ata-Deklaration der WHO formuliert eine Strategie, welche auf Ge- sundheit für alle zielt. Der neue Ansatz lautet: Primäre Ge- sundheitsfürsorge durch Basisge- sundheitsdienste zur Verwirklichung eines Grundrechtes, das jedem Men- schen zusteht. Die immer größer werdende Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, aber auch zwischen Stadt- und Landbevölke- rung in den Entwicklungsländern selbst ist aus politischer, wirtschaft- licher und sozialer Sicht heute unan- nehmbar und geht deshalb alle Völ- ker an. Die Frage: „Gesundheit durch Entwicklung oder Entwick- lung durch Gesundheit?" ist längst beantwortet: ohne Gesundheit — kei- ne Entwicklung! Eine intakte Welt- gesundheit ist letztendlich Schritt- macher für unser aller Frieden und beinhaltet somit ein bedeutendes po- litisches Potential.

Primäre Gesundheitsfürsorge bedeutet nicht etwa primitive, vor- sintflutliche oder zweitrangige Medi- zin. Primäre Gesundheitsfürsorge heißt vielmehr: ein auf die Versor- gung der Mehrheit der Bevölkerung und auf die Gemeinde hin orientier- ter Gesundheitsdienst. Seine Aufga- be orientiert sich an den fundamen- talen Grundbedürfnissen der Bevöl- kerung und fördert den Selbsthilfe- willen und die teilweise Verantwor- tungsübernahme durch die Betroffe- nen selbst.

Neue Strategien

In der Kolonialzeit orientierten sich Gesundheitsdienste in Entwick- lungsländern ausschließlich am

„westlichen" Vorbild. Weder struk- turell noch personell berücksichtigte dieser Ansatz das eigentliche Ge- sundheitsproblem der Bevölkerungs- mehrheit, nämlich mangelnde Nah- rung, Hygiene, Trinkwasserversor- gung, Entsorgung und Bildung — mit einem Wort Armut. Seit den 60er Jahren wurde die Ungeeignetheit dieses europäischen krankenhaus- und arztzentrierten Ansatzes er- kannt. Bei aller Anerkennung des Rechts aller Menschen auf bestmög- liche Medizin forderte dieser Tatbe-

stand Überlegungen heraus, wie man trotz der beschränkten Möglich- keiten die Situation der Mehrheit der Menschen verbessern könnte.

Dazu kam die Einsicht, daß durch den Teufelskreis von Armut, Krank- heit und niederer Produktivität enor- me volkswirtschaftliche Verluste ent- stehen. Ferner wurden diese Überle- gungen stimuliert durch die beob- achtete Verbesserung der Gesund- heitsversorgung in Kuba und China, wo innerhalb weniger Jahre gewalti- ge Erfolge — besonders in der Nivel- lierung der Versorgungsdisparitäten

— erzielt wurden.

Die neue Basisgesundheitsstra- tegie ist somit letztendlich die Ant- wort auf das eklatante Scheitern konventioneller Gesundheitssysteme mit ihrer mehr oder weniger krank- heits- und kurativorientierten Ma- schinerie. Primäre Gesundheitsfür- sorge ist dabei nicht etwa eine von mehreren Alternativen, um den bis- her vernachlässigten 75 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsfürsorge zu verschaffen, sondern wahrschein- lich die einzige, um der Herausfor- derung der Zukunft wirkungsvoll zu begegnen. Die unausweichliche Al- ternative wäre keine Fürsorge für ei- nen Großteil dieser Völker.

Die Gesundheit in Entwick- lungsländern der Dritten Welt wird größtenteils durch eine von Armut und Ungewißheit bestimmte Umwelt geprägt, und die Unzulänglichkeiten

der bestehenden Gesundheitssyste- me sind direkte und indirekte Mani- festationen dieser Umwelt. Primäre Gesundheitsfürsorge muß sich daher als Teil einer multisektoralen, inter- disziplinären Strategie, bestehend aus den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung, Erziehung, Umwelthy- giene, Sozial- und Kommunikations- wesen und Kuration verstehen. So- mit bedeutet sie eine klare Absage an das bisher vorherrschende klini- sche Modell.

Primäre Gesundheitsfürsorge versucht, die ländliche Bevölkerung selbst in die Lage zu versetzen, zu- künftig ihre eigenen Probleme bes- ser zu erkennen und sie selbst zu lö- sen. Dieser Prozeß könnte ländliche Gebiete und Randzonen in Entwick- lungsländern wieder attraktiver ma- chen und der weltweit beklagten Ur- banisationstendenz entgegenwirken.

Primäre Gesundheitsfürsorge ver- sucht, mit einfachen, aber landesüb- lichen und kulturkonformen Mitteln und Methoden, bestehende Proble- me in Angriff zu nehmen, die aktive Beteiligung der betroffenen Bevöl- kerung zu fördern, die einheimi- schen traditionellen Gesundheitssy- steme anzuerkennen und zu aktivie- ren und die vertraute, heimische Umgebung als das günstigste Umfeld für den Heilungsprozeß zu reetablie- ren.

Und wie sieht die Wirklichkeit zehn Jahre nach Alma-Ata aus? Die neue Strategie wurde in vielen Län- Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989 (21) A-857

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A-858 (22) Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989 dem enthusiastisch begrüßt und teil-

weise schon in die Praxis umgesetzt.

Die gemachten Erfahrungen waren hoffnungsvoll, aber in vieler Hinsicht auch ernüchternd. Besonders in pri- mär westlich orientierten Gesund- heitssystemen war die Einführung ei- nes Basisgesundheitsdienstes ein oft schwerer und langwieriger, mit vie- len Widerständen verbundener Pro- zeß. Während in einigen Ländern zum Beispiel die Durchimpfrate mit Hilfe von Basisgesundheitsdiensten von fünf Prozent auf über 50 Prozent anstieg, die Kindersterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren von an- fänglich 178 pro 1000 Lebendgebur- ten auf die Hälfte und mehr redu- ziert werden konnte, wurden in an- deren Zonen eher Rückschritte ver- zeichnet. In Indien und Pakistan sterben derzeit mehr Kinder unter fünf Jahren als in allen afrikanischen Ländern zusammen.

Weiterhin entmutigend ist die deutliche Zunahme von Armut bei den Entwicklungsländern insgesamt;

heute leben bereits 1000 Millionen Menschen in absoluter Armut. Vor allem die Gesundheitsprobleme in den rasant anwachsenden Randzo- nen der Großstädte in der Dritten Welt sind ein erschreckendes und derzeit fast unlösbares Problem.

Die Realität der Basisgesund- heitsdienste ist heute vielerorts we- nig rosig. Man muß sich davor hüten, der präventiven Medizin in Entwick- lungsländern derzeit eine allzugroße Bedeutung beizumessen. Die Bevöl- kerung mißt — ähnlich den Industrie-

völkern — die medizinische Versor- gungsqualität vorwiegend am kurati- ven Erfolg, und sie bevorzugt, wo im- mer möglich, die Angebote der west- lichen Schulmedizin. Anfangs ist die Begeisterung für die Idee der Primä- ren Gesundheitsfürsorge oft groß, später klingt das Interesse wieder ab, vor allem dann, wenn neben der prä- ventiven Komponente keine oder nur unbefriedigende Kuration er- möglicht wird. Der Basisgesund- heitsarbeiter sitzt oft zwischen Kon- kurrenz und Koexistenz mit traditio- nellen Heilern. Dazu kommt man- gelnde Unterstützung durch die kon- ventionellen Gesundheitssysteme vor Ort.

Immer noch zeigt die Verteilung von Gesundheitspersonal ein mar- kantes Stadt-Landgefälle; immer noch wird zu zentral geplant, und die lokalen Besonderheiten kommen zu kurz; immer noch geben viele Län- dern viel zu viel für die akademische Ausbildung von Gesundheitsperso- nal aus. Immer noch werden wichtige personelle und finanzielle Ressour- cen für eine aufwendige Gesund- heitstechnologie verschwendet, wel- che die Länder in der Vergangenheit fast kopflos von den Industrielän- dern übernahmen beziehungsweise nicht uneigennützig von uns aufge- schwatzt bekamen und deren Unter- halt ein hochspezialisiertes, kostspie- liges Personal erfordert. Immer noch wird ein beachtlicher Teil des verfüg- baren Gesundheitsbudgets — nicht zuletzt durch die Werbekampagnen unserer Pharmaindustrie — in teure

„Primäre Gesund- heitsfürsorge", wie sie seit der Konfe- renz von Alma-Ata propagiert wird, soll keine Primitivversor- gung sein, sondern eine umfassende Strategie, die auch Selbsthilfe und Ei- genverantwortung fördert. Viele Ent- wicklungsländer müssen sich man- gels Ärzten noch auf schnell ausgebildete

„Health Workers"

stützen

WHO-Foto D. Deryaz

Arzneimittel aus Industrieländern investiert, statt es für gesundes Trinkwasser und verbesserte sanitä- re Verhältnisse, Ernährung und Bil- dung auszugeben.

Hoffnung

Andererseits darf die Entwick- lung der Basisgesundheitsdienste keinesfalls vom Fortschreiten unse- rer technologisch orientierten Medi- zin abgekoppelt sein. Erforderlich ist vielmehr ein lebendiger medizini- scher Nord-Süd-Dialog, in dem alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, unser Wissen in angepaßter Form möglichst vielen Menschen auf der Welt zugute kommen zu lassen. Dar- in liegen die großen gemeinsamen Aufgaben der Industrie- und Ent- wicklungsländer in Praxis, Lehre, Forschung und Planung. Da Armut und armutsbedingte Krankheit nicht etwa durch Schicksal, sondern durch ungerechte weltpolitisch-wirtschaft- liche Verhältnisse entsteht — wobei dem Anspruchsdenken der Indu- strievölker eine belastende Rolle zu- kommt — kann das Konzept der Pri- mären Gesundheitsfürsorge nur un- ter Berücksichtigung auch dieser Aspekte langfristig erfolgreich sein.

Eines ist 10 Jahre nach Alma- Ata aber unwiderruflich klar: das in Alma-Ata propagierte Konzept setz- te ethische, politische und techni- sche Maßstäbe in die Welt, welche in nahezu allen Entwicklungsländern zu beinahe unverrückbaren Richtli- nien für die Planung und Umsetzung von Gesundheitsdiensten wurden.

Die Primäre Gesundheitsfürsorge- Strategie wird sich langfristig welt- weit durchsetzen müssen, weil sie die einzige Alternative ist, der Hoff- nungslosigkeit der Mehrheit der Menschen heute realistisch entge- genzutreten.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Privatdozent Dr. med. habil.

Peter Stingl Tropenmedizin — D. T. M. H. (Engl.) Lechbrucker Straße 10 8924 Steingaden

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