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Archiv "Probleme des menschlichen Antriebs: Stand der heutigen Forschung" (01.04.1976)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

ÜBERSICHTSAUFSÄTZE:

Probleme des

menschlichen Antriebs Allgemeine Immunologie Inkubationsimpfung Methaqualon-Mißbrauch ein ernstes Problem

PROGRAMMIERTE FORTBILDUNG:

Colitis ulcerosa und Morbus Crohn

DIAGNOSTIK IN KÜRZE:

Qualitativ diagnostizierte Proteinurie Neurogene

Stimmbandlähmungen

Die geschichtliche Entwicklung der Definition des Begriffs Antrieb kann man unter geisteswissen- schaftlichem und unter naturwis- senschaftlichem Aspekt sehr präzi- se verfolgen. Im Laufe der Jahr- zehnte mußte dieser Begriff von vielen unklaren Auslegungen gerei- nigt werden, und man definiert den menschlichen Antrieb heute als das dynamische Moment, das in alle motorischen, sensorischen und assoziativen Leistungen einfließt, diese erst ermöglicht und in seiner qualitativen und quantitativen Ver- schiedenheit zur individuellen Per- sönlichkeitsstruktur eines jeden Menschen Entscheidendes bei- trägt.

Spielregeln des Antriebs

Die erste Regel ist, der menschli- che Antrieb stellt eine festgelegte

Größe dar, ein festes Antriebspo- tential, das mit auf die Welt ge- bracht ist und im Laufe des Lebens gestaffelt den einzelnen Lebensab- schnitten zugeteilt wird. Wir wis- sen, daß es im Lauf des menschli- chen Lebens antriebssparende und antriebsgesteigerte Phasen gibt.

Die zweite Regel sagt, dieser pri- mär gegebene potentielle Antrieb, der eine Konstante darstellt, wird nach einem ganz bestimmten indi- viduellen Modus in kinetischen An- trieb umgeschaltet.

Probleme

des menschlichen Antriebs

Stand der heutigen Forschung

Wolfgang Klages

Aus der Abteilung Psychiatrie der Medizinischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (Vorstand: Professor Dr. med. Wolfgang Klages)

Der menschliche Antrieb ist eine bestimmte Quote der Gesamtef- fektivität, die in alle motorischen, sensorischen, assoziativen Lei- stungen einfließt und nach bestimmten Spielregeln arbeitet. Der Gesamtantrieb wird im Laufe der verschiedenen Lebensalter gestaf- felt den Lebensphasen zugeteilt. Die Antriebsgröße ist als An- triebspotential für den einzelnen Menschen individuell festgelegt und wird in einem bestimmten Übersetzungsverhältnis in ..bewegli- chen" Antrieb umgeschaltet. Entscheidend zur Erhaltung des spon- tanen Antriebs ist eine genügend stimulationsreiche Umwelt, also eine ständige Fremdanregung.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 1. April 1976 937

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Antriebsforschung

Man weiß, daß es Menschen gibt, die primär wohl über viel Antrieb verfügen, aber in ihren Äußerungen gebremst werden und offensicht- lich einen ganz bestimmten, etwas phlegmatischen Rhythmus besit- zen. Wir kennen ferner Menschen, die vielleicht primär kein großes Antriebsvermögen haben, aber durch eine hastige Motorik durch ein Verhalten wie im Zeitraffer auf- fallen und scheinbar über einen ganz anderen persönlichen Rhyth- mus, ein anderes persönliches Ei- gentempo verfügen.

Dieser Umschaltmodus ist eine weitere persönlich gegebene indi- viduelle Größe, und sie führt dazu, daß man die Menschen fast nach Antriebstypen unterscheiden könn- te, wenn man wollte; so kann man von Antriebsflinken, von Antriebs- müden, Antriebslahmen, Antriebs- starken usw. sprechen, ja, es gibt

— genau wie Kretschmer es für die Konstitutionsbiologie getan hat — eine Richtung, die die Menschen, wie sie uns erscheinen, nach den Antriebstypen zu unterteilen ge- neigt ist.

Als dritte Regel gibt es die auch wissenschaftlich besonders inter- essante Tatsache, daß der menschliche Eigenantrieb allein nicht ausreicht, um den Menschen immer in Tätigkeit, in Aktion, in ei- ner gewissen Dynamik, in einer produktiv-schöpferischen Span- nung zu halten.

Eigenantrieb und Fremdantrieb Man hat früher immer angenom- men, der eigene Antrieb, der spon- tane Antrieb des Menschen würde ausreichen, um den Menschen in der Welt bestehen zu lassen. Inzwi- schen wissen wir, der Eigenantrieb ist gar nicht das allein Entschei- dende, er ist vielmehr an ständigen Fremdantrieb von außen eng ge- bunden. Das heißt, auf den Men- schen müssen immer Außenreize in Form von optischen, akustischen und taktilen Eindrücken von ethi- schen und ästhetischen Wertset- zungen oder von inneren und äu- ßeren Erlebnissen einwirken. Der

Mensch wäre — wie viele Untersu- chungen gezeigt haben — allein mit seiner Eigenaktivität, ohne die geringste positive oder negative Fremdanregung von außen, nicht denkbar. In diesem Sinn sei betont, daß die sogenannte Fremdanreg- barkeit nicht nur aus positiven Rei- zen besteht, sondern es gehören zum menschlichen Leben und zur Steuerung des Antriebes unlustbe- tonte und lustbetonte Reize in glei- cher Weise. Es kommt auf das ent- scheidende — nicht in unserer

Hand liegende — Mischungsver- hältnis an. Zum Beweis der These, daß Eigenantrieb und Fremdantrieb so eng miteinander verkoppelt und verzahnt sind, daß eine Form ohne die andere nicht denkbar ist, ließe sich eine Reihe von wesentlichen und wichtigen wissenschaftlichen Beispielen anführen.

Deprivationserscheinungen bei Tier und Mensch

Nur einige seien angedeutet. Von verhaltensbiologischer Seite läßt sich nachweisen, daß ein Tier in ei- ner valenzarmen Umwelt ohne jeg- lichen Stimulationsdruck in seinem spontanen Antrieb mit allen Er- scheinungen einer Domestikation erlahmt. Wie die Kinder- und Ju- gendpsychiatrie zeigt, setzt unter den Einwirkungen eines völlig mo- notonen Tagesablaufes bei Kindern der Hospitalismus mit einem Ver- welken des Antriebs ein. Weiter wissen wir aus experimental-psy- chologischen Untersuchungen, daß Versuche absoluter Isolierung des Menschen (Ausschalten der opti- schen, akustischen, taktilen Außen- reize usw.) zu einer stumpfen, gleichmütigen, völlig interesselo- sen apathischen Haltung mit einem extremen Antriebsmangel führen.

Schließlich sei noch auf die groß- angelegten amerikanischen Unter- suchungen zur Sozialhygiene des Alterns hingewiesen, aus denen hervorgeht, daß gesellschaftliche Isolierung und Vereinsamung die Antriebskräfte brachlegen und nicht unwesentlich am Entstehen vorzeitiger Senilität beteiligt sein

können.

Lebensphase und Antriebsstruktur, Antriebsentwicklung — Ausdiffe- renzierung und Nachlassen des Antriebs

Der neugeborene Säugling zeigt nur 14 Minuten seines Tages spon- tane, nicht reaktive Lebensäuße- rungen. Der Antriebsüberschuß, der über die Befriedigung existen- tieller Minimumbedürfnisse hinaus- geht, erwacht erst später und wird dann zum Träger einer immer wie- der nach Handlungen drängenden

produktiven Lebensenergie.

Mit Ende des zweiten Lebensmo- nates beginnen die spontanen An- triebsäußerungen die reaktiven zu überwinden. Ein Halbjahreskind füllt bereits fünf Stunden mit Spon- tanaktivität aus; das ein Jahr alte Kind ist für die Dauer von sieben Stunden von spontanem Unterneh- mungsgeist erfüllt. Der erste Aktivi- tätseinschuß setzt dann um den dritten Geburtstag herum ein und tritt nach außen hin als erste Trotz- phase in Erscheinung. Danach kommt eine relativ konfliktarme Zeitspanne bis zum ersten soge- nannten Gestaltwandel, der zwi- schen dem fünften und siebten Lebensjahr liegt. Auf diese Phase folgt wieder eine, entwicklungsbio- logisch gesehen, relativ krisen- freie, ruhige Zeit vom siebten bis zwölften Lebensjahr. An sie schlie- ßen sich die ersten Vorboten der

Pubertät in Form eines Aktivitäts- schubes. Die Jugendlichen haben einen höheren Wirtschaftsetat energetischer und emotionaler Art.

Zu Beginn des mittleren Lebensal- ters findet sich dann aus physiolo- gischen Gründen noch einmal eine Antriebssteigerung. In diesem Zeit- abschnitt kristallisiert sich auch besonders deutlich das jeweilige individuelle Antriebspotential her- aus.

Das kontinuierliche Nachlassen des Antriebsniveaus nach dem mittleren Lebensalter ist ein be- ständiges und überindividuelles Zeichen des weiteren Alterungs- vorganges, wenngleich auch die Antriebsminderung häufig durch eine in vielen Bezügen ökono- 938 Heft 14 vom 1. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

mischere Lebenshaltung kompen- siert wird und nach außen nicht so schnell in Erscheinung tritt.

Pathologie des Antriebs:

Frontale, dienzephale und schizophrene Antriebsstörungen Die eindrucksvollsten Antriebsstö- rungen finden wir bei ganz be- stimmten hirnorganisch scharf lo- kalisierten Schädigungen zum Bei- spiel nach Hirntraumen, nach gut abgrenzbaren Hirntumoren und nach zirkumskripten Entzündungs- vorgängen im Hirn.

An erster Stelle sind hier die Stirn- hirnkranken zu erwähnen. Vor al- lem, wenn die Stirnhirnkonvexität betroffen ist, zeigen sich ausge- prägte und klassische psychopa- thologische Bilder einer sogenann- ten „frontalen Antriebsschwäche".

Sie ist in erster Linie dadurch ge- kennzeichnet, daß der Eigenantrieb bei Erhaltung der Fremdanregbar- keit völlig erlahmt ist. Im Gegen- satz dazu kommt es bei Schädi- gungen des Stirnhirns im orbitalen Bereich (in den der Orbita auflie- genden basalen Abschnitten des Stirnhirns) zu Enthemmungen des Antriebs mit teilweise völlig unöko- nomischen funktionellen Abläufen.

Bei Schädigungen im Bereich des Zwischenhirns tritt „dienzephale Antriebsschwäche" auf; sie ist durch ein gleichmäßiges Nachlas- sen der gesamten organismischen Aktivität gekennzeichnet. Das Nachlassen des Antriebs läßt sich hier etwa mit der Physiologie der Ermüdung vergleichen, und im Ge- gensatz zu den Stirnhirnkranken ist hier der Eigenantrieb auch durch vermehrte Fremdanregung nicht weiter mobilisierbar.

Weitere Differenzierung von Antriebsstörungen

Im Laufe der letzten Jahre hat man durch präzise experimentalpsy- chologische Untersuchungen bei verschiedenen psychopathologi- schen Krankheitsbildern in ihrem

Aufbau zum Teil sehr spezifisch strukturierte Antriebsstörungen feststellen können. Es zeigte sich dabei, daß manche Antriebsstörun- ren sich auf der Mitte zwischen

„frontaler" und „dienzephaler" An- triebsschwäche bewegen, ohne daß damit nur eine hirnlokalisatorische

„Verpflichtung" erwächst. Aber es sei in diesem Zusammenhang er- wähnt, daß viele Züge des schizo- phrenen Antriebsdefektes Kriterien sowohl der frontalen wie auch der dienzephalen Antriebsschwäche in sich tragen. Auch die besondere Struktur des Antriebsverhaltens bei Neurosen, Psychopathien und en- dokrinen Störungen wurde in der letzten Zeit erforscht. Die Ergeb- nisse dieser Untersuchungen sind durchaus nicht nur rein diagno- stisch und wissenschaftlich von In- teresse, sondern haben auch sehr realitäts- und damit therapiebezo- gene Aspekte.

Prospektive Tendenzen

Anhand zahlloser Beobachtungen und Untersuchungen an Gesunden und Kranken ist in den letzten Jahrzehnten ein Bild entstanden, das den Antrieb als elementare psychische Grundfunktion erken- nen läßt, die bis in die feinsten Ver- zweigungen des Geistig-Seelischen und Körperlichen hineinreicht. Ge- rade bei Studien über das normale Antriebsverhalten wurde sichtbar, in welchem Maße der Antrieb auch an Funktionen, ja an Eigenschaften der Menschen beteiligt ist, bei de- nen man nicht ohne weiteres an seine „Mitverantwortung" glaubt.

Hier ist besonders an die Vorstel- lungsfähigkeit, die Denkabläufe, die Phantasie, die Entschlußfähig- keit, die Besinnung und die freie Entscheidung, ja schließlich an die eigentliche menschliche Freiheit zu denken. Auch Spiel, Begeisterung und Übermut wurden in ihren en- gen psychologischen Beziehungen zum Antrieb evident.

Ziel der Antriebsforschung ist es, Antriebsmuster von Menschen ob- jektivieren zu können, ähnlich etwa, wie man Elektrokardiogram-

me abnimmt. Aus diesen Mustern würden sich viele ärztliche und so- zialhygienische Ansätze zur Steue- rung von Störungen der Antriebs- dynamik oder von unökonomischen Verhaltensweisen der Antriebsre- gulation abgeben. Das gilt für den Gesunden, der zum Beispiel in ei- ner Streßsituation sehr unökono- misch mit seinem Antrieb haushält;

das gilt verständlicherweise in er- ster Linie aber für den Kranken.

So haben bereits die Untersuchun- gen an einer bestimmten Gruppe von Schizophrenen (Hebephrenen) ergeben, daß man bei sorgsamer Untersuchung ihres Antriebsreliefs zu Antriebstypen kommt, die hin- sichtlich ihrer zukünftigen Therapie eine ganz andere Einschätzung verlangen, als es bisher der Fall war (Hartwich). Hier sehen wir wei- tere entwicklungsfähige Ansätze, um auch zu einer sehr gezielten Psychopharmakologie zu kommen.

Die Untersuchung des Antriebsab- baus im höheren Lebensalter hat neben interessanten Einzelfakten vor allen Dingen gezeigt, daß bei Alterskranken ein überraschend hoher Grad von Fremdanregbarkeit besteht, der stärker ausgeprägt ist als bei vielen antriebsgestörten Pa- tienten anderer Provenienz. Da- nach würden sich hier belebende therapeutische und nicht nur pes-

simistisch getönte Ansätze zur Ak- tivierung Alterskranker ergeben.

Literatur

Klages, W.: Der menschliche Antrieb — Psychologie und Psychopathologie — Ge- org Thieme Verlag Stuttgart 1967 (dort wei- tere Literatur) — Klages, W.: Antrieb, Stim- mung, Leistung, Dtsch. Med. Wschr. 97 (1972) 1187 — Hartwich, P., und Steinmeyer, E.: Analyse der Antriebstypen bei Hebe- phrenen, Arch. Psych. 217 (1973) 97 — Hartwich, P., und Steinmeyer, E.: Das An- triebsrelief bei Hebephrenen, Arch. Psych.

217 (1973) 285 — Hartwich, P.: Über den Antrieb im motorischen Bereich, Arch.

Psych. und Nervenkr. 213 (1970) 166.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Wolfgang Klages Abteilung Psychiatrie

der Medizinischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Goethestraße 27-29 5100 Aachen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 1. April 1976 939

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