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Archiv "Medizinbetrieb: Ärzte im Konflikt zwischen Ethik und Ökonomie" (21.09.2001)

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thische Verpflichtung des Arztes ist es, Leben zu erhalten, Krankheit zu heilen, Leiden zu lindern. Der Arzt ist unabhängig von ökonomischen Rah- menbedingungen nur seinem Patienten gegenüber verantwortlich. Medizini- sche Orientierung des Arztes sind Empfehlungen der wissenschaftlichen Gesellschaften (Chirurgie, Innere Me- dizin, Urologie und andere), Leitlinien, Richtlinien.

Nach § 1 der ärztlichen Berufsord- nung dient der Arzt der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes – und er erfüllt diese Aufgabe

„nach seinem Gewissen“. Er ist „zur Fortbildung verpflichtet“, und sein Han- deln wird an dem aktuellen Wissens- stand gemessen, auch im Haftungsrecht.

Der rasante medizinische Fortschritt und die demographische Entwicklung haben zwangsläufig einen Leistungsbe- darf zur Folge. Der Medizinsektor ist ein Wachstumsmarkt, auch ein wichti- ger Arbeitsmarkt. Der Staat hat durch eine Folge von Kostendämpfungsgeset- zen seit 20 Jahren ökonomische Prio- ritäten gesetzt und dabei medizinische Orientierungsdaten unzureichend be- rücksichtigt.

Wir sitzen in der

„Fortschrittsfalle“

Wir sitzen in der „Fortschrittsfalle“

(Walter Krämer), das heißt, medizini- scher Fortschritt bedeutet bessere Lei- stungen und zugleich statistisch eine Verschlechterung des Gesundheitszu- standes der Bevölkerung.

Beispiel:Ohne Insulin würden Dia- betiker vorzeitig sterben. Mit Insulin sind sie ein Leben lang behandlungsbe- dürftig, heute mit teuren Insulinpum- pen (6 000 DM). Folgeerkrankungen

treten auf: Nephropathie, diabetischer Fuß. Eine Zunahme von Diabetikern ist prognostiziert, also ist ein erhöhter Finanzbedarf allein für diesen Sektor zu fordern.

Beispiel Kardiologie:teure Medika- mente, Herzkatheter, Dilatation, Stent, Bypass, Klappenprothesen, Herztrans- plantationen. Ein Patient mit koronarer Herzkrankheit kostet die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) rund 70 000 DM.

Alle diese Leistungen müssen flächen- deckend, bei korrekter Indikation, für al-

le Bürger verfügbar sein. Geschenkte Jahre führen dazu, dass Menschen an weiteren Krankheiten behandelt werden müssen, zum Beispiel Prostata-Karzi- nom, Kolon-Karzinom, Blutungen im Magen-Darm-Trakt wegen ASS oder Marcumar. Eine Kostenlawine giganti- schen Ausmaßes kommt ins Rollen.

Beispiel Endoprothetik:Früher war ein Schenkelhalsbruch ein Todesurteil, heute wird auch dem 90-Jährigen eine Hüftprothese implantiert, der Patient kann am vierten Tag aufstehen, geht von der Rehabilitation nach Hause. Die moderne Anästhesie ermöglicht es, mit teuren Apparaten und Medikamenten auch sehr alte und multimorbide Pati- enten risikoarm zu operieren. Endo- prothesen in der Gefäßchirurgie sind le- bensrettend, zum Beispiel Aortenpro- these, Bypass, Prothesenkosten von 1 000 DM fallen neben den kostenin-

tensiven Operations-Leistungen an.

Beispiel Herzschrittmacher:Die Ko- sten für ein Implantat belaufen sich auf 5 000 bis 10 000 DM. Früher starben die Patienten, heute sind sie rehabilitiert, aber Folgekosten fallen an, Aggregat- ermüdung, Aggregaterneuerung, regel- mäßige Pacemaker-Kontrollen.

Beispiel Fortschritte in der Chirurgie:

Minimalinvasive OP-Technik, ho- her technischer Aufwand, Mate- rialkosten je Operation von bis zu 1 000 DM, hohe Investitionsko- sten circa 250 000 DM für Vi- deotechnik. Mikrochirurgische Operationen mit OP-Mikrosko- pen, computerassistierte Neuro- navigation in der Neurochirurgie mit intraoperativer Magnetreso- nanztomographie und dreidimen- sionaler Bildtechnik führen zu einer geringeren Traumatisierung und damit vermindertem Risiko für den Patien- ten. Bisher ist diese Technik aber noch nicht überall eingeführt. Die Transplan- tationsmedizin (Nieren, Herz, Leber) hat ihre ethischen Konflikte sowohl in den Kapazitäten der Transplantations- abteilungen als auch vor allem in dem Mangel an verfügbaren Organen.

Diese Beispiele sind nur ein Aus- schnitt aus dem Leistungsspektrum in T H E M E N D E R Z E I T

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Medizinbetrieb

Ärzte im Konflikt zwischen Ethik und Ökonomie

Kein unauflösliches Spannungsfeld Ingrid Hasselblatt-Diedrich

Auf welcher Stufe der Reform stehen wir eigentlich?

Illustration: Ralf Brunner

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Deutschland, aber stellvertretend für den rasanten medizinischen Fort- schritt. Die Entwicklung zu einer High- Tech-Medizin wird ebenso Realität wie steigende Investitions- und Folgeko- sten. Das ist die Medizin der Zukunft.

Ärzte sind von dieser Entwicklung fas- ziniert, sie entwickeln sich zu immer höher qualifizierten Medizintechni- kern. Dies darf die individuelle Betreu- ung und Zuwendung für den einzelnen Patienten nicht ausschließen. Der Arzt muss sich immer dafür einsetzen, dass er moderne Methoden im Einzelfall auch verfügbar hat.

Im stationären Bereich bestehen Investitionsstaus in Milliarden-DM- Höhe. Dies verhindert eine zeitnahe Umsetzung des medizinischen Fort- schritts. Das erste Computer-Tomogra- phie-Gerät im Raum Frankfurt stand nicht in der Uniklinik, sondern in einer Praxis. Laufende Kosten fallen unter das Krankenhausbudget. Hier herrscht das Postulat der Kostenminimierung, Sparzwang vonseiten der Verwaltung, Budgetierung. Budgetminderungen wa- ren in den letzten Jahren angesagt. Pro- spektive Budgets, das heißt Bestim- mung der Leistungsmenge ein Jahr vor der Realisierung, bedeuten im ungün- stigen Fall Budgetabzug.

Wie kann ein Chefarzt wissen, ob er im Jahr 2002 rund 200 oder 250 Gallen operieren wird? Hat er 200 für das pro- spektive Budget angesagt, werden 50 Gallenoperationen nur zur Hälfte ver- gütet, trotz hundert Prozent Leistung.

Leistung wird hier bestraft, die Plan- wirtschaft lässt grüßen.

Folgen zu enger Budgets

Der Cost-Controller tritt auf den Plan und teilt mit: Das Budget ist erfüllt. De- fizite müssen vermieden werden. Chef- ärzte wurden auch persönlich in die Budgethaftung genommen. Hier ist der Arzt in einer unzumutbaren Position.

Er müsste Patienten abweisen, um fi- nanziellen Schaden von der Klinik ab- zuwenden. Bei planbaren Fällen, zum Beispiel Endoprothese bei Hüftarthro- se, heißt es „Warteliste“. Gesamtwirt- schaftlicher Unsinn, denn es bedeutet verlängertes Leiden, längere Arbeits- unfähigkeit. Die Alternative ist der

„Patiententourismus“ in eine andere Behandlungseinheit.

Auch bei vorhersehbar teuren Be- handlungskosten, zum Beispiel OP bei Blutgerinnungsstörungen oder anderen schweren Begleiterkrankungen, steht der Arzt vor der Frage der Verweisung an eine andere Klinik, um das Budget des eigenen Hauses zu entlasten. Hier werden auch Patientenrechte tangiert, denn der Patient hat auch im Klinikbe- reich eine freie Wahl des Arztes und der Einrichtung. Planwirtschaft, sektorale Budgets, prospektive Sollbudgets, Fall- pauschalen seit Jahren nicht angeho- ben, das ist die von der Politik vorgese- hene Realität.

Rationalisierungsreserven:

Nicht nachgewiesen

Beitragssatzstabilität, sinkende Lohn- quote und das Abzapfen der GKV zu- gunsten anderer Versicherungszweige („Verschiebebahnhof“) entzog der GKV seit 1995 rund fünfzig Milliarden DM.

Die Gesundheitsminister sprechen von Rationalisierungsreserven in Milli- ardenhöhe. Sie bleiben den Nachweis und die Quantifizierung schuldig. Ratio- nalisierungsreserven müssten dann im System transferiert werden an die Stel- len, wo Rationierung schon erfolgt, bei- spielsweise durch Zurückhaltung bei teuren bildgebenden Verfahren, Ver- zicht auf Innovationen bei Arzneien.

Insbesondere die sektorale Budgetie- rung unter Kontrolle der Krankenkas- sen verhindert sinnvolle Weiterentwick- lung der Strukturen. Die Ärzteschaft ist hier allein gelassen und in einem zuneh- menden ethischen Konflikt zwischen Pflicht und realen Möglichkeiten. Ge- sundheitspolitik ist das Stiefkind politi- scher Akteure, sie ist nur ökonomisch von Interesse, zum Beispiel in Bezug auf die Lohnnebenkosten. Das Argument, dass steigende Beitragssätze das Wirt- schaftswachstum gefährden, ist schnell vergessen, wenn es sich um andere, zum Teil viel höhere Belastungen handelt, wie die Benzinpreise. Kostendämp- fungsgesetze mit Beitragssatzstabilität und Budgetierung unter zunehmender Kontrolle und damit Machtzuwachs der Krankenkassen stehen im Widerspruch zur Leistungsentwicklung.

Das Schlagwort „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen (Heiner Geisler) führte zu völlig falschen Konsequen- zen. Das Wort war falsch. Es gab keine

„Explosion“, sondern einen Anstieg der Ausgaben der GKV, die sinuskur- venartig durch Gesetzesinterventionen kurzfristig gekappt wurden. Nicht die Kosten, sondern die Leistungsentwick- lung hat in die heutige Situation ge- führt. Die Antwort der Politik war floa- tender Punktwert der Vergütung, oft auf einem Niveau unter 50 Prozent und unter den Entstehungskosten. Ein Teil der Leistungen wurde in Fallpauscha- len oder Praxisbudgets versenkt und gar nicht mehr vergütet. Im Praxisbe- reich führte dies zu Personalabbau, ver- zögerten Investitionen, Existenzbedro- hung. Im Krankenhaus wurde flächen- deckend Personalabbau umgesetzt.

Dies führte zu rund 50 Millionen unbe- zahlten Überstunden jährlich. Das Ar- beitszeitgesetz wurde missachtet. Dies alles führt zu einer Ausbeutung der Mitarbeiter einer Klinik bei gleichzeiti- ger Qualitätsminderung der Patienten- versorgung.

Sektorale Budgetierung verhindert seit Jahren sinnvolle Weiterentwick- lung der Strukturen, insbesondere an der Schnittstelle ambulant/stationär.

Durch moderne Kooperationsformen, bei denen aber das Geld der Leistung folgen muss, könnten Rationalisie- rungsreserven erschlossen werden, zum Beispiel Doppeluntersuchungen und Doppelbehandlungen vermieden, effi- zientere Medizin durch verbesserte Ko- operation erzielt werden. Das Geld muss dahin verlagert werden, wo Lei- stungen kostengünstig und effektiv er- bracht werden können.

Weitere Rationalisierungsreserven sind durch Substitutionsmechanismen (zum Beispiel Sonographie, Endosko- pie statt Röntgen) anstelle von Additi- onsmechanismen zu mobilisieren. Die Ärzteschaft hat programmatische Vor- schläge erarbeitet. Zu verweisen ist in die- sem Zusammenhang auf die Grundsatz- papiere des Hartmannbundes und die Be- schlüsse der Hauptversammlungen, Sym- posien, Podiumsdiskussionen und andere Resolutionen der Ärzteschaft. Die Ärzte- schaft hat viele Vorleistungen erbracht, Qualitätssicherung, Leitlinien zur Dia- gnostik und Therapie, Fortbildung mit T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 38½½½½21. September 2001 AA2407

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Zertifizierung. Sie ist aber in ihren Bemühungen weitgehend isoliert, und die Entwicklung leidet unter der Zer- störung des Gleichgewichts zwischen Selbstverwaltung und Krankenkassen durch die zunehmende Machtfülle der Kassen. Die Inflation der Datenerfas- sung ICD-10-SGB-V, ICMP, OPS-301 (Prozedurenverschlüsselung) führt nur bedingt zu Transparenz, sicher aber zur Bürokratisierung des Gesundheitswe- sens. Diese Arbeit stiehlt dem Arzt Zeit für die Patienten. Ein Kranken- haus der Zukunft wird nicht mehr nach den Taten (Leistungen), sondern nach den Daten bewertet werden. Die ge- plante Einführung der DRGs ver- schärft die Situation.

Die Datenverarbeitung und -erfas- sung verschlingt Milliarden DM (Inve- stitionskosten und Datenverarbeitung).

Bei vorgegebener Beitragssatzstabilität wird dieses Geld der Krankenbehand- lung entzogen. In Kliniken wurde in Computer und Datenerfassung inve- stiert. Im Verwaltungsbereich wurden neue Stellen mit Controllern und Da- tenspezialisten besetzt. Manche Ärzte sehen ihre Zukunft nicht am OP-Tisch, sondern als Medizincontroller.

Planstellen werden abgebaut

Bei gedeckeltem Budget wurde dafür das Klinikpersonal massiv reduziert. Die Pflege ist davon ebenso betroffen wie die Ärzte. Assistenzarztstellen wurden in billige AiP-Stellen umgewandelt, ÄiP die unter Aufsicht arbeiten sollen, sind auf sich allein gestellt. Personalknapp- heit, Überstunden, Missachtung des Ar- beitszeitgesetzes von 1996, Hektik und ständige Überarbeitung – das bekom- men auch die Patienten zu spüren. Die Betreuung nähert sich gefährlichen Grenzen. Das betrifft besonders den personalintensiven Bereich, wie Intensiv- station, den Operationssektor.

Der Arzt ist relativ ausgeliefert und muss versuchen, im Einzelfall die Defi- zite auszugleichen. Der Arzt trägt aber bei Zwischenfällen immer persönlich, medizinisch und haftungsrechtlich die Verantwortung.

Wird ein intensivpflichtiger Patient mit dem Notarztwagen vorgefahren, trotz Sperrung der Intensiveinheit bei

der Leitstelle, hat der Arzt die Möglich- keit, den Patienten abzuweisen. Wenn der Zustand des Patienten dies verbie- tet, wird er einen anderen Patienten aus der Wache verlegen, obwohl dessen Zu- stand noch nicht stabil ist. Auf der Stati- on herrscht auch Pflegemangel. Kommt es zu einem Zwischenfall, ist der Arzt für die Umstände haftbar, die er eigent- lich nicht zu verantworten hat. Engpässe in der Neurochirurgie führen dazu, dass Patienten direkt nach der Operation in andere Kliniken mit Beatmungsplätzen verlegt werden – ein für alle unzumutba- rer Zustand mit erheblichen, ethischen Konflikten für alle Betroffenen.

Konflikt verschärft sich

Künftig ist eine Verschärfung des Kon- fliktes zwischen Ethik und Ökonomie erkennbar. Sinkende Lohnquote, redu- zierte Einnahmen der GKV stehen ei- ner wachsenden Zahl von Rentnern mit erhöhten Krankheitskosten gegenüber.

Dies erfordert exakte Analysen und ra- sches Handeln. Die Macht der Steue- rung darf den Krankenkassen nicht wei- ter übertragen werden. Sie sind Profit- unternehmen. Sie erheben auch zuneh- mend Anspruch auf Qualitätskontrolle, Patientenberatung und durchleuchten schon lange den gläsernen Patienten, aber auch den „gläsernen Arzt“. Die Datenflut führt zum Aufbau eines Kas- senstaates, eines allmächtigen Kontroll- apparates, der einen wachsenden Fi- nanzbedarf erfordert. Diese Gelder werden der Patientenversorgung entzo- gen. Diese Entwicklung muss gestoppt werden.

Der Wettbewerb der Krankenkassen ermöglicht per Gesetz, mit einzelnen Ärzten, Ärztenetzen und mit Kranken- häusern Versorgungsverträge abzu- schließen. Der Weg zur medizinischen Versorgung zu Dumpingpreisen scheint vorgezeichnet. In solchen Einkaufsmo- dellen ist ein gnadenloses Budgetdiktat zu erwarten. Negative Beispiele aus den USA mit HMOs sollten abschreckende Wirkung haben. Die Macht der Steue- rung ist den Krankenkassen von der Po- litik zugebilligt worden. Das Risiko des medizinischen Fortschritts, das Morbi- ditätsrisiko und das Risiko der Haftung, der persönlichen Verantwortung, bleibt

bei dem Arzt. Budgetüberschreitungen führen zum Erlösabzug bei den Klini- ken, zu Regressforderungen bei den Vertragsärzten. Diese Form der Bud- getsteuerung ist zutiefst unmoralisch.

Leistungserbringer werden in eine Si- tuation getrieben, in der sie sich nur schützen können, wenn sie medizini- sche Leistungen vorenthalten.

Hier müssen die Verantwortungs- ebenen aktiv werden:

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Makro-Ebene = Politik: zuständig für gesetzliche Rahmenbedingungen, Fi- nanzierungsmodus GKV, Anteil der Ge- samtausgaben am Bruttosozialprodukt.

Allokation von Versorgungsstufen.

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Meso-Ebene = Verwaltung: zu- ständig für Verhandlungsebene, Auftei- lung der Ressourcen auf Bereiche, ku- rative Medizin, Rehabilitation, Präven- tion und andere.

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Mikro-Ebene = Arzt und andere Leistungserbringer: zuständig für Auf- wendung für den konkreten Einzelpati- enten, Diagnostik und Therapieent- scheidungen.

Steuerungseffekte müssen von allen drei Ebenen ausgehen. Rationalisie- rung kann zu Steigerung der Effizienz führen. Rationierung, das heißt Vorent- halten begründeter medizinischer Maß- nahmen, muss verhindert werden.

Die Politik muss in die Zukunft den- ken, sie darf Fakten und Entwicklungen nicht leugnen. Ideologische Kurzzeitlö- sungen mit Blick auf die nächste Wahl sind fatal. Ein parteiübergreifender Konsens mit Zukunftsperspektiven ist gefragt. Die gemeinsame Selbstverwal- tung muss gestaltend mitwirken, und die Ärzteschaft ist bereit, Mitverant- wortung zu übernehmen. Die Gesell- schaft muss die Frage beantworten, was ihr „Gesundheit“ wert ist. Gesellschaft und Staat müssen die Form festlegen, wie Gesundheit finanziert werden kann, wie weit Eigenverantwortung rei- chen kann und was solidarisch finan- ziert werden muss.

Budgetierung der Kosten ohne Bud- getierung der Leistungen, das führt auf der Mikro-Ebene Arzt/Patient zu un- lösbaren und unwürdigen Konflikten.

Rationierende Rahmenbedingungen sind im Einzelfall inakzeptabel. In Be- zug auf die Kriterien der Ressourcen- zuteilung ist eine Definition ex ante angesagt, konkrete Allokationsent- T H E M E N D E R Z E I T

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scheidungen müssen nachvollziehbar sein. Die Ärzteschaft wird sich an die- sem Prozess beteiligen. Weiterent- wicklung von Leitlinien, Therapie- empfehlungen, die den Anforderun- gen der evidence based medicine ge- recht werden, Qualitätssicherung, das ist der richtige Weg.

Die vorhandenen und zu erwarten- den Ressourcen müssen effizient ein- gesetzt werden. Weitere Ressourcen müssen erschlossen werden, beispiels- weise durch Rückführung politischer Entscheidungen der Mitfinanzierung anderer Sparten durch die GKV (Bei- spiel Krankenkassenbeitrag der Ren- tenversicherung, Arbeitslosenversi- cherung, Sozialhilfeempfänger). Nach dem Konsens in der Rentenversiche- rung ist der Aufbau eines zweiten, pri- vatfinanzierten Versicherungssystems denkbar. Der Weg „Kostenerstattung mit Selbstbeteiligung“ sollte erprobt werden.

Die Definition des medizinisch Not- wendigen als Grundlage für einen ein- heitlichen, kassenübergreifenden Lei- stungskatalog ist erforderlich. Der Lei- stungskatalog der Kassen gehört auf den Prüfstand, versicherungsfremde Leistungen sind zu streichen. Die Kluft zwischen medizinisch Sinnvollem und infolge Ressourcenknappheit nicht zu finanzierenden Leistungen wird ohne grundsätzliche Reform größer. Die Po- litik muss handeln, hat sie doch durch eine Folge von Gesetzen wesentlich zu den Problemen beigetragen. Der Arzt in seiner Praxis, am Krankenbett, muss frei von unerträglichen Zwängen und mit Würde seinen ohnehin psychisch und physisch belastenden Beruf aus- üben können.

Der Konflikt zwischen ethischer Ver- antwortung und ökonomischen Rah- menbedingungen ist nicht ein unauflös- liches Spannungsfeld. Es bedarf nur ei- ner eingehenden Diagnostik, des Mutes der Beteiligten und des entschlossenen Willens aller, um die richtige Therapie einzuleiten.

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 38½½½½21. September 2001 AA2409

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 2406–2409 [Heft 38]

Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Ingrid Hasselblatt-Diedrich Thorwaldsenstraße 39

60596 Frankfurt/Main

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in häufiger medizinischer Eingriff mit etwa 140 000 Fällen pro Jahr in Deutschland ist die künstliche Ernährung mithilfe einer perkutanen endoskopisch kontrollierten Gastrosto- mie (PEG-Sonde). 70 Prozent der so Ernährten sind Heimbewohner. Von diesen leidet die Hälfte an einer psychi- schen Krankheit, meistens einer De- menz. Häufig wird gezögert, mit einer künstlichen Ernährung per Magenson-

de zu beginnen, wenn mit keiner Besse- rung des Zustands zu rechnen ist.

Um den Behandelnden eine Orien- tierungshilfe zur Anwendung der PEG- Sonde zu bieten, hat der „Arbeitskreis für medizinische Ethik“ der Evangeli- schen Kirche im Rheinland eine Stel- lungnahme erarbeitet. An der Erklä- rung mitgewirkt haben der Kirchenbe- auftragte für Fragen der Ethik in Biolo- gie und Medizin, Pfarrer Prof. Dr. theol.

Ulrich Eibach, der Präsident der Deut- schen Gesellschaft für Geronto- psychiatrie, Prof. Dr. med. Dr. Rolf Hirsch, sowie Dr. med. Helge Gülden- zoph und Prof. Dr. med. Klaus Zwirner.

Bei schwerstpflegebedürftigen Men- schen, zum Beispiel Patienten mit Hirn- ausfall infolge Unfall, Schlaganfall oder Demenz, kann eine langfristige künstli- che Ernährung erforderlich sein. Einem Verzicht darauf mit oder ohne Einwilli- gung des Patienten, wie von Kritikern gefordert, wollen die Autoren nicht be- fürworten. Sie weisen aber auf die Pro- blematik eines möglichen Konflikts zwischen Patientenwillen, dem ärztli- chen und pflegerischen Standes- ethos und Gewissensüberzeugun- gen der Therapeuten hin.

Das Leben umfasse mehr als nur die empirische Autonomie und die bewussten Interessen. Ar- tikel 2 des Grundgesetzes formu- liere das Recht auf Leben, nicht nur den Schutz autonomer Inter- essen. Kein Mensch dürfe ein Ur- teil über sein eigenes und erst recht nicht über das Leben ande- rer fällen. „Menschenunwürdiges Leben“ gebe es nicht, sehr wohl jedoch eine menschenunwürdige Behandlung. Verzicht auf künstli- che Ernährung dürfe nie mit einer Infragestellung der Menschen- würde und des Lebenswerts begründet werden.

In den Grundsätzen der Bundesärz- tekammer zur ärztlichen Sterbebeglei- tung (DÄ, Heft 39/1998) wird als ein Element der Basisbetreuung Sterben- der das Stillen von Hunger und Durst genannt. Schwerstkranke und Sterben- de empfinden und äußern diese Bedürf- nisse oft nicht mehr. Die Gruppe um Eibach fasst die Basisbetreuung weiter:

Die Nahrungszufuhr bedeute eine grundsätzliche pflegerische Maßnah- me, auch wenn sie den Einsatz einer PEG-Sonde voraussetze. Entscheidend sei, ob mit dem Vorenthalten von Nah-

Künstliche Ernährung

Sterben und Überleben mit der PEG-Sonde

Vor der Entscheidung für eine perkutane Gastrostomie kann für den Arzt eine ethische Orientierung notwendig sein.

Patienten im Wachkoma bedürfen einer PEG-Sonde.

Abb.: DÄ-Titelbild 11/1997

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